Kapitel 6
Ahmed hatte seinen Aufprall nicht bewusst mitbekommen. Wohltuende Schwärze hatte ihn gnädigerweise umhüllt. Doch sein Bewusstsein kehrte nun langsam zurück und sein Körper wurde wieder mit Leben gefüllt. Eine schmerzvolle Erfahrung für Ahmed. Er schrie aus Leibeskräften auf vor Schmerz. Sein Bein war gebrochen und mindestens drei oder vier Rippen. Es war stockdunkel hier und Ahmed konnte die Hand vor Augen nicht sehen. Es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte.
Vorsichtig tastete er mit der Hand seine Umgebung ab. Der Boden war sandig und trocken - auf einer Seite. Auf der anderen Seite fühlte er sich feucht an. Ahmed nahm etwas von dem feuchten Sand mit der Hand auf, rieb ihn zwischen den Fingern und roch daran. Es war Blut! Sein eigenes Blut. Vorsichtig strich er mit der Hand über sein linkes Bein. Es war taub! Ahmed schrie entsetzt auf, als er den gebrochenen Knochen erfühlte, der durch seine Haut nach Aussen gedrungen war.
Er war verloren! Wie sollte er hier jemals wieder herauskommen? Bewegungsunfähig mit grossem Blutverlust lag er in völliger Dunkelheit ohne zu wissen, wo er sich befand und ohne Wasser und etwas Essbarem. Ahmeds Erinnerung vom Sturz kehrte zurück. Er war von oben herunter gefallen. Die Granitplatte war gebrochen und nach unten gekippt. Ahmed schaute nach oben weil er glaubte, dass doch etwas Tageslicht durch den entstandenen Bruch und die nach unten gekippte Platte hier einfallen müsste. Doch es war absolut nichts zu sehen. Dann fiel ihm plötzlich ein, dass er ein Feuerzeug in der Tasche hatte.
Mühsam und unter lautem Stöhnen hob er seinen Arm und versuchte in seine Hosentasche zu gelangen. Die Anspannung seiner Bauchmuskulatur bereitete ihm höllische Schmerzen, aber es gelang ihm schliesslich seine Hand in die Hosentasche zu führen. Ein Taschentuch. Ein Notizblock. Da! Da war es! Das Feuerzeug! Endlich. Mit zitternder Hand fasste Ahmed das Feuerzeug und holte es aus der Hosentasche heraus. Jetzt konnte er gleich wenigstens sehen, wo er sich befand. Er nahm das elektronische Feuerzeug in die rechte Hand und drückte auf den Knopf. Klick!.... Nichts! Nur ein kleiner Funke war zu sehen. Noch ein Versuch. Klick..... keine Flamme! Ob das Gas verbraucht war? Vorgestern ging es noch. Ahmed versuchte es erneut. Klick. Die Flamme loderte auf! Endlich, dachte Ahmed. Das flackernde Licht der kleinen Flamme liess zunächst nicht viel erkennen. Ahmed musste sich auch erst wieder an das Licht gewöhnen. Seine Augen waren etwas geblendet nach der langen Dunkelheit. Ahmed hob den Arm und hielt das Feuerzeug in die Höhe, um besser sehen zu können. Mit weit geöffneten Augen sah er nach oben. Ein markerschütternder Schrei entfuhr ihm, als er die schwarze Gestalt erkannte......
Die Männer auf dem Plateau hatten sich nach dem Unfall vorsichtig der Stelle genähert, an der die Platte gebrochen war. Sie versuchten zunächst durch Rufen und Leuchten mit ihren Taschenlampen zu ergründen, ob der abgestürzte Ägypter noch lebte. Es gab keine Reaktion - er hatte den Sturz bestimmt nicht überlebt. Yussuf hatte Anstalten gemacht, einen Krankenwagen und die Polizei rufen zu wollen. Doch das war genau das, was Solomon nicht wollte - Aufsehen. Er gab Yussuf deutlich zu verstehen, dass er auf keinen Fall irgendwelche zusätzlichen Leute hier haben wollte. Als Yussuf immer noch darauf bestand, Rettungskräfte und Polizei zu informieren, schaute Solomon nur kurz seinen Partner Buddy McIntosh an. Bud erklärte Yussuf, dass Mr. Solomon es überhaupt nicht mag, wenn ihm widersprochen wird und als er Yussuf deutlich machte, dass es hier gefährlich sei und leicht ein zweiter Mann durch die gefährliche Spalte abrutschen und zu Tode kommen könnte, lenkte Yussuf ein. Als McIntosh ihm dann noch wie rein "zufällig" einen Blick auf seine Waffe gewährte, war die Sache klar.
