Das Blut aus den Wunden der aufgeschlagenen Knie lief warm an seinen Beinen hinunter, während der Junge die letzten Meter zu dem gerade eingefahrenen Zug hastete. Er blinzelte die hellen Punkte, die vor seinen Augen umherschwirrten energisch weg und kam wenig später mit rasselndem Atem vor seinem Ziel zum Stehen, das sich auf dem ersten Gleis befand. "Oldenburg" strahlte ihm in einem hellgelben Schriftzug entgegen, der Zug, in dem auch er noch sitzen würde, wenn der verrückte Typ mit den langen Haaren ihn nicht mit sich weggebeamt hätte. Die Türen der Bahn öffneten sich piepend und einige Passagiere traten langsam auf den Bahnsteig hinaus, nicht wissend, dass sie einem furchtbaren Schicksal gerade nur knapp entkommen waren. Lukas drängte sich durch die Menge hinein in den Zug, die empörten Gesichter und Rufe um ihn herum scherten ihn einen Dreck. Schließlich blieben ihm nur wenige Minuten, wenn die elektronische Zeitangabe an der Decke ihn nicht belog. Er bog nach links ab und joggte die wenigen Schritte zum vorderen Ende der Bahn.
Vor der Tür des Zugführers hielt er kurz inne und drückte dann entschlossen die Klinke nach unten. Erleichtert merkte er, dass nicht abgeschlossen war und stürmte in den kleinen Raum hinein. Vor ihm befand sich, auf einem schwarzen Stuhl sitzend, ein älterer Mann mit breitem Rücken und grau melierten Haaren. Sichtlich verärgert fuhr dieser herum. Die dichten Augenbrauen bildeten eine wütende Linie über den müden Augen, als der Zugführer den blonden Jungen hinter sich bemerkte und ihn abschätzig musterte.
Ein Halbstarker mit blutigen Kratzern, zerzausten Haaren und dreckigen Klamotten stand hinter ihm. Dass er die Dreistigkeit hatte, einfach das Führerhaus zu stürmen, machte ihn in den Augen des Älteren noch unsympathischer. Der Teenager schloss die Tür hinter sich und dem betagten Herrn platzte nun endgültig der Kragen.
"Du hast hier nichts verloren, raus mit dir!", blaffte er, war dann aber still. Denn im nächsten Moment hatte Lukas ihn mit Wucht von seinem Stuhl gestoßen. Ein überraschter Laut glitt über die Lippen des Mannes, bevor sein Kopf mit der Wand kollidierte und er bewusstlos zu Boden sank.
Verdammt! Das hatte Lukas nun wirklich nicht gewollt... Doch vielleicht war es für den Moment besser so. Sehr kooperativ hatte der Kerl sich eh nicht verhalten und die Zeit war knapp! Jetzt galt es zu handeln, für Schuldgefühle war vorerst kein Platz.
Er beugte sich zu dem Liegenden hinunter und richtete diesen mit zitternden Händen in eine sitzende Position auf. Zum Glück schien ihm nichts weiter zu fehlen. Nur eine ansehnliche Beule zierte das Haupt des bewusstlosen Mannes.
Lukas richtete sich wieder auf und sah sich in dem kleinen Raum um. Es wimmelte nur so von Schaltern und Hebeln, doch nach kurzer Zeit des Suchens war der Junge fündig geworden. Ein schneller Blick durch die staubige Frontscheibe bestätigte ihm, dass der entgegenkommende Zug noch nicht in Sicht war. Lukas holte tief Luft und wiederholte geistig, was er sich für seinen spontanen Plan grob an Worten zurecht gelegt hatte. Dann wandte er sich dem grauen Mikrophon zu, betätigte den kleinen Knopf an dessen Seite und legte mit einem möglichst enthusiastischen Tonfall los.
"Sehr geehrte Damen und Herren, der vor uns befindliche Streckenabschnitt ist wegen eines Unfalls gesperrt. Bitte nutzen Sie den Schienenersatzverkehr gleich am Ende der Bahnhofstraße. Im Namen der deutschen Bahn möchten wir uns für die entstandenen Unannehmlichkeiten entschuldigen und wünschen Ihnen eine gute Heimreise." Lukas ließ den Knopf wieder los und registrierte mit Zufriedenheit das kollektive Murren hinter der Tür. Er war ein klein wenig stolz auf sich und seine glaubhafte Inszenierung. Das tägliche Bahnfahren und die ständigen Pannen- und Verspätungsdurchsagen machten sich nun bezahlt.
Es war besser keine Panik zu verbreiten, so würden sich die Leute zügig auf den Weg zur Bushaltestelle machen und sich nicht gegenseitig zertrampeln. Prüfend nahm der Teenager wieder die Fahrbahn in Augenschein und erstarrte, als er von Weitem ein rotes Gefährt heran nahen sah. Es war soweit...
Lukas riss sich aus seiner Schockstarre und kniete sich vor den noch immer bewusstlosen Zugführer, welchen er unsanft an den Schultern rüttelnd wieder ins Hier und Jetzt zurückbeförderte. Stöhnend und orientierungslos sah der Mann sich um.
"Wer bist du? Und was ist passiert?", nuschelte er. "Scheiße..." Er hielt sich den Kopf und zuckte zusammen, als er mit seiner Hand über die mittlerweile himbeerrote Beule fuhr.
Der blonde Junge half ihm energisch auf die Beine und hielt den taumelnden Mann fest. Es war praktisch, dass der Kerl sich anscheinend nicht mehr an ihr erstes Zusammentreffen erinnern konnte.
"So ein Arsch hat sich von hinten an sie rangeschlichen und Ihnen eins mit ner Glasflasche übergebraten. Dann ist er abgehauen... ", log Lukas mit einem Anflug von schlechtem Gewissen.
"Verdammtes Schwein...", lallte der Zugführer sichtlich mitgenommen und ließ sich von dem Jungen zur Tür führen. Gehetzt blickte Lukas über seine Schulter, der entgegen kommende Zug hatte das Gleis gewechselt und raste nun direkt auf sie zu. Ein guter Kilometer lag noch zwischen ihnen und der Junge verschwendete nun keine Sekunde mehr. Er legte sich den wulstigen Arm des Mannes um die Schulter und verließ mit möglichst schnellen Schritten den Raum hinter ihnen.
Doch inmitten des ersten Abteils, das er betrat, bot sich ihm ein erschreckender Anblick, der ihn inne halten ließ.