Im 11. Zeitalter
im Jahr 10338
im Märus
dem 15.
ein Frenar
nach Beginn der Zeitrechnung
Was ist schon Wahnsinn?
Verfluchte Gedanken, Taten und ihr Beginn?
Oder eine arme Seele, die sich windet und um Hilfe schreit?
Bis zu dem Tage, an dem man sie befreit?
(Gedankliche Überlegung Nouriahs, entnommen den Wurzelschriften)
Kapitel 1: Wahnsinn?
Ein großer, hagerer Mann hastete durch den dunklen Wald der Morgendämmerung. Seine Kleider einst aus feinster Amalin gewebt und mit Silberspänen durchzogen, mochten kaum noch an ihre vergangene Pracht erinnern. Vor Schlamm triefend, durchnässt von den nächtlichen Regenfällen und von unzähligen Rissen und Löchern durchzogen, schien jeglicher Zauber schon vor langer Zeit von den Kleidern gewichen zu sein.
Der Mann stolperte vor Erschöpfung, ging zu Boden und krachte schmerzvoll gegen die halbverrotteten Wurzeln eines umgekippten Baumes. Doch wie im Wahn rappelte er sich wieder auf und rannte von neuem los. Sein langes, schwarzes Haar wirbelte in der Luft umher und verfing sich nicht selten in kleinen Zweigen oder anderem Geäst. Der Mann schien von alledem jedoch nichts zu bemerken und hastete weiter. Sein einziger Gedanke galt dem Weiterkommen.
Weiter! Ja, er musste weiter! Auf keinen Fall durfte er stehen bleiben!
Als wäre das furchtbarste Grauen Remandors leibhaftig hinter ihm her, rannte er durch das Dickicht des dunklen Waldes. Dornen rissen seine Haut auf und Zweige peitschten sein Gesicht. Aber dennoch, er lief weiter und wagte es nicht, einen Blick über seine Schulter zu riskieren.
Sie waren da! Sie mussten da sein! Ja, sie waren da, dass wusste er! Oder vielleicht doch nicht? Nein, sie mussten da sein! Aber… wer überhaupt?
Er stutze für einen Moment und kam keuchend zum Stehen. Die Blätter der Bäume raschelten leise durch die sanften Berührungen des kalten Frühjahrswindes und hier und da erwachten nach und nach die ersten Vögel, um ihr morgendliches Konzert zu geben.
Wovor lief er eigentlich weg? Musste er denn wirklich davon laufen? Es verfolgte ihn doch keiner… oder?
Ganz langsam richtete sich der Mann auf und straffte seine Schultern.
Ja er musste sich umschauen. Nur so konnte er sichergehen. Hinter ihm war nichts mehr! Er hatte alles längst hinter sich gelassen! Er war frei! Er hatte es geschafft! Ja… das hatte er… oder? Doch, er war sich sicher, er musste sich nur noch umschauen. Es durfte nichts mehr da sein! Es würde nichts mehr da sein! Aber... was sollte überhaupt da sein?!
Egal! Er musste sich umdrehen!
Wie in Trance spannte er seinen Körper und kämpfte gegen den ständigen Drang, einfach nur davon laufen zu wollen. Dann sprang er plötzlich herum und spähte in die dämmernde Düsternis des tiefen Waldes.
Da war nichts! Wie er es sich gedacht hatte. Schoss es dem Mann erleichtert durch den Kopf und nahezu jede Anspannung fiel von ihm ab.
Dem großen Licht sei Dank…
Ein Fauchen hallte durch den Wald, raubte dem Mann die gewonnene Ruhe der letzten Augenblicke und ließ ihn vor Angst erzittern. Es war ein Fauchen wie das eines Raubtieres, nur unglaublich viel bedrohlicher. Panik breitete sich in dem Mann aus und sein Blick sprang bei dem kleinsten Geraschel der Blätter von einer Seite zur Anderen, immer das Schlimmste befürchtend.
Er hatte sich geirrt! Es war doch da! Diese Dämonen hatten ihn verflucht! Das Grauen kam näher! Er musste hier weg!
Mit größter Willensanstrengung drehte er sich um und sprang durch die nächsten Büsche des erwachenden Waldes. Das Fauchen ertönte erneut und ließ ihn vor Schreck zusammenfahren. In völliger Verzweiflung beschleunigte er seine Schritte noch und stürmte so schnell ihn seine Beine trugen durch das nasse Geäst.
Es durfte ihn nicht kriegen! Nein! Niemals wieder! Oh großes Licht… bitte… es musste ihm helfen!
Aber es war keine Hilfe in Sicht. Tränen flossen ihm über die Wangen als er sich seiner körperlichen Erschöpfung näherte.
Er musste durchhalten. Er durfte jetzt nicht aufgeben… Nein, nicht heute… Nie wieder… Er war doch davon gekommen… Ziilen um Ziilen hatte er hinter sich gelassen… Hatte die größten Grausamkeiten überstanden… Nein! Er würde nicht aufgeben! Das Fauchen war doch verschwunden oder?
Gebannt von diesem kleinen Hoffnungsschimmer lauschte er zwischen jedem seiner Schritte in den Wald hinein. Hier und da fröhliches Vogelgezwitscher.
Die Tiere hatten doch keine Ahnung!
Und das permanente Wehen des Windes, der durch die zumeist blattlosen Äste der Bäume pfiff.
Wie die Natur doch täuschen konnte!
Aber da war kein Fauchen. Sonst herrschte Stille.
Täuschende Stille! …oder?
Währenddessen trugen ihn seine Beine voran und er kämpfte sich immer weiter.
Noch einmal würde er nicht halten. Nein, das war zu gefährlich!