Yussuf kannte diese Sorte Männer. Sie gingen über Leichen, um ihre Ziele durchzusetzen und er wollte keine dieser Leichen sein - schliesslich hatte er Frau und Kinder zu versorgen. Er hatte sich schlau gemacht über diesen Solomon und seinen Kumpanen McIntosh. Sie kannten sich seit ihrer Studienzeit und sind seitdem eigentlich immer zusammen gewesen und haben gemeinsam gearbeitet. Nach ihrem Geologiestudium haben sie beide in der ganzen Welt nach Altertümern gegraben, haben alle möglichen Tauchfahrten unternommen und sind den abstrusesten Theorien nachgegangen.
Kurz bevor der Irakkrieg ausbrach, wurde McIntosh in einer zivilen Einrichtung beim amerikanischen Militär eingeschleust, deren Aufgabe es sein sollte, antike Schätze, wertvolle Kunstgegenstände und ähnliche Dinge vor den Kriegswirren zu retten, zu bergen und nach Amerika zu bringen. Er hatte sein Aufgabe hervorragend erfüllt, jedoch waren die meisten und die wirklich wertvollen Artefakte bei Solomon gelandet. Er hatte hunderte von Millionen Dollar damit verdient. Es gab genügend verrückte Sammler in der ganzen Welt, die scharf auf so etwas waren. Yussuf wusste das, er hatte selber schon einige kennengelernt.
Yussuf sah wie Solomon seinen Mitstreiter McIntosh auf die Seite zog und mit ihm sprach. Leider konnte er sie nicht verstehen. "Hör zu Bud", sprach Solomon eindringlich auf McIntosh ein, "wir haben nun nicht mehr viele Zeit". "Lass die Kamera da herunter und schaue nach, ob da unten etwas zu holen ist, das uns interessieren könnte". "Wenn ja, gehen wir schnellstens runter und holen uns, was wir wollen". "Wenn nichts da ist, machen wir uns hier ganz schnell vom Acker". "Und Bud - wenn Du da runter gehst, nimm' diesen Yussuf mit und sieh zu, dass Du ohne ihn wieder hoch kommst". "Er weiss zuviel und ich traue ihm nicht". Der wortkarge Bud nickte nur kurz. Er wusste, was Solomon von ihm erwartete.
Die ferngesteuerte Kamera war einsatzbereit und wurde nun durch den Bruch im Granit nach unten gelassen. Solomon und McIntosh verfolgten die Bilder auf einem Monitor im Zelt. Eine kleine Lampe über dem Kamerakopf beleuchtete die bizzare Szene. Gebannt sahen sie auf die ersten Bilder. Es war nicht der erhoffte Raum oder ein Gang, den sie sahen, sondern ein Schacht, welcher steil nach unter führte. Nach ein paar Metern wurde der Schacht schmaler. Die rechte Schachtwand kam in einer Schräge fast bis auf die andere Seite herüber und verjüngte so den Schacht. Dann folgte eine Art Podest und der Schacht verlief entgegengesetzt nach unten weiter. Bud deutete auf einen dunklen Fleck auf dem Podest. Al Solomon nickte nur. Hier war der andere Ägypter aufgeschlagen. Es war sein Blut! Langsam wurde die Kamera weiter herab gelassen.
Plötzlich ertönten Sirenen von Polizei- und Rettungsfahrzeugen. Solomon und McIntosh stürmten aus dem Zelt heraus. Wutentbrannt kam Solomon auf Yussuf zu. Mit großen, weit aufgerissenen Augen und erhobenen Händen sah er Solomon unschuldig an. "Ich war's nicht, Mr. Solomon, ganz bestimmt nicht, ich habe sie nicht alarmiert". "Ich habe Frau und Kinder, dass hätte ich nicht riskiert". Solomon glaubte ihm. Doch welche von diesen elenden Ratten hatte ihm hier in die Suppe gespuckt? Nun war es zu spät, die Polizei war hier.
