Kapitel 21
Das Beben erreichte seinen Höhepunkt und Staub erfüllte die Luft in der Halle. Die Menschen schwankten hin und her und wer keinen festen Halt hatte, wurde wie ein Spielball hin und her geworfen. Nefreth hatte kleine Schweissperlen auf seiner Stirn. Sein Atem ging heftig und seine Brust hob und senkte sich stark. Der Staub machte allen sehr zu schaffen. Einige Meter von ihm entfernt sass seine geliebte Frau Nanchi-ankh-sun auf dem Boden, den Kopf des toten Pharaos auf ihren Schoss. Sein Körper war zur Hälfte von einem tonnenschweren Stein zerquetscht, der sich durch das Beben aus der Decke gelöst hatte und ihn getroffen hatte. Lediglich ein Teil seines Oberkörpers und seines Armes an dem sich sein Ring befand, waren noch zu sehen. Nanchi streichelte den Kopf ihres Vaters. Tränen liefen über ihr Gesicht und vermischten sich mit ihrer vorhin noch schönen Gesichtsbemalung und dem Staub und Sand, der die Luft der Halle schwängerte zu einem unschönen Brei.
Hilfesuchend schaute sie umher und brach mit ihrem Blick fast das Herz ihres Gemahls Nefreth. Anchor-ankh-sun bewegte sich vorsichtig halb kriechend und halb krabbelnd wie ein Kind auf ihre Schwester und den toten Pharao zu. Nanchis hilfesuchender Blick erreichte ihre herannahende Schwester. Sie streckte eine Hand zu ihr aus. Doch ihre Schwester hatte keinen Blick für sie und ignorierte die ihr entgegengestreckte Hand. In dieser höchst schlimmen Situation hatte Anchor-ankh-sun nur Augen für Eines:
Den Ring an der Hand des toten Pharaos!
Nefreth erkannte die Gier in Anchor-ankh-sun. Sie war nicht mehr sie selbst und sie würde nun alles tun, um an den Ring zu gelangen. Es war zum Verrückt werden! Er konnte nicht näher heran, um zu helfen. Wenn die Ringe zu nahe zusammen kommen würden, käme es zu einer grossen Katastrophe, dass konnte und wollte er nicht riskieren. Nanchi war in ihrem Schmerz um den toten Vater gefangen. Den hilfesuchenden Blick auf ihre Schwester gerichtet, bekam sie in ihrem Schmerz nicht mit, dass Anchor-ankh-sun nur den Ring im Sinn hatte. Als Anchor-ankh-sun ebenfalls ihre Hand ausstreckte, glaubte Nanchi-ankh-sun dass ihre Schwester ihre Gefühle teilt und ihr in dieser schmerzhaften und schweren Stunde beistehen wollte. Umso grösser war ihre Enttäuschung, als die Hand ihrer Schwester an ihr vorbei glitt und des Pharaos Hand ergriff. Erst jetzt wurde Nanchi-ankh-sun klar, welche Absicht ihre Schwester hegte. Der Ring Aira-Mu hatte sich am Finger des Pharaos gelockert, als das Leben aus seinem Körper gewichen war. Es war ein Leichtes für sie, den Ring an sich zu nehmen.
Nanchi war unfähig zu einer Reaktion. Der grosse Schmerz über den Tod des Vaters und die Enttäuschung über die Gier und die Gleichgültigkeit ihrer Schwester liessen sie erstarren. Sie war wie paralysiert. Anchor-ankh-sun hatte den Ring vom Finger des Pharaos abgezogen. Aira-Mu lag in ihrer Hand. Sie verschloss ihre Hand zu einer Faust und ohne ihre Schwester oder den toten Vater auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, drehte sie sich um und bewegte sich in Richtung der Treppe, um die Halle zu verlassen. Ein Ausdruck der Zufriedenheit und des Stolzes hatte ihr Gesicht überzogen, als sie hoch erhobenen Hauptes die erste Stufe der Treppe betrat. Die Erdstösse hatten an Heftigkeit deutlich abgenommen.
Als Anchor-ankh-sun die erste Treppenkehre passiert hatte und aus dem Blickfeld verschwand, begab sich Nefreth sofort zu seiner am Boden sitzenden Frau mit ihrem toten Vater im Arm. Tief verletzt schmiegte sich Nanchi-ankh-sun Trost suchend an ihren Gemahl und liess ihren Tränen freien Lauf. Tröstend strich Nefreth ihr über das von Staub, Sand und Tränen verschmierte hübsche Gesicht. Bedienstete und Mitglieder der Priesterschaft kamen heran sahen bestürzt auf die traurige Szene. Nefreth half Nanchi-ankh-sun auf und es wurde damit begonnen, den schweren Stein zu entfernen, um den toten Körper des Pharaos zu befreien.
Nefreth wollte Nachi-ankh-sun den Anblick des zerschmetterten Körpers des Pharaos ersparen, wenn der schwere Steinquader entfernt war und forderte sie auf ihm zu folgen. Langsam löste sie den Blick und vertraute sich dem Arm ihres Mannes an, um die unglückseelige Szene zu verlassen.
