Kapitel 17
Elmer war erstaunt. Erstaunt darüber, was in der letzten Zeit alles geschehen war. Alles hatte mit den seltsamen Träumen angefangen. Dann die Sache im Aufzug, der Museumsbesuch, das erste Zusammentreffen mit Nani und ihrer Freundin/Schwester Angie. Die Offenbarungen seines Grossvaters, der Ring und dann die erste Nacht mit Nani ...seit sehr langer Zeit. Es war so wunderbar. So als wären sie nie getrennt worden, als hätten sie in dieser Nacht nahtlos angeknüpft an ihre letzte gemeinsame Nacht in einer anderen Inkarnation.
Etwas war beiden sofort aufgefallen. In der Nacht ihrer Wiedervereinigung war auch etwas von der Kraft des Ringes auf Nani übergegangen. Sie verfügte plötzlich über ihr altes Wissen aus der Zeit als Isis-Priesterin. Einmal in dieser Nacht hatte der Ring dieses bläuliche Licht abgesondert, ähnlich dem Moment, als Elmer ihn übergestreift bekam. Elmer selber hatte in den letzten Tagen noch eine Menge über die Kraft des Ringes erfahren und über die Möglichkeiten, wie er ihn einsetzen konnte. Vor zwei Tagen waren sie dann hier angekommen. In Ägypten. Sie waren in einem Vorort von Kairo untergekommen. Ein unscheinbares, aber hübsches kleines Häuschen, dass den al Bashirs gehörte. Grossvater hatte den Kontakt hergestellt. Seine Eltern hatten damals auch schon hier gewohnt und waren mit den Bashirs befreundet gewesen und Grossvater hatte den freundschaftlichen Kontakt immer aufrecht erhalten.
Sie wussten, dass Eile geboten war und dass sie etwas unternehmen mussten, um die drohende Gefahr noch abzuwenden, die heraufzog. Ahmed al Bashir war vor ein paar Tagen erst aus dem Krankenhaus entlassen worde. Er hatte einen schweren Sturz überlebt und erhebliche Verletzungen davon getragen, aber letztlich hatte er nun alles auskuriert und war wieder fit. Ahmed, Nani und Elmer waren sich auf Anhieb sympathisch und Ahmed hatte den beiden die ganze Geschichte über die Bohrungen am Gizeh-Plateau und seine Erlebnisse dort erzählt. Grossvater hatte Elmer am Telefon noch einige letzte Tipps gegeben und dann stand ihr Plan.
Die Sonne schickte ihre ersten sanften Strahlen über den Vorort in Kairo und fand den Weg durchs Fenster auf Elmers Wange. Langsam öffnete er die Augen. Nani lag an ihn gekuschelt in seinem Arm. Sie schlief noch. Elmer betrachtete ihr hübsches Gesicht und musste an ihre erste gemeinsame Nacht nach so vielen Jahrtausenden denken. Ein Lächeln überzog sein Gesicht. Er wusste, dass Nani wach war und gerade an dasselbe dachte. "Es war wunderschön, nicht wahr?", sagte sie. "Ja, das war es," antwortete Elmer. Ihre telepathische Verbindung war neu verknüpft und enorm ausgebaut worden in den letzten Tagen, seit sie wieder zusammen gefunden hatten. Elmer zog snaft den Arm unter Nanis Kopf hervor und schwang sich aus dem Bett. "Wir müssen los Nani, es ist schon hell und Ahmed wird auch schon auf den Beinen sein." "Ja ich komme."
Ein halbe Stunde später sassen Nani, Elmer und Ahmed gemeinsam am Frühstückstisch und besprachen noch einmal ihre Pläne für den heutigen Tag. Ahmed war einiges aus seinem früheren Leben bereits selber klar geworden, über den Rest klärten Elmer und Nani ihn auf. Der Ring hatte dann noch seinen Teil dazu beigetragen und am gestrigen Abend hatte Ahmed dann einige Worte in der alten atlantischen Sprache gesprochen, die ihnen allen einen positiven Schauer der Erinnerung über die Haut schickte.....