Er preschte gerade zwischen zwei dicken Bäumen hindurch, als er vor sich ein dunkles, kehliges Brüllen vernahm und vor Schreck einen Satz nach hinten machte.
Nein! Das kann nicht sein… das furchtbare Grauen war doch immer hinter ihm gewesen…
Da ertönte noch ein spitzer, hoher Schrei und ließ seine angstvollen Gedanken verblüfft verstummen. Auf den ersten Schrei folgten Weitere und ließen die Verzweiflung des Wesens heraushören. Benommen stand er da und versuchte den Gefühlstumult in seinem Inneren unter Kontrolle zu bringen.
Er musste weiter… er konnte nicht helfen… auf ihn würde nur noch viel Schlimmeres warten… aber… vielleicht konnte er doch helfen… oder? Vielleicht…
Das laute Brüllen erschallte erneut und wandelte sich währenddessen zu einer Mischung aus Fauchen und Grölen, dem lautes Bersten von Holz folgte. Da war es um ihn geschehen. Für einen winzigen Bruchteil seines Lebens vergaß er jegliche Angst und stürmte voran. Ein jeder Schritt wurde von den spitzen, ängstlichen Schreien begleitet, die durch den Wald hallten.
Warum… warum tat er das? Was war los mit ihm?
Er wusste es selbst nicht. Irgendwas in ihm drängte ihn vorwärts und hin zu der Quelle der hohen, ängstlichen Schreie.
Er durchbrach ein letztes Dickicht von eng verwachsenen Büschen und stolperte auf eine kleine Lichtung. Trotz des schummrigen Lichtes musste er nicht lange suchen, auf seine guten Augen war immer noch Verlass. Ein wilder Bär hatte sich vor ein paar umgefallen und halb verfaulten Baumstämmen postiert und langte, stets begleitet von seinem bedrohlichen Gebrüll, zwischen den Baumstämmen hindurch.
Die spitzen Schreie wiederum schienen unter den Baumstämmen hervor zu kommen. Er lief ein wenig zur Seite und entdeckte eine menschliche Frau zwischen den Stämmen, ein junges Ding, das verzweifelt versuchte den Pranken des Bären auszuweichen. Anscheinend hatte sie sich in ihrer Angst dort unten versteckt.
Wie dumm die Menschen doch waren… Immer provozierten sie andere Wesen…
Aber er wollte sie auch nicht sterben lassen. Sie war noch jung, sie hatte noch viel Zeit zum Lernen.
Er suchte etwas um die Aufmerksamkeit des Bären auf sich zu ziehen, fand aber auf die Schnelle nur ein paar dünne Äste, nichts Brauchbares. Da schoss es ihm durch den Kopf, seine Stimme!
Ah… wie lange war es her, dass er zuletzt etwas gesagt oder gar gerufen hatte? So lange… beinahe zu lange…
Angestrengt kramte er in seiner Erinnerung und fand schließlich die Worte in der Sprache, die man auf ganz Remandor sprach: „He… ey…“, Bekam er zunächst nur als ein leises Krächzen raus. Er konzentrierte sich noch einmal und legte alle Kraft in die wenigen Worte: „Hey, schau hier hin! Hier bin ich!“
Dabei fuchtelte er Aufmerksamkeit erregend wild mit seinen Händen umher. Die spitzen Schreie verstummten und der Bär erstarrte und blickte zu ihm herüber. Für einen Moment schien die Zeit still zu stehen, dann stieß der Bär ein bedrohliches Brüllen aus und stürmte auf ihn zu.
Der Mann wusste genau, ein heranstürmender Bär war eine Naturgewalt. Dennoch überkam ihn in diesem Moment eine unglaubliche Ruhe und er besann sich auf sein wahres Wesen. Er blieb standhaft Stehen und hörte auf mit den Armen zu rudern. Stattdessen breitete er sie aus und hieß den Bären im Stillen willkommen, während er dem gewaltigen Tier in die Augen blickte. Der Bär stürmte weiter voran, bis sich sein Blick mit dem des Mannes traf. Ein goldenes Schimmern lag hinter den Augen des Bären, dass eine seltsame Verlockung auf den Mann ausübte.
Nein eine Verlockung war es nicht… Seine Sehnsucht nach ihm selbst, seiner Vergangenheit… die Sehnsucht danach, wie es einmal gewesen war… ob er jemals wieder ein normales Leben führen konnte…?
Da verlangsamte der Bär plötzlich seine Geschwindigkeit, kam wenige Zort vor ihm zum Stehen und erstarrte.
Ja, so war es gut… Er wollte ihm nichts tun… Keiner wollte ihm etwas tun…
Freudig machte der Mann einen Schritt auf den Bären zu, nur um zu erfahren wie sich der Bär mit einem Ruck verspannte, in Abwehrhaltung ging und laut zu knurren begann. Verwundert konzentrierte der Mann seine Gedanken auf sein Volk, an seine friedliche Natur und öffnete sich dem Bären ein zweites Mal, indem er zum nächsten Schritt ansetzte.
Der Bär musste sich ansehen wer er war. Sein Volk bemühte sich seit je her um die Wesen der Natur. Denn schließlich gehörten sie selbst dazu, wie alle Völker Remandors, ja… selbst die neuen Völker gehörten dazu… so war der Lauf der Dinge und es würde immer so sein. Er war in dieses weise Volk geboren worden, er war ein Teil davon… der Bär würde es schon noch erkennen… nein, er musste es erkennen…
Doch zu seinem Schrecken stellte der Bär keineswegs sein abwehrendes Gehabe ein. Stattdessen wurde sein Knurren noch lauter, bis er sich plötzlich mit einem lauten Fauchen abwandte und von der Lichtung in den Wald davon jagte.