Solomon hielt Ausschau nach dem Einsatzleiter der ganzen Aktion und hatte ihn schnell ausgemacht. Freundlich ging er auf ihn zu und sprach ihn an. "Gut dass Sie da sind und gleich einen Krankenwagen mitgebracht haben". Ich liebe Menschen, die mitdenken". "Auf meinen ägyptischen Mitarbeiter ist leider kein Verlass", dabei deutete er auf Yussuf, "sofort nach dem Unfall habe ich ihn angewiesen, Sie zu benachrichtigen." "Wann kam der Anruf bei Ihnen rein?" "Gerade eben", antwortete der Beamte. "Na warte", sagte Solomon mit Blick zu Yussuf, der überhaupt nicht mitbekam, was gerade hier gespielt wurde. "Bin heilfroh", sagte Solomon, "dass nun endlich Fachleute hier sind." "Wir haben schon eine Kamera für Sie umfunktioniert und herunter gelassen, damit Sie sehen können, was Sie erwartet". Solomon schilderte dem Beamten kurz aus seiner Sicht, was passiert war und bot ihm sofort alle erdenkliche Hilfe an, um den abgestürzten Mann vielleicht noch retten zu können.
Der leitende Beamte verschaffte sich kurz einen Überblick über die Lage und wollte zuerst nach dem abgestürtzen Ägypter suchen lassen. Der eingesackte LKW mit dem Bohrgerät wurde gesichert, damit kein weiterer Schaden entstehen konnte und dann wurde eine Möglichkeit besprochen, sicher den Schacht hinunter zu kommen. Solomon hatte Bud angewiesen, alle weiteren Kabel für die Kamera verschwinden zu lassen und bedauerte dem Beamten gegenüber, dass man leider nicht genug Kabel zum Verlängern hatte, um den Schacht noch tiefer auszuleuchten. Der Beamte entschied, zwei Männer an Seilen herunter zu lassen. Eine Trage wurde vorsorglich mit hinab gelassen, zusammen mit Taschenlampen und einem Erste-Hilfe Koffer. Mit einer zusätzlichen Stirnlampe ausgerüstet, liessen sich die Männer den Schacht hinab.
.......Ahmed zitterte vor Angst. Anubis, der hundsköpfige altägyptische Gott sah ihn strafend an. Er hatte es gewagt, diese heilige Stätte zu betreten und zu entweihen und nun würde ihm die gerechte Strafe zuteil werden. Ahmed versuchte zurück zu weichen, doch der Blick des Anubis und seine ungeheueren Schmerzen nagelten ihn förmlich am Boden fest. Er fühlte sich plötzlich empor gehoben und davon getragen. Er wurde auf einem Opfertisch festgebunden und in Kürze würde ihm einer von Anubis' Dienern den tödlichen Stoss mit dem Dolch versetzen. Ein starkes Licht auf der Stirn des Gottes schien sich in seinen Geist zu fressen und ihm das Lebenslicht auszusaugen. Ein stechender Schmerz in seinem Arm kündigte das Ende an. Ahmed ergab sich der wohltuenden Ohnmacht......
Nach dem zweiten Knick im Schacht waren die beiden Männer auf den am Boden liegenden Ahmed gestossen. Er wurde kurz untersucht und nach Rücksprache mit dem Arzt oben am Krankenwagen wurde eine Erstversorgung besprochen. Ahmed wurde völlig ruhig gestellt, ansonsten wäre er beim Transport nach oben vor Schmerzen wahnsinnig geworden. Etwa eine halbe Stunde später lag der schwer verletzte Ahmed im Krankenwagen und wurde in Richtung Krankenhaus gebracht. Inzwischen waren Leute von der ägyptischen Altertumsbehörde eingetroffen. Sie beschlossen die sofortige Stilllegung der Unternehmung und den Abbruch der Bohrungen. Solomon hatte mit seinen Leuten das Gelände unverzüglich zu räumen. Er hatte darauf hin gleich sein Handy gezückt und versuchte noch über diverse spezielle "Verbindungen" etwas zu retten, aber diesmal hatte er trotz guter Kontakte keine Chance mehr - die Sache war gelaufen.