~ Prolog ~
"Was ist nur aus dir geworden?" Sein Atem war flach und von Schmerzen gepeinigt, konnte er seine Augen nur noch zur Hälfte offen halten. Doch selbst diese Kräfte verließen ihn nach und nach, bis er flatternd die Lider schloss und ein letztes Mal ausatmete. Seine Lippen waren noch von einem stummen Schluchzer verzerrt und frisches Blut bahnte sich einen Weg über das bereits getrocknete, rann von seinem Mundwinkel über sein Kinn, am Hals hinab und hinunter auf den Boden, wo es in einer kleinen Lache mündete. Die Hand, die mich zuvor noch eisern am Handgelenk gepackt hatte, löste sich nun langsam und fiel mit einem dumpfen Klang auf den Betonboden. Es war kalt, plötzlich so eiskalt.
"Wenn ich dir das nur sagen könnte..." Ich lächelte traurig und strich mit dem Zeigefinger sanft über seine Hand. "Wüsste ich es doch nur selbst...", flüsterte ich und starrte mit leerem Blick auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne.
Ich wusste nicht, wie lange ich auf seine reglose Hand gestarrt hatte, aber irgendwann verschwamm meine Sicht und eine heiße Träne rollte über meine Wange. Als müsste ich diese Regung vor irgendjemandem verbergen, fuhr ich mir augenblicklich mit der Handfläche über das Gesicht und verwischte die Spur, die die Träne hinterlassen hatte. "Verzeih mir... Könntest du mich doch nur verstehen...", flüsterte ich leise und sah in das schon fast friedlich wirkende Gesicht meines Stiefbruders. Ignorierte man die Tatsache, dass Blut aus seinem Mund tropfte und ein kleines Messer aus seinem Brustkorb ragte, könnte man wirklich meinen, er würde schlafen. Vielleicht war das aber auch nur ein kläglicher Versuch, mich vor der Wahrheit zu drücken. Jason war tot und nichts würde ihn mehr zurückbringen. Er war einen Tod gestorben, den er nicht verdient hatte und noch dazu war dieser viel zu früh gekommen. Ihm war ein glückliches Leben vorgesehen gewesen, in dem er seine Träume verwirklichen und eine Familie hätte gründen sollen. Und ich war Schuld daran, dass er dieses Leben nicht leben konnte, genauso wie ich es bei all den anderen war. Denn die Wahrheit war, ich hatte sie alle umgebracht und nun hatte ich niemanden mehr, der mir je nahe gestanden hatte. Sie waren alle tot und ich war alleine. Ich schluckte eine weitere Träne hinunter und sah auf Jason hinab.
Noch immer konnte ich seinen vorwurfsvollen und zugleich enttäuschten Blick vor meinem inneren Auge sehen. Das war es nun also, wie ich von einem der letzten, mir gebliebenen Menschen Abschied nehmen musste. Nie war der richtige Moment gewesen, ihm zu erklären in welcher Lage ich mich befand und warum ich die letzten Jahre wie vom Erdboden verschluckt gewesen war. Aber vielleicht war es auch besser so. Wenn er mich in den letzten Sekunden seines Lebens gehasst hat, dann war es womöglich einfacher loszulassen. Denn auf eine gewisse Weise war ich verantwortlich, das konnte ich nicht leugnen.
Ein trauriges Lächeln umspielte meine Lippen und ich beugte mich für einen kurzen Moment über ihn, gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn und erhob mich.
Bereits wenige Sekunden später glätteten sich meine Gesichtszüge wieder und die eiskalte Maske verbarg von neuem jegliche Emotionen.
Nun war nicht die Zeit um zurückzuschauen, viel zu viel lag vor mir und ich konnte mir keine Fehler mehr erlauben. Sie hatten mir alles genommen, aber wenn sie dachten, dass sie mich damit besiegt hätten, dann hatten sie sich gründlich getäuscht. Sie alle waren nicht ohne Grund gestorben und wenn es einen Vorteil hatte, dann der, dass ich nun keinen Schwachpunkt mehr hatte. Sollten sie es ruhig versuchen, mich würden sie nicht wieder unterkriegen.
Die Pistole, die ich bis zu diesem Augenblicklich noch in meiner Hand gehalten hatte, steckte ich mit einer geübten Handbewegung zurück in die Halterung an meiner Hüfte und ließ sie dann hinter meiner schwarzen Lederjacke verschwinden. Schnellen Schrittes näherte ich mich einer der großen Laderampen, zog mich kurzerhand daran nach oben und schlüpfte durch eine Öffnung in die dunkle Nacht. Nichts lieber wollte ich, als von der verlassenen Lagerhalle zu verschwinden und die heutigen Geschehnisse hinter mir zu lassen.
Und eines war mir nun mehr als deutlich bewusst. Sie werden meine Geschichte nicht bei dem nächsten unschuldigen Mädchen wiederholen. Denn dazu würden sie gar nicht mehr kommen, wenn ich mit ihnen fertig war.