Tränen stiegen dem Mann in die Augen, als er den Bären flüchten sah und quälende Verzweiflung machte sich in ihm breit.
Es war zu spät… Es war schon seit langer Zeit zu spät… Er war verflucht… Nein… noch viel schlimmer als das! Was ihm angetan worden war, entbehrte jeglicher Vorstellungskraft… es gab kein Zurück… er konnte nicht entkommen… er hätte es wissen müssen... Egal wie viele Ziilen er zwischen sich und seine Peiniger legte… er konnte dem Unfassbaren nicht entkommen. Es war vorbei! Sein Leben hatte den Sinn verloren…
Schluchzend brach er zusammen, fiel kniend zu Boden und hämmerte seinen Schädel in den matschigen Untergrund, während er seinen Tränen zum ersten Mal seit Jahren freien Lauf ließ und sich die Seele aus dem Leib schrie. Verzweiflung und unendliche Traurigkeit bahnten sich nun endlich, wie schon so lange ersehnt, einen Weg hinaus und ließen den Körper des Mannes erbeben. In einem steten Strom ergossen sich die Tränen auf die durchweichte Wiese der kleinen Lichtung und zogen all das Leid und die Verzweiflung allmählich aus dem Mann hinaus. Nach einem halben Tag wie es dem Mann schien, verebbte langsam das Schluchzen und die Tränen versiegten. Vollkommen geschafft lag er schließlich reglos am Boden und ließ die Kälte des Morgens in seine Gliedmaßen fließen.
„Ähm… geht es Ihnen gut?“
Die leise Frage ließ den Mann erschrocken zusammen fahren und brachte ihn mit Herzrasen im Nu wieder auf die Beine. Die Angst war zurückgekehrt. Panik schoss ihm augenblicklich in alle Glieder und verdrängte die tröstende Kälte, welcher er sich noch eben nur zu gerne hingeben hatte. Dann machte er die Quelle der zaghaften Worte aus und die Erinnerung kam zurück. Aber es war zu spät, die unterschwellige Angst ließ sich nicht erneut vertreiben. Sie blieb, wie ein boshaftes Geisterwesen, dessen Aufgabe noch nicht erfüllt schien.
Vor ihm stand das junge Ding, das junge menschliche Wesen. Die weichen Kurven und die Größe des Körpers ließen es als eine junge Menschenfrau erkennen. Die schlichte, braune Wollkleidung war zum Großteil von der nassen Wiese durchnässt worden und klebte nun an den sanften Rundungen ihres Körpers. Die Kälte hatte anscheinend schon Besitz von ihr ergriffen, wie sich an ihrem zitternden Körper erkennen ließ.
Ja… Menschenfrauen waren empfindliche Wesen… bemitleidenswerte Wesen…
Der Blick des Mannes wanderte zu ihrem Gesicht, über die schlanken, weiblichen Züge, die von einer Zerbrechlichkeit geprägt waren, die ihm den Atem raubte.
Was hatte sie hier draußen verloren? Sonst achteten die Menschen doch so sehr auf ihre Frauen. Alleine durften sie normalerweise noch nicht einmal einen Fuß vor die Tür setzen…
Sein Blick wanderte weiter und blieb an ihren Augen hängen, welche aufmerksam seine Gestalt begutachteten und sein erster Eindruck verflüchtigte sich sofort. So zarte Züge sie auch besaß, ihr Erscheinungsbild wies in Verbindung mit ihren forschenden Augen eine hintergründige Willenskraft auf, wie er sie noch nie zuvor bei einem Wesen wahrgenommen hatte.
Da begegnete sie seinem Blick und plötzlich war es um ihn geschehen! Ihre Braunen Augen bohrten sich durch den dicken Mantel der Angst hinein in sein Innerstes und ließen ihn wohlig erschaudern. Sein Atem stockte als eine Wärme in ihm aufstieg, ihn umspülte und in Besitz nahm, wie noch nie zuvor. Seine Angst ebbte ab, löste sich auf. Seine verkrampften Muskeln lockerten sich, nun nicht mehr absprungbereit. Und die Fröhlichkeit und Stärke, die sich hinter ihrem Blick verbarg, ergriffen von ihm Besitz und führten ihn aus seinem selbst errichteten Gefängnis an die Oberfläche seiner selbst.
Viel zu geschockt von der Heftigkeit seiner Reaktion auf die junge Menschenfrau, brachte er noch immer kein Wort heraus und schnappte stattdessen nach Luft. Als die junge Menschenfrau daraufhin misstrauisch die Augen zusammenkniff und ihre Haltung etwas versteifte, riss ihn das endlich aus seiner Lethargie.
„Ich… ich…“, stockte der Mann zunächst, brachte die nächsten Worte dann aber zusammenhängend, wenn auch mit brüchiger Stimmer hervor. „Ja, mir geht es gut.“
Prompt verwandelte sich auch schon das beginnende Misstrauen der jungen Menschenfrau in unverhohlene Neugier. Einzig ihr gesunder Überlebensinstinkt schien sie noch davon abzuhalten alle Spannung von sich abfallen zu lassen. Noch immer viel zu beschäftigt damit, seine verlorene Selbstbeherrschung wieder herzustellen, schwieg der Mann wieder und veranlasste so die Menschenfrau erneut die ersten Worte zu sagen: „Ich heiße Ajanelle. Ich schulde Euch wohl mein Leben. Dafür habt Ihr meinen Dank.“
Währenddessen musterte sie ihn weiter und versuchte scheinbar aus ihm schlau zu werden. Ihre dankbaren Worte brachten ihn nun endgültig wieder in die Wirklichkeit zurück und abwertend seiner eigenen Leistung gegenüber, setzte er zur Erwiderung an: „Ihr braucht Euch nicht bei mir zu bedanken. Nicht dafür. Ich habe schließlich gar nichts von großer Bedeutung getan.“
„Ach, der Bär hat also einfach so, von ganz allein, von mir abgelassen, ist vor Ihnen stehen geblieben und anschließend in den Wald geflüchtet?“, meinte die junge Ajanelle spöttisch.
