Kapitel 11
Angie war fasziniert. Seit Stunden sass sie am Computer und saugte alles in sich auf, was sie über Ägypten finden konnte. Seit sie diese schwarze Statue in dem Museum berührt hatte, war es ihr so vor gekommen, als ob jemand einen Schalter bei ihr umgelegt hätte. Sie war regelrecht besessen davon, etwas heraus zu finden. Sie wusste nur noch nicht, was es war. Aber es hatte mit Ägypten zu tun - so viel war sicher. Es hatte mit dieser Statue zu tun. Und sie glaubte inzwischen, dass es auch etwas mit Nani zu tun hatte. Nani und dieser komische Typ aus dem Museum. Sie hatte das Gefühl, dass dieser Kerl einen Keil zwischen sie und ihre beste Freundin getrieben hatte. Sie mochte ihn nicht.
Etwas unwirsch scrollte sie bei dem Gedanken an ihn die Seite im Internet weiter runter und blieb plötzlich an einer Stelle hängen, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war ein Bericht über eine Bohrung am Gizeh-Plateau. Man vermutete einen Gang unter dem Plateau, welcher die Sphinx mit der grossen Pyramide verbinden sollte. Eine kleine Zeichnung, die einen Bezug zu der Vermutung herstellen sollte, faszinierte Angie. Es war ein Auge. Ein tiefschwarzes Auge. Dieses Auge schien eine magische Anziehungskraft zu besitzen. Sie musste einfach hinein blicken. Angie konnte ihren Blick nicht mehr abwenden. Sie war wie gefangen! Es gab kein Entkommen - das Auge hatte sie gepackt! Es hatte Macht über sie! Erschrocken krallte Angie sich an der Tischplatte fest. Sie musste sich befreien! Schwindel erfasste sie. Sie konnte ihren Blick nicht mehr willentlich von dem Auge abwenden. Der Boden schwankte unter ihr. Unaufhaltsam wurde sie in eine andere Welt gezogen. Das Auge zog ihr Bewusstsein ab. Weg aus ihrer Wohnung. Aus ihrer Welt. Sekundenschnell bewegte sie sich durch Raum und Zeit. Angie verlor langsam das Bewusstsein. Sie kippte vornüber auf ihr Laptop und hatte das Gefühl, in den Computer hinein gezogen zu werden. Dann Dunkelheit.
Angie konnte nichts sehen. Sie hörte auch nichts. Sie fühlte auch nichts. War sie etwa.... tot?
Da! Etwas regte sich in ihr. Sie schien irgendwo anzukommen. Ein schwacher Lichtschein. Entfernt. Ein Gang. Es waren Fackeln! Sie bewegte sich auf die flackernden Lichter zu. Vorsichtig ging Angie weiter. Sie erreichte das Ende des Ganges und stand vor einem Vorhang aus leichtem, tüllähnlichem Stoff. Der durchsichtige Stoff gab den Blick frei auf das Innere eines Tempels. Intuitiv wusste sie plötzlich, dass es sich hier um den Isis-Tempel handelte. Durch den Tüllvorhang erblickte sie eine Frau und einen Mann, die nah zusammen standen. Die Frau trug die Kleidung einer ägyptischen Priesterin. Der Mann sah wie ein Soldat aus und Angie bemerkte an seiner rechten Seite ein reich verziertes Kurzschwert, dass in seinem Koppel steckte. Der Mann drehte sich leicht zur Seite und Angie blickte nun direkt in die Augen der ägyptischen Frau.
Da geschah es!
In dem Augenblick des Blickkontaktes mit der Frau war Angie diese Frau! Zuerst erschrak sie und zuckte leicht zusammen. Der Soldat der sie am Arm hielt, bemerkte den Moment der Verunsicherung und sah sie erstaunt an. Als Angie ihn jedoch leicht mit ihrer Hand berührte, war er beruhigt. Sie wusste augenblicklich, dass sie die angehende neue Isis-Hohepriesterin war. Bald würde sie in ihr Amt eingeführt werden. Ein Hinderniss lag jedoch noch auf ihrem Weg und der Hauptmann der Leibwache des Pharao, der ihr treu ergeben war, würde dieses Hinderniss für sie aus dem Weg räumen. Es war die noch amtierende Hohepriesterin! Der nubische Hauptmann Am-shera hatte bereits einen Plan, mit dem er die jetzige Hohepriesterin ihres Amtes entheben würde. Niemand würde sie mehr finden....