Es war alles vorbereitet und sie stiegen in den alten beigefarbenen Landrover ein, den Ahmed bereits am Abend zuvor mit den wichtigsten Dingen beladen hatte. Eine Tasche mit den letzten notwendigen Dingen wurde auf der Rückbank abgestellt, dann fuhren sie los. Ahmed steuerte den Landrover langsam vom Grundstück herunter auf die kleine Landstrasse und mit steigender Geschwindigkeit zogen sie eine immer grösser werdende Staubfahne hinter sich her. Das Gelände war nur wenige Klometer entfernt und nach den ersten Biegungen war die Silhuette der grossen Pyramide bereits sichtbar. Die Umrisse der Sphinx wurden erkennbar und kurz darauf hielt Ahmed den Landrover am Strassenrand an. Das letzte Stück wollten sie zu Fuß zurücklegen, um mit dem Wagen nicht aufzufallen. Das kleine weisse Zelt über der Pranke der Sphinx war nun zu sehen und sie bekamen deutlich mit, dass verschiedene Aktivitäten an der Sphinx vonstatten gingen. Elmer schätzte die Anzahl der dort arbeitenden Leute auf etwa zehn Männer.
Sie hatten den Absperrzaun erreicht, der das Gelände vor unbefugtem Zutritt sichern sollte. Sie hatten diese Stelle ganz bewusst ausgewählt, da hier am wenigsten los war und man weil hier relativ ungesehen das Gelände betreten konnte. Ahmed holte einen kleinen Bolzenschneider aus der mitgebrachten Tasche und trennte den Zaun an geeigneter Stelle nahe einem Pfeiler auf. Er bog den Draht etwas zur Seite und die drei Freunde betraten das Plateau. Ahmed drückte den Draht zurück, so dass der Schnitt nicht mehr auffiel. Zwischen der grossen Pyramide und der Sphinx näherten sie sich dem hinteren Teil des löwenköpfigen Monumentes. Bohrgeräusche waren zu hören. Geschützt unter dem aufgestellten Zelt wurde an der Vorderpranke der Sphinx gebohrt. Mit besorgten Blicken verharrten Nani, Elmer und Ahmed in leicht gebückter Stellung an der Aussenhaut der Sphinx. "Wir müssen noch ein kleines Stück da rüber," sagte Elmer und deutete mit der Hand auf die Seitenfläche der Sphinx. Langsam und vorsichtig bewegten sich die drei weiter. Nach ein paar Metern hob Elmer die Hand und blieb stehen. Er legte seine Hand mit dem Ring auf den Stein und sagte zu Nani und Ahmed: "Und nun berührt mich!" Wie auf ein Kommando legten Nani und Ahmed ihre Hände auf die Schulter von Elmer. Uralte Worte verliessen Elmers Lippen. Ein bläuliches Licht verliess den Ring an Elmers Hand und legte sich auf die steinerne Haut der Sphinx.
Die Naturgesetzte wurden für kurze Zeit aufgehoben und der Ring schien ein rundes, mannshohes Loch in den Stein zu "brennen", welches einen Durchgang schuf, um die drei Menschen einzulassen. Ein merkwürdiger, leiser Brummton war währenddessen zu hören. Schnell stiegen sie durch den Durchgang in den Körper der Sphinx ein. Elmer strich über den Ring und augenblicklich schloss sich der Durchgang wieder. Die mitgebrachten Taschenlampen wurden eingeschaltet und beleuchteten eine Art Nottreppe, welche in diesem hinteren Teil der Sphinx eingebaut worden war. Hiervon wussten jedoch damals nur wenige Eingeweihte. Der Treppenabgang war so schmal dass sie einzeln hintereinander die Stufen hinabsteigen mussten. Nach einigen Minuten erreichten sie den unteren Bereich der Treppenanlage. Ein kleiner "Notgang" führte in Richtung der grossen Pyramide. In leicht gebückter Haltung gingen sie weiter. Dies war nicht der Hauptgang, der war nur durch den Einstieg über die Vorderpranke der Sphinx zu begehen. Der Weg über den Hauptgang wäre sicher bequemer gewesen, aber er wurde diesmal schon von anderen Leuten benutzt.