„Nun, manchmal geschehen Wunder“, musste der Mann unwillkürlich lächeln.
„Hmmm… Ihr wollt anscheinend nicht drüber sprechen. Auch gut“, zuckte Ajanelle mit den Schultern. „Wie wäre es dann, wenn Ihr mir Euren Namen nennt? Nur damit ich mal erfahre wer mein Retter ist. Es sei denn, Ihr wollt den auch für Euch behalten?“, stellte sie ihm die nächste Frage und ihre Mundwinkel begannen verdächtig zu zucken.
Daraufhin musste er lauthals lachen und hatte das wunderbare Vergnügen zu beobachten, wie die junge Ajanelle von einem Ohr zum Anderen zu grinsen begann und ihr strahlendes Gesicht ihm erneut den Atem raubte.
Oh großes Licht! Was war nur los mit ihm?!
„Ähm… also wie ich heiße…“, versuchte er sich selbst abzulenken, „ich… ich heiße…“
Ja… wie hieß er eigentlich? Wann hatte er zuletzt seinen Namen vernommen? Hatte… hatte er überhaupt einen Namen? Vielleicht hatte er nie einen gehabt? Es war viel zu lange her…
„Sagt bloß, Ihr seid Euch nicht sicher?“, schoss es da auch schon wieder spöttisch aus der Frau hervor. Als sie seine Bestürzung jedoch bemerkte, verschwand das Grinsen und ihr Gesicht verzog sich zu einem nachdenklichen Ausdruck.
„Ihr habt feine Haare…“, redete sie im nächsten Moment offensichtlich auch schon mit sich selbst, „auch wenn sie zottelig sind…“
Mit ihrem Gerede konnte der Mann nichts anfangen, geschweige denn mit ihrem plötzlichen Gesinnungswechsel. Stattdessen wartete er gespannt, worauf sie wohl hinaus wollte.
„Feines Haar…“, überlegte sie weiter, „fei… Feinaar… Ja! Der Name ist schön! Was haltet ihr davon, wenn ich Euch Feinaar nenne?“
Verdutzt über ihren Ideenreichtum viel ihm die Kinnlade herab.
„Ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen, wenn ich das als ja deute“, lachte sie daraufhin und streckte ihm die Zunge heraus.
„Ihr seid ein ungewöhnliches Wesen, Ajanelle“, meinte der Mann sanft lächelnd.
„Ein Wesen? Sprecht Ihr immer so merkwürdig?“, kam prompt die kesse Antwort.
„Ich weiß nicht, was Ihr meint, Ajanelle.“
„Na, wer spricht denn schon von Wesen? Ich bin eine Frau! Es klingt ja fast so, als stammt Ihr von der anderen Seite der Welt. Nur die Esiew’ reden so!“, lachte Ajanelle vor sich hin, bis ihre Augen plötzlich groß wurden. „Es sei denn…“
Weiter kam sie nicht. Diesmal war es an ihm zu grinsen, als er langsam seine Haarmähne an der linken Seite anhob und sein nahezu fünfzackiges Ohr entblößte. Es hatte die gleiche Form, wie die Blätter des Amalaáchenbaumes. Drei große Zacken, mit jeweils einem Kleinen dazwischen, die sich am Ende allesamt leicht abrundeten. Selbst unter den Esiew’ war diese Form des Ohres äußerst selten und er war seit jeher stolz auf die eigenwillige Form seiner Ohren gewesen. Es hieß, dass junge Esiew’kinder, die mit solchen Ohren geboren wurden zu Großem bestimmt waren. Nicht umsonst stand der Amalaáchenbaum für die Verbindung der Esiew’ mit dem großen Licht und der allmächtigen Weisheit des Lebens.
Ajanelles Reaktion auf den Anblick seiner Ohren, ließ ihn dann doch auflachen. Sie war erst aschfahl geworden und anschließend puderrot angelaufen, während sie sich anscheinend verzweifelt bemühte irgendwelche Worte hervor zu bringen.
„Ich… ich… es tut mir Leid. Ich wollte Euch nicht beleidigen oder…“
„Ist schon gut, Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen“, unterbrach er sie sanft und wartete geduldig, bis sie sich etwas beruhigt hatte.
„Ihr… ihr seid also ein Esiew?“, fragte sie schließlich unsicher. Von ihrer früheren Selbstsicherheit fehlte jede Spur.
„Ja das bin ich. Anscheinend seid Ihr noch nie einem Esiew begegnet, nicht wahr junge Frau?“
„Nein. Es kommt anscheinend nicht gerade oft vor, dass sich Esiew’ in die Nähe der Grenze verirren“, versuchte die junge Ajanelle sich in einem Anflug von Ironie.
„In die Nähe von welcher Grenze?“
Hmmm… er wusste tatsächlich nicht, wo er sich momentan befand. Allein die Tatsache, dass er hier einer Menschenfrau begegnet war, grenzte die Möglichkeiten noch nicht zu sehr ein. Selbst wenn er ihr Aussehen und die unmittelbare Umgebung noch mit einbezog, gab es immer noch mehrere Möglichkeiten.