Dann war der Weg frei für Anchor-ankh-sun, die jüngere Tochter des Pharao.
Der muskelbepackte und vor Kraft nur so strotzende Nubier nahm die Pharaonentochter zärtlich in seine Arme. "Wann ist es endlich so weit, Anchor-ankh-sun"? "Wann müssen wir uns und unsere Liebe nicht mehr verstecken"? "Geduld, mein Geliebter", hörte Angie die Worte von Anchor-ankh-sun-, Worte, die aus ihrem Munde kamen. Sie war einst die Tochter eines Pharaos und sie hatte grosse Pläne. Die grösste Macht sollte auf sie übergehen. Die Macht der Isis-Hohepriesterin und die Macht der zwei Ringe. Der grössten Hinterlassenschaft aus dem alten Atlantis.
Am-shera wusste um das Geheimnis des Versteckes eines der Ringe und während des dreitägigen rituellen Aufstieges zum Hohepriester aller Ägypter würde Ultied ihm den Ring anvertrauen. Der zweite Ring befand sich im Besitz ihres Vaters, des Pharaos. Am-shera als Hauptmann der Leibgarde und sie als seine Tochter hatte nahezu uneingeschränkten Zutritt zum Pharao. Es gab genügend Möglichkeiten, den zweiten Ring ebenfalls in ihren Besitz zu bringen. Zusammen mussten sie unglaublich mächtig sein. Nanchi-ankh-sun, ihre ältere Schwester hatte ihr davon berichtet, wie der Pharao mit Hilfe des Ringes tonnenschwere Steine zum Schweben gebracht hatte. Sie war damals dabei gewesen und hatte es ihrer jüngeren Schwester später einmal erzählt.
Sie würde bald mächtig sein. Ja, sehr mächtig sogar. Sie würde die mächtigste Frau der Welt sein! Sie, Anchor-ankh-sun.... Ein merkwürdiges Blitzen war in ihren Augen zu sehen und sie waren eine Spur dunkler geworden in den letzten Minuten.
Angie erfasste ein seltsames Gefühl. Sie wurde aus den Armen ihres Geliebten heraus genommen und auf die Reise geschickt. Auf die Reise zurück in ihre Wohnung. Sie kam an wie sie gegangen war. Ein Schwindelgefühl hatte sich ihrer bemächtigt. Sie hatte sich in die Tischplatte gekrallt und ihr Kopf lag auf dem Laptop. Dennoch war sie nun eine Andere. Sie war jetzt eine Wissende. Äusserlich war sie dieselbe geblieben - bis auf ihre Augen....
Angie richtete sich auf. Sie schaltete den Computer aus. Sie wusste genug für's Erste. Sie kannte ihre Aufgabe. Und sie würde sie erfüllen. Zuerst musste sie noch einmal zurück in diese Ausstellung. Anubis hatte ihr noch etwas zu sagen.... Einige Minuten später stand Angie vor der Tür des kleinen Museums. Heute war es geschlossen und niemand war hier. Angie nahm den Türgriff in die Hand und drückte die Klinke herunter. Abgeschlossen! Sie liess die Klinke umfasst und senkte ihren Blick darauf. Ein energetischer Strahl verliess ihre Augen und traf auf die Türklinke. Angie liess ihn so lange darauf gerichtet, bis sie ein leises "Klick" vernahm. Die Tür war offen - der Weg war frei. Schnell betrat sie den Raum und machte sich sofort auf den Weg zu der schwarzen Anubis-Statue. Als sie vor ihm stand, kreuzte sie die Arme über ihrer Brust und verbeugte sich vor der Statue. Sie kniete nieder und berührte die Stelle an der Statue, an der die Gravur angebracht war. Die Verbindung war sofort hergestellt. Keine fünf Minuten später verliess Angie die Ausstellung wieder.
Angie, das war immer noch ihr Name. Aber von der alten Angie war nicht mehr viel da und ihre Augen blickten ins Leere......