Sie erreichten das Ende des Ganges. Eine Steinwand tat sich vor ihnen auf, die eine andere Beschaffenheit aufwies. Rosengranit! Es waren die Aussenwände der Halle. Die Halle der Aufzeichnungen! Ein Gefühl der Ehrfurcht beschlich die drei Besucher. So viel Wissen und Geheimnis lag hinter dieser Wand. Elmer legte die Hand mit dem Ring auf die Granitwand. "Berührt mich!" Wieder legten Nani und Ahmed ihre Hand auf Elmers Schulter. Das Blaue Licht schuf einen Durchgang und alle drei schritten hindurch. Ihre Stablampen beleuchteten zitternd das Innere der Halle. Seit Jahrtausenden war hier kein Licht mehr eingedrungen. Die tönernen Tafeln, Kisten und Kästen, die unzähligen Schriftrollen, Figuren und andere Artefakte schienen sich im Licht der Taschenlampen erschrocken hin und her zu drehen. Voller Ehrfurcht und ohne ein Wort zu sprechen liessen Elmer, Nani und Ahmed ihre Blicke von ihrem Platz aus durch die Halle schweifen, ohne sich zu bewegen. Sie standen oberhalb der Halle auf einer Art Rundgang oder Empore, der in der Mitte der Halle in eine Treppe mündete, die in der unteren Etage breit auslief.
"Ahmed, schaue Du nach, ob der Ring an seinem Platz liegt, ich will mich ihm nicht zu sehr nähern." "Ja Elmer", antwortete Ahmed etwas erschrocken. Er war noch immer von der Atmosphäre der Halle gefangen. Ahmed ging bedächtig den Rundgang entlang, bog auf die Treppe ein und ging die ersten Stufen hinab. Lange her, aber er konnte sich erinnern, dass er diese Stufen schon einmal beschritten hatte. Er wandte sich nach rechts, als er unten angekommen war und steuerte auf eine Nische in der Wand zu, die mit sieben kleinen Säulen verziert war. Ahmed umfasste die mittlere Säule mit seiner rechten Hand und sprach die Worte:" Nish akkad ish-thar!" Eine leichte Drehung der Säule zur rechten Seite liess mit einem klickenden Geräusch eine kleine Schublade aus der Wand der Nische hervor gleiten. Ein goldverziertes Kästchen befand sich darin. Ahmed wandte sich zu Elmer um und blickte ihn fragend an. Elmer nickte ihm nur kurz zu. Ahmed öffnete darauf hin den Deckel des Kästchens.
Aira-Mu sah ihn an! Der goldgefasste Ring mit dem kleinen silbernen Stein auf dem grossen roten Stein schien ihn direkt zu fixieren! Ahmed hatte Bedenken, dass er nicht länger standhalten würde und schloss schnell wieder den Deckel des Kästchens. Er sah zu Elmer herüber und nickte ihm kurz zu. Dann schob er die Schublade wieder zurück, bis ein leises Klicken zu hören war. Er ging zurück zu Elmer und Nani. "Er ist an seinem Platz", sagte er zu Elmer "und er hat nichts von seiner Kraft eingebüsst in all den Jahren. Ich hatte grosse Mühe, ihm nicht zu verfallen." Elmer legte Ahmed freundschaftlich die Hand auf die Schulter. "Du warst schon immer stark, Ahmed - damals schon. Nicht unbedingt hier - und er legte dabei seine Hand auf Ahmed's Oberarm - aber hier - und seine Hand wanderte auf Ahmed's Herz. "Und darin liegt die wahre Kraft der Menschen." Für einen kurzen Moment fühlte sich Ahmed zurückversetzt in die Zeit, als Elmer der Hohepriester Nefreth war und eine knappe Sekunde lang glaubte er, seinen kahl geschorenen Kopf wahrgenommen zu haben. Elmer wandte sich um. "Wir müssen zurück". Sie verliessen die Halle an der gleichen Stelle, an der sie sie betreten hatten und bewegten sich gebückt zurück durch den Notgang. Der Notgang verlief parallel zum Hauptgang, der einige Meter darunter unter ihnen lag.
Nach einigen Metern hörten sie Geräusche unter sich. Sie stoppten ihre Schritte und lauschten. Ganz schwach waren Schreie und Stimmen aus dem unter ihnen liegenden Hauptgang zu hören. Sie mussten ihn gefunden haben! Elmer kniete sich auf den Boden des Ganges und schloss seine Augen. Die Hand mit dem Ring drückte er auf den Steinboden. Dann sah er.....
Es waren vier Männer. Taschenlampen und Kopflampen leuchteten. Sie hatten gerade unbeschadet die Säurefalle passiert und setzten ihren Weg fort in Richtung des Eingangs zur Halle der Erkenntnis. Zwei jüngere Männer gingen voran. Dann folgte Alexander Solomon. Den Schluss bildete sein Freund Bud McIntosh. Er sah nach oben zur Decke - als wenn er Elmer sehen könnte.....
Sie konnten jetzt nicht einfach weg gehen.