Das Abteil sah fast genauso aus, wie vorher, als er den Zug betreten hatte. Kaum eine Person hatte seinen Rat befolgt und war nach draußen gegangen. Und die wenigen, die dort auf dem Bahnsteig standen, rührten sich nicht. Niemand bewegte sich, kein Laut war zu vernehmen. So regungslos wie Schaufensterpuppen standen oder saßen die Leute da und waren mitten in ihren Bewegungen erstarrt.
Lukas sah in die versteinerten Gesichter, aus seinem eigenen war alle Farbe gewichen und kalte Angst durchflutete ihn. Was war nur geschehen?! Seit seiner Durchsage war einige Zeit vergangen. Der Zug hätte leer sein müssen...
"Macht, dass ihr hier rauskommt!", schrie er gehetzt in die Menge hinein, doch niemand antwortete ihm. Gleichzeitig spürte der Junge, wie der Mann, den er noch immer mit einem Arm umschlungen hielt, langsam in die Knie ging. Das gesamte Gewicht des fülligen Körpers lastete mit einem Mal auf Lukas' Schultern und er sackte mit dem Zugführer zu Boden.
"Scheiße, was ist mit Ihnen?!", rief er und kämpfte sich mit zusammen gebissenen Zähnen wieder auf die Beine. Es blieb keine Zeit mehr, der entgegen kommende Zug würde jede Sekunde in sie hineinrauschen!
Er drehte den schlaffen Körper auf den Rücken und blickte in ein leeres Augenpaar. Verzweifelt schüttelte er den erstarrten Mann, doch der reagierte nicht und lag wie paralysiert auf dem Boden. Seine Pupillen hatten die wässrige Iris nahezu komplett verdrängt und stachen übergroß aus dem blassen Gesicht hervor, so wie bei dem Rest der Fahrgäste auch.
Lukas war zum Heulen zumute, er ließ den Mann los und kniete mutlos zwischen den versteinerten Körpern.
Er hatte versagt, alles, was er getan hatte, war umsonst gewesen... Wie war das möglich? Steckte der verrückte Kerl dahinter? Hatte er die ganzen Menschen gelähmt? Oder... war das etwa eine höhere Macht? Vielleicht hätte er einfach auf den langhaarigen Idioten hören sollen...
Das Schicksal zu ändern, was hatte er sich nur dabei gedacht? Die Worte des dunkelhaarigen Mannes kamen ihm plötzlich wieder in den Sinn.
"... Du kannst dann so ziemlich tun und lassen, was du willst. Es kann sich nur niemand mehr daran erinnern, dass du je existiert hast und jeder, dem du begegnest, wird dein Gesicht in ein paar Sekunden wieder vergessen haben..."
Nun fiel es Lukas wie Schuppen von den Augen. Es war kein Zufall gewesen, dass der Zugführer ihn vergessen hatte und genauso waren auch seine Worte vorhin einfach verraucht, so als hätten sie nie existiert. Er war so bescheuert...
Von draußen hörte Lukas das Rauschen des nahenden Regionalzugs. Wenn er den Worten des Anderen mehr Glauben geschenkt hätte, dann... Egal, jetzt war sowieso alles zu spät. Vielleicht, war es besser zu sterben, anstatt so weiterzuleben. Was hatte das Leben schon für einen Sinn, wenn sich kein einziger Mensch an einen erinnern konnte?
Er schloss die Augen. Sollte das Schicksal, doch bekommen, was es wollte, dachte er noch, bevor alles um ihn herum mit Ohren betäubendem Lärm zerbarst und auseinandergerissen wurde. Lukas wurde gegen die Wand geschleudert und spürte zwischen all den Splittern und Scherben, eine Hand, die sich in seine Schulter grub und mit sich riss, fort von dem Lärm, den Trümmern und leblosen Körpern. Er ließ sich davontreiben und wurde von einer plötzlichen Müdigkeit erfasst, die nach und nach seine Schmerzen betäubte. Vielleicht fühlte es sich so an zu sterben...
"Du Idiot!", hörte der Junge eine Stimme an seinem Ohr sagen. Sie kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er konnte sich gerade nicht erinnern woher. Er wollte fragen, wer da war, aber seine Lippen bewegten sich nicht. Etwas zog ihn weg von der Oberfläche und machte seinen Körper bleiern schwer. Es war kalt, aber tat nicht weh.
"Hey, bleib gefälligst wach!"
Da war wieder diese Stimme... Warum durfte er nicht endlich schlafen? Es war schwer dagegen anzukämpfen. Ein paar Minuten würden sicher nichts ausmachen... Sein Kopf wurde immer schwerer und wenig später sackte er schließlich weg.
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"Hast du mich nicht gehört? Komm schon!"
Er schüttelte den schlaksigen Körper des blonden Jungen, den er in seinen Armen hielt. Doch der reagierte nicht mehr. Auch seine Gedanken waren verstummt. Scheiße. Er war zu spät gekommen und konnte von Glück reden, dass der Kerl überhaupt noch lebte. Es blieb nicht viel Zeit, der Kleine hatte einiges abbekommen und würde verbluten, wenn er sich nicht beeilte. Noch konnte er keinen richtigen Blick auf die Wunden nehmen, aber das rechte Bein des bewusstlosen Jungen war schon vollkommen nass von dessen Blut. Und das machte ihm Sorgen. Überhaupt machte er sich Vorwürfe, er hätte nicht so grob zu ihm sein sollen und schon gar keine Informationen über Ort und Zeitpunkt des Unfalls preisgeben dürfen. Und dann hatte er ihn auch noch dazu angestiftet, Leben zu retten, die gar nicht gerettet werden konnten.
Kurz gesagt, er war ein richtiger Arsch gewesen. Doch diese Einsicht half weder ihm, noch dem Jungen gerade weiter. Unter ihm breitete sich schon ein helles Licht aus, bald waren sie da. Er würde ihn zu Karlos bringen, der Typ war zwar ein exzentrischer Volltrottel, aber er war gut in dem, was er tat.