„Ihr müsst aber ganz schön lange umher geirrt sein, wenn Ihr das nicht wisst. Sagt man nicht von den Esiew’, dass sie sich in Wäldern nie verlaufen würden?“
Damit hatte sie eine empfindliche Stelle getroffen und er lenkte ihre Aufmerksamkeit lieber schnell wieder zurück auf seine Frage: „Man erzählt Vieles, wenn der Tag lang ist. Also, wo befinden wir uns?“
„Und ich bin ein ungewöhnliches Wesen, ja? Ihr seid hier die merkwürdige Person! Das hier ist Lamatas und wir befinden uns etwa einhundert Ziilen entfernt von der Grenze nach Wulvenien.“
An der Grenze von Lamatas zu Wulvenien also… eine Schande… Er hatte gehofft schon eine größere Strecke hinter sich gebracht zu haben. Wenigstens hatte er die Grenze passiert ohne entdeckt zu werden. Wurden die Grenztruppen langsam nachlässig?
Die fragenden Blicke der jungen Menschenfrau ließen seine Gedanken jedoch vorerst verstummen.
„Ich bin schon zu lange unterwegs… da… da kann so etwas selbst unter uns Esiew’ schon manchmal vorkommen“, versuchte er sich schnell eine Ausrede einfallen zu lassen.
„Schon gut. Wenn Ihr es nicht erzählen wollt, dann dränge ich Euch nicht.“
„Ihr seid wahrlich ein ungewöhnliches Wesen, Ajanelle. Auch wenn ihr nicht gerade gut lügen könnt“, meinte der Esiew mit einem Zwinkern und fing an zu Grinsen. „Ich sehe ja, wie Ihr vor Neugier schon fast platzt. Dennoch behalte ich einige Dinge wohl vorerst noch einmal für mich. Im Übrigen könnt Ihr mich aber gerne Feinaar nennen, es ist wirklich ein schöner Name, den Ihr Euch da ausgedacht habt.“
„Findet Ihr tatsächlich?!“, rief die junge Menschenfrau begeistert. „Ich dachte schon, Ihr würdet Euch beleidigt fühlen, dass ich so respektlos war… und… und…“, suchte sie nach Worten.
„Keineswegs, meine liebe Ajanelle. Glaubt Ihr denn ernsthaft ein Esiew würde wegen einer netten Geste… wie sagt ihr Menschen gleich… auf die Barrikaden gehen?“
„Also… Feinaar…“, betonte sie seinen neuen Namen bedeutungsvoll und lachte dann laut auf. „Ihr habt wirklich eine sehr eigentümliche Wortwahl!“
Ein leiser Schrei, aus weiter Ferne, unterbrach jedoch ihren Lachanfall.
„Oh nein. Ich habe meine Eltern ganz vergessen…“, teilte sie dem Esiew mit, während sich ihre Stimmung bemerkbar senkte.
„Ich nehme einfach mal stumm an, dass Ihr Euch nicht im Einvernehmen von euren Eltern entfernt habt?“
„Nein…“, der Esiew musste sich anstrengen ihre kleinlaute Antwort zu verstehen.
„Dachte es mir doch. Ich hatte mich schon gewundert was eine junge Frau so kurz vor der Grenze alleine im Wald zu suchen hat. Sollen wir ihnen entgegen gehen? Ich begleite Euch bis Ihr Euch in Sicherheit befindet.“
„Ich weiß nicht, ob man das wirklich Sicherheit nennen kann…“, murmelte sie, während die Schreie allmählich lauter wurden.
Das löste diesmal einen Lachanfall beim Esiew aus. Dieses kleine junge Menschending war wahrlich mit allen Wassern gewaschen!
„Da müsst Ihr wohl durch, meine Liebe. Aber Kopf hoch, so schlimm wird es schon nicht werden. Sie werden sich doch bestimmt freuen, dass Euch nichts passiert ist, oder?“
„Vielleicht den ersten Moment lang, aber danach werde ich einen Monat lang Hausarrest bekommen oder Ähnliches…“
„Habt Hoffnung, Ajanelle. Aber jetzt lasst uns ihnen erst einmal entgegen gehen. Ganz egal was vorgefallen ist, nichts kann schlimm genug sein, Eure Eltern Euren Tod befürchten zu lassen.“
„Ihr habt doch keine Ahnung. Bei den Esiew’ soll es so etwas ja nicht geben… Eine Zwangsheirat…“, sagte sie traurig, setzte sich aber dennoch in Bewegung und ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen.
Der Esiew rannte ihr sofort nach und ging schließlich auf gleicher Höhe neben ihr her.
Zwangsheirat… Er hatte wirklich keine Worte gefunden, um ihr Mut zuzusprechen. Zwangsheiraten waren eine Sache der Menschen. Er hatte noch nie verstanden, wo der Sinn hinter solch einer Verbindung stand…
Die junge Menschenfrau wollte sich anscheinend nicht mehr unterhalten und so blieb dem Esiew nichts anderes übrig, als schweigsam neben ihr herzugehen und sie sicher zu ihren Eltern zu begleiten.
Die Schreie wurden währenddessen lauter und wenig später verstand man auch schon die ersten Sätze.
„Ajanelle! Wo steckst du?!“
„Bitte, Ajanelle! Deine Mutter ist dem Tode nah vor Sorge um dich! Bitte sag doch was!“
„Ajanelle!“
„Wollt Ihr nicht etwas sagen?“, fragte der Esiew sanft.
„Ja… wäre wohl besser…“, murmelte die junge Ajanelle niedergeschlagen.
„Das wäre es wirklich“, versuchte sich der Esiew mit einem verschmitzten Lächeln und bemerkte freudig ihre zuckenden Mundwinkel.
„Ihr seid unmöglich!“, fuhr sie ihn streng an, konnte ihr Grinsen dann jedoch nicht mehr verbergen. „Tut mir nur einen Gefallen und redet mich nicht so höflich an. Da komme ich mir so merkwürdig vor. Als ob ich schon eine alte Schachtel wäre“, kichernd fuhr sie fort: „Ich heiße Ajanelle und das reicht. Ansonsten bleibt bitte beim Du.“
„Nun gut… Ajanelle. Das Gleiche gilt dann aber auch für mich“, zwinkerte der Esiew ihr zu.