Vorsichtig stiegen sie die Treppenstufen hinauf. Nefreth hatte die Stufen ständig im Blick um zu vermeiden, plötzlich auf Anchor-ankh-sun zu treffen. Die Energie der beiden Ringe durfte auf keinen Fall zu nahe zusammen kommen. Dann hatten sie endlich die Oberfläche erreicht. Die Schäden durch das Erdbeben hielten sich in Grenzen. Grössere Bauwerke wie die Pyramiden oder die Sphinx selber wiesen keine Schäden auf. Lediglich an kleineren Häusern waren teilweise Einstürze zu erkennen. Auch waren allem Anschein nach keine weiteren menschlichen Verluste zu beklagen. Nefreth wollte sich nun zuerst um seine Frau kümmern und brachte Nanchi-ankh-sun in ihre gemeinsamen Gemächer. Sein Blick fiel auf die prächtige Strasse, die zum Eingang der grossen Pyramide führte. Nefreth glaubte dort jemanden erkennen zu können. Er kniff die Augen ein wenig zusammen. Dann war er sich sicher. Es war Anchor-ankh-sun. Sie war auf dem Weg zur grossen Pyramide und eins war Nefreth klar: Es hatte nichts Gutes zu bedeuten.
Nefreth liess es sich nicht nehmen, Nanchi-ankh-sun ins Badebecken zu begleiten. Sie entledigten sich ihrer Kleider und tauchten langsam in das warme Wasser ein, dass für sie eingelassen worden war. Nefreth nahm einen bereit liegenden Schwamm und begann, Nanchi zärtlich durch ihr Gesicht zu streichen und ihr den Staub und den Schmutz abzuwaschen. Auch die Schminke und Bemalung entfernte er und sah die natürliche Schönheit in ihrem Gesicht. Einen Moment hielt er inne und sah sie an. Nanchi-ankh-sun öffnete ihre Augen. "Heute ist kein guter Tag für unser Land", sagte sie. "Nein, kein guter Tag", antwortete Nefreth kopfschüttelnd. Sie sah ihn eindringlich an und fragte: "Du willst es wirklich tun?"Nanchi hatte seine Gedanken erkannt. "Ich muss es tun. Wir müssen es tun. Es ist einfach sicherer, wenn er geteilt ist." Nefreth konnte die Kräfte des Ringes zur Hälfte auf eine weitere Person übertragen. Niemand ausser ihnen wusste davon und das war gut so. "Lass es uns jetzt sofort machen," sagte Nefreth. "Wenn Du es für richtig hälst - gut", antwortete Nanchi. Sie stiegen aus dem Wasser aus und legten beide einen bereit liegenden Umhang an. Nanchi-ankh-sun legte sich auf eine Liege, die einige Meter weiter stand. Ihre Arme kreuzte sie über ihrer Brust und schloss die Augen. Nefreth stand über sie gebeugt und hob die Hand mit dem Ring an. Dann schloss er die Augen.
" Anchor-Mu khalat te!", waren seine Worte und er sah den Ring an. Bläuliche Energieflämmchen umspielten den Ring. Nefreth führte seine Hand hinab und legte sie auf Nanchis Stirn ab. Es ging schnell. Von ihrer Stirn abwärts bis zu den Füssen erfasste sie die bläuliche Flamme und sammelte sich dann wieder in dem Ring. Für wenige Sekunden schwebte Nanchi-ankh-sun einige Zentimeter über der Liege, um dann sanft wieder "abgelegt" zu werden. Nefreth nahm die Hand von ihrer Stirn und Nanchi öffnete ihre Augen. Ihre Augen! Sie waren anders als zuvor. Die Farbe war intensiver geworden und Nefreth hatte das Gefühl, sich selber anzuschauen. Sie waren telepathisch verbunden. Schnell erhob sich Nanchi-ankh-sun von der Liege, schlang ihre Arme um Nefreth und küsste ihn leidenschaftlich.
Dann sagte sie zu ihm: "Sie wird keine Zeit verlieren, um ihre Macht weiter auszubauen, nicht wahr?". "Nein, wird sie nicht. Als wir uns hierher begaben, war sie schon auf dem Weg zur Pyramide." Nanchi schloss ihre Augen. "Sie will in den Sarkophag und die Einweihung vollziehen!" "Ja, so ist ihr Plan", antwortete Nefreth. "Und wir kommen nicht nah an sie heran wegen der Ringe. Wir brauchen eine List! Sie wird sonst alles zerstören in ihrem Wahn." Kurz darauf waren sie auf dem Weg zur grossen Pyramide. Einige getreue Priester schlossen sich ihnen an auf dem Weg und vor dem Eingang sahen sie bereits eine grössere Ansammlung von Soldaten aus der Leibgarde des Pharaos. Als sie Nanchi und Nefreth kommen sahen, verneigten sie sich allesamt vor Nanchi-ankh-sun. Der Pharao war tot. Er hatte keinen Sohn und sie war seine älteste Tochter. In der Erbfolge war sie nun die neue Regentin. Erst jetzt wurde ihr dies bewusst.
In der Einweihungskammer brannten Fackeln. Räucherwerk war entzündet worden. Anchor-ankh-sun stand alleine vor dem geschlossenen Sarkophag. Die Tür zur Kammer hatte sie von innen verschlossen. Aira-Mu hatte sich um ihren Finger geschlungen. Sie hob ihren Arm und richtete die Hand auf den Deckel des Sarkophages. Lautlos hob der Deckel ab und schwebte zur Seite. Anchor-ankh-sun trat vor den Sarkophag. Sie löste eine kleine Schleife an ihrer Schulter und ihre Kleidung glitt zu Boden. Nackt stieg sie in den Sarkophag ein. Der Deckel senkte sich wie von Geisterhand wieder auf den Sarkophag. Anchor-ankh-sun kreuzte die Arme über ihrer Brust. Ganz leicht erhellte das Funkeln in ihren Augen das Innere des steinernen Gefässes. Dann erstarb das Licht. Sie hatte ihre Augen geschlossen.
Wenn es hier wieder hell wird, würde sie eine andere sein.....