„Mach ich!“, strahlte sie ihn nun wieder an. Holte dann tief Luft und schrie den Suchenden entgegen: „Hier bin ich Papa! Ich komme euch entgegen!“
Zusammen arbeitete sich der Esiew mit der jungen Ajanelle noch einige Zeit durch das dichte Unterholz des Waldes, bis schließlich mehrere Männer am vorderen Rand seines Sichtfeldes auftauchten.
„Ajanelle! Dem großen Licht sei Dank!“, rief ein stämmiger Mann mittleren Alters, während er seine letzten Schritte noch beschleunigte.
Das wird wohl ihr Vater sein.
„Ajanelle, geht es dir gut? Wo hast du…“, beim Anblick des Mannes neben seiner Tochter, verstummte ihr Vater und kam einige Zort vor ihnen zum Stehen.
„Wer seid Ihr?“, frage ihr Vater den Mann barsch und zeigte dabei mit seinem gezogenen Kurzschwert auf ihn. „Ajanelle komm her! Sofort!“
Der restliche Suchtrupp kam nun auch an und umringte Ajanelle und den Mann sofort in einem Halbkreis. Es waren insgesamt fünfzehn Männer im menschlichen Erwachsenenalter. Darunter auch drei ziemlich junge, welche wohl kaum älter waren als die junge Ajanelle selbst. Sie waren auch allesamt bewaffnet. Die meisten trugen Schwerter, zwei Männer waren mit Äxten und Schilden bewaffnet und Einer hielt sogar eine geladene Armbrust auf den Esiew gerichtet.
Für einfache Leute haben sie schon eine reiche Sammlung an Waffen, auch wenn die Qualität der Waffen arg zu wünschen übrig lässt…
„Wer seid Ihr?!“, riss Ajanelles Vater den Esiew aus seinen Gedanken.
„Papa, er hat mir geholfen, du brauchst nicht so vors…“
„Sei still, Ajanelle! Lass mich das machen und komme gefälligst an meine Seite!“, unterbrach ihr Vater Ajanelle, die der lauten Aufforderung lieber nachkam. „Also, ich frage zum letzten Mal! Wer seid Ihr?!“
Hmmm… es war wohl nicht ratsam ihn länger warten zu lassen.
„Herr, mein Name lautet Feinaar. Und ich hatte das Vergnügen Eure Tochter ein Stück des Weges begleiten zu dürfen. Ich bin lediglich ein einfacher Wanderer, der durch die Wälder Lamatas’ zieht“, stellte er sich vor.
„Feinaar? Was ist das für ein Name? Feinaar wer?“, wurde der Esiew von Ajanelles Vater angefahren.
„Ich heiße…“, setzte der Esiew an und murmelte vor sich hin, als er fieberhaft überlegte. „Feines Haar… zotteliges Haar… ah… ich heiße Feinaar Zottar, Herr…?“, ließ er seine Überlegungen in einer Frage ausklingen und hatte das Vergnügen Ajanelle kichern zu hören. Offensichtlich hatte sie sein Gemurmel wie beabsichtigt mitbekommen.
„Ich heiße Daton Traja“, stellte sich Ajanelles Vater vor, während er Ajanelles Kicheranfall missbilligend mit Blicken strafte. „Ich kann jedoch nicht umhin, es als seltsam zu erachten, dass ein Mann der vor Schlamm und Matsch trieft und ohne Gepäck oder Waffen reist, sich als einsamer Wanderer der Wälder vorstellt.“
Ah… das hatte er befürchtet. Ajanelles Vater war keinesfalls ein Dummkopf. Seine Ausrede musste also möglichst glaubwürdig klingen… In seinem momentanen Zustand keine leichte Aufgabe… Aber er hatte sich in den letzten Augenblicken bereits darauf vorbereitet. Ja, das hatte er.
„Herr Traja, ich möchte mich bei Ihnen für meine Unhöflichkeit entschuldigen. Wie Ihr sehr richtig festgestellt habt, bin ich keinesfalls ein einsamer Wanderer der Wälder. Auch wenn, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, mir dies sicherlich wesentlich lieber wäre.“
Mit einem tiefen Atemzug machte er eine kleine Pause und strich sich seine Haare hinter die ungewöhnlich geformten Ohren. Nahezu augenblicklich ging ein Raunen durch die Männer des Suchtrupps und der Esiew sprach lieber schnell weiter: „Ursprünglich bin ich ein einfacher Esiew aus Sheevon. Ich wollte nach langer Zeit mal wieder alte Freunde im Nordwesten von Findallien besuchen. Leider muss ich jedoch zugeben, dass es mir zu dem Zeitpunkt an Geld mangelte und ich mir eine Reise durch Zapeorire nicht leisten konnte. Daher zog ich mit einer Handelskarawane der Menschen los. Nun, um das Glück meiner Reise war es wahrlich nicht gut bestellt. Zunächst versagten uns die Zwerge unsere Durchreise durch Nendra, anscheinend hatte sich der Karawanenführer vor einiger Zeit einmal Ärger mit Zwergen eingehandelt. Worauf hin dann fast die Hälfte der Karawane zurück reiste, um sich einem anderen Führer anzuschließen. Bei dem großen Licht, ich wünschte ich hätte es auch getan. Aber ich bin geblieben. Da es für uns nun keinen anderen Weg mehr gab, zogen wir nun zur Grenze nach Wulvenien.“
„Bei den Namen der schwarzen Esiew’! Seid Ihr wahnsinnig gewesen?!“, wurde der Esiew von einem der älteren Männer des Suchtrupps unterbrochen.
„Triad, lass den Esiew zu Ende sprechen!“, fuhr Daton den Mann mit mahnender Mine an. Streitlust blitze kurz in den Augen des etwas älteren Mannes auf, er hielt sich jedoch wieder geschlossen.
„Tja, ich schätze ich muss mir in dieser Hinsicht meine Torheit eingestehen… Zu glauben sich mit einer Karawane durch Wulvenien schleichen zu können, ist sicherlich mehr als nur große Dummheit“, seufzte der Esiew mit erschöpfter Miene. „Die Handelskarawane war inzwischen stark geschrumpft. Wir zählten nur noch knapp fünfhundert Köpfe. Frauen mit ihren Kindern, alte Leute… alles einfache Menschen, die sich keine teuren Zapeorire leisten konnten und verzweifelt eine Möglichkeit suchten wieder nach Hause zu kommen. Es gab nur fünfzig bewaffnete Männer, die den Tross schützen sollten. Tja, wie Ihr es Euch bestimmt schon gedacht haben mögt, wir wurden überfallen. Irgendwelche Banditen, aber bestimmt Hunderte an der Zahl.“
„Diese verfluchten Satzu! Das dreckige Pack hat dafür gesorgt, dass die Reisen durch Wulvenien, egal wie nah an der Grenze gelegen, beinahe genauso teuer geworden sind, wie durch die Zapeorire, worauf die arroganten Zauberer und Fürsten ihre Steuersätze hoch halten“, mischte sich Triad erneut ein.
Satzu? Und grad hatte er noch etwas Anderes erwähnt... Von wem sprach dieser Mensch? Für den Moment war es wohl besser nicht zu fragen, dass würde nur weitere Aufmerksamkeit auf ihn ziehen.
„Mensch Triad, jetzt halt deine Schnauze! Ich will wissen, ob ich dem Esiew trauen kann!“, machte sich Daton wütend Luft und richtete seine Aufmerksamkeit anschließend wieder auf Feinaar. Die wütenden Blicke von Triad ignorierte er gepflegt.
Dann soll ich wohl weitermachen.
„Wer es war weiß ich nicht, jedenfalls überrannten sie den Geleitschutz der Karawane, als ob es ihn nie gegeben hätte und machten sich daran zu morden und zu vergewaltigen… Ich erspare Euch die Einzelheiten… Ich… ich bin mit einer kleinen Gruppe von Überlebenden vorerst entkommen. Aber nun ja… Ihr Menschen seid nun mal Menschen… Esiew’ sind in Waldgebieten wesentlich ausdauernder als Ihr Menschen. Anfangs versuchte ich so viele wie möglich am Leben zu halten, aber wir wurden verfolgt. Zwei Tage schafften wir es die Distanz zu unseren Verfolgern zu halten, doch schließlich konnten die Menschen nicht mehr und brachen zusammen. Es dauerte keinen halben Tag, da hatten uns die Mörder eingeholt und fielen über die nun völlig erschöpften letzten Überlebenden her und metzelten sie nieder. Mir blieb nichts anderes über, als von da an alleine zu fliehen.“
„Und wie seid Ihr dann bis nach Lamatas gelangt?“, verlangte Daton noch zu wissen.
„Tja, der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Ihr kennt die Geschichten um Wulvenien. Auch wenn es für uns Esiew’ nahezu unmöglich ist, sich zu verirren, so musste ich dennoch ständig auf der Hut sein nicht erneut entdeckt zu werden. Leider hatte ich damit wesentlich weniger Erfolg, als ich gehofft habe. Wenn ich Glück hatte, verging mal eine Woche ehe ich erneut von irgendwelchen Wegelagerern aufgegriffen wurde und wieder Tage damit verbrachte sie abzuhängen. Leider führte mich dies stets weiter ins Landesinnere von Wulvenien. Es vergingen viele Monate und ich weiß auch nicht mehr genau ab welchem Zeitpunkt, aber irgendwann verlor ich vor Erschöpfung schlicht weg die Orientierung und stolperte schon fast blind vorwärts in der Hoffnung jemals wieder freundlichen Boden unter den Füßen zu haben. Ich habe nicht einmal bemerkt, wie ich die Grenze nach Lamatas überschritten habe und als ich Eure Tochter Ajanelle traf, war ich einfach unglaublich froh, nach so langer Zeit der Einsamkeit, wieder auf ein gut gesinntes Wesen zu treffen.“ Bedeutungsvoll pausierte der Esiew noch für einen Moment und fügte dann seine letzten Sätze mit trauriger Stimme hinzu: „Ich glaube es sind schon drei Jahre vergangen, seit ich mich aufmachte. Wahrscheinlich werde ich von meinen Freunden und meiner Familie schon längst für tot gehalten. Die Monate… nein Jahre, die ich in Wulvenien verbrachte werde ich nie vergessen. Die Zeit wird mir wie ein ewiger Albtraum stets im Gedächtnis bleiben. Aber Ihr könnt mir glauben Herr Traja, zu keinem Zeitpunkt habe ich Eurer Tochter je etwas Schlechtes oder… wie sagt ihr Menschen doch gleich… Unschickliches antun wollen.“
Die Geschichte war als Ausrede genial. Es stimmte alles… seine Kleider waren ruiniert, ließen ihre großartige Qualität aber noch erkennen. Einfache Menschen wussten in der Regel auch nichts über die Besonderheit seiner Esiew’ohren. Sein Status würde daher im Verborgenden bleiben. Sie mussten ihm einfach glauben. Ja, dessen war er sich sicher.
Daton musterte ihn währenddessen mit finsterer Mine. Nickte aber schließlich und lockerte seine Haltung.
„Für den Anfang glaube ich Euch, Herr Zottar.“
Es hat geklappt! Ein Esiew der log… was hatte man bloß aus ihm gemacht...?Für den Moment war es egal…
„Ihr solltet stolz auf Euer Überleben dieser schrecklichen Jahre sein und zugleich möchte ich mich für mein Misstrauen entschuldigen. Nur werdet Ihr sicher verstehen, dass ich jeden Fremden der sich plötzlich in der Nähe meiner Tochter befindet, lieber einer genauen Prüfung unterziehe, ehe ich ihm mein Vertrauen schenke.“
„Selbstverständlich, Herr Traja.“
„Aber beim großen Licht höchst persönlich, du musst zäher als jedes verdammte Unkraut Remandors sein, damit du drei Jahre allein in Wulvenien überleben konntest!“, brüllte erneut der ältere Mann namens Triad, stapfte mit groben Schritten auf den Esiew zu und streckte ihm seine Hand entgegen. „Ich hoffe es macht dir nichts aus, wenn ich dich beim Vornamen anspreche, wir sind hier im Dorf alle beim Du. Ich bin Triad Jäger und wie mein Name tatsächlich sogar schon sagt, einer der Jäger des Dorfes. Freut mich einen Überlebenskünstler wie dich, ach was rede ich, einen Helden der Wulvenien überlebt hat, kennen zu lernen!“
Feinaar brauchte einen Augenblick den plötzlichen Redeschwall zu verarbeiten, nahm dann jedoch die angebotene Hand entgegen.
„Keine Sorge, wir Esiew’ halten von Titeln nicht viel und es freut mich gleichermaßen dich kennen zu lernen, Triad.“
Das zauberte ein Grinsen auf das Gesicht des älteren Mannes, was ihn gleich dazu bewog den Esiew an seine Brust zu ziehen ihm auf den Rücken zu klopfen und mit lauter Stimme fortzufahren: „Na, dann herzlich willkommen in Grenzwald! Wir sollten jetzt besser mal zusehen, dass wir zurückkommen. Du wirst auch neue Kleidung brauchen, in den nassen Fetzen würde bei dem Wetter ja selbst ein Ochse erkranken. Aber das wird bestimmt schon Daton übernehmen.“ Damit wandte Triad sich auch schon ab. „Dann lasst uns jetzt mal von hier verschwinden. Wir haben lange genug nichts für unser Essen getan. Abmarsch Männer!“
Und so ließ Triad, Feinaar ziemlich verdutzt stehen und marschierte scheinbar in Richtung Dorf davon. Tatsächlich folgte ihm auch der Trupp, für sie schien die Sache mit dem Esiew erledigt zu sein. Auch wenn vor allem die drei jungen Männer dem Neuankömmling noch ein paar neugierige Blicke zuwarfen.
Daton Traja war mit Ajanalle noch stehen geblieben und wandte sich nachdem Triad außer Hörweite war an Feinaar: „Ihr müsst Ihm sein Verhalten nachsehen. Im Großen und Ganzen ist er ein guter Mensch, nur ein bisschen hitzköpfig und… na ja, sagen wir mal einfach gestrickt. Das er gerne das Dorf herumkommandiert, obwohl ich der Dorfsprecher bin, macht unser Verhältnis nicht immer einfach.“
„Ihr braucht Euch nicht an seiner Statt bei mir entschuldigen und nennt mich bitte auch Feinaar. Von Titeln halte ich nun wirklich nicht viel und in meinem jetzigen Zustand komme ich mir eher elendig als nobel vor.“
„Nun denn, Feinaar, kommt erst mal mit uns ins Dorf. Zumindest trockene Kleidung sollten wir für dich auftreiben können“, winkte Daton den Esiew an seine Seite, als er sich auch schon in Bewegung setzte.
„Papa, ich muss dir jetzt aber wirklich etwas Wichtiges erzählen!“, begann Ajanelle, bis Daton ihr auch schon dazwischen fuhr, „Feinaar hat mich…“
„Du hast erst mal gar nichts Wichtiges zu erzählen Ajanelle! Was fällt dir überhaupt ein, einfach wegzulaufen? Bei den Namen der schwarzen Esiew’, du weißt welche gefährlichen Monster so nah an der Grenze durch die Wälder irren! Deine Mutter und ich haben Todesängste um dich ausgestanden!“, machte sich Daton wütend Luft.
Da war sie schon wieder... Diese äußerst seltsame Redensart der Menschen. Er hatte noch nie davon gehört…
„Aber Papa, ich…“
„Schluss jetzt, du kannst froh sein, wenn dich deine Mutter nicht zu Tode schuften lässt, als Strafe für dein ungehöriges Verhalten! Ich will vorläufig kein Wort mehr von dir hören Mädchen!“
Die Menschen…
Vorläufig blieb dem Esiew nichts anderes übrig, als dem jungen Menschending und ihrem Vater zu folgen. Ohne neue Kleidung wollte er nur ungern weiter. Auch wenn ihm insgeheim die Angst noch immer im Nacken saß.
Nein! Hier würde ihm nichts mehr passieren. Er war in Sicherheit… oder?
Ohne wirklich zu einem Schluss zu kommen, ging er letzten Endes weiter den beiden Menschen hinterher. Es gab viele Zufälle im Leben, aber die Wenigsten hatten keine Bedeutung. Auch wenn es die Esiew’ nicht allgemein taten, seine Familie hatte seit je her an diese Wahrheit geglaubt.
Oh Großes Licht, du hast für diesen Zufall gesorgt, nicht wahr? Und er war in Sicherheit, oder…? Oder…?
Er fing schon wieder damit an. Er musste damit aufhören!
Zumindest…
vorerst…