Am nächsten Morgen tat mir alles weh und beinahe, aber nur beinahe, hätte ich bereut, dass wir draußen übernachtet hatten, aber ich habe mir fest vorgenommen, nichts zu bereuen.
Ich stand auf und schlenderte in den alten Bus, um Tee zu kochen.
Ich weiß, eigentlich würden Kaffee an dieser Stelle cooler tönen, aber ich haben nun eben einmal Tee und nicht Kaffee gekocht.
Als die anderen schließlich auch wach wurden und wir eine Runde Fußball am Strand gespielt hatte, Anna und ich gegen Aria und Liv, die natürlich hochaus gewannen, fuhren wir weiter.
Ich übernahm gleich den ersten Teil der Strecken, da ich mich nur etwas schlapp fühlte und meine Bauchschmerzen nicht mehr zurückgekommen waren. Anfangs schienen die anderen unsicher, aber wir einigten uns schließlich darauf, dass ich eine halbe Stunde fahren würde. Schließlich ging es mir ja wieder gut und man musste auch nicht gleich wegen einer einmaligen Sachen den Teufel an die Wand malen.
Diesen Mal saß Liv neben mir. „Ich finde wir sollten den Wagen Innen bemalen, oder ihn zumindest mit Zeichnungen behängen, damit er auch von innen schön aussieht.“ Meinte sie.
Ich nickte begeistert, hielt den Blick aber auf die Straße gerichtet. „Wir könnten unsere ganzen Erlebnisse auf einem langen Band, rund um den Wagen malen.“ Schlug ich vor und Liv war sofort hingerissen von der Idee.
Gesagt. Getan. Ich bog von der Hauptstraße ab, als der nächste größere Ort auftauchte und wir fuhren zum nächsten Baumarkt.
„Hat jemand Kleingeld?“ fragte Anna als sie ratlos vor der Parkuhr stand.
„Wir brauchen Zloty. Hat das jemand?“
„Ich glaube etwas liegt noch in dem Majonäse Glas, das zwischen den beiden Autositzen steht. Ich habe das Kleingeld von unserem letzten Einkauf dort hineingelegt.“ Liv griff sich das Glas und warf es Anna zu. Diese fing es auf und warf wahllos irgendwelche Münzen in dem Automaten.
„Okay ich glaube das sollte reichen.“
Wir beeilten uns, unser Geld zu nehmen und zum Eingang des Baumarkts zu kommen.
„Ich will in den Wagen sitzen.“ Rief Aria, noch bevor sie die Schwingtür überhaupt erreicht hatte.
„Ich auch!“ schrie ich und beeilte mich hinter Aria herzukommen.
Wir stürmten zu den großen Einkaufswagen und quetschten uns zu zweit hinein. Dabei verhedderten wir uns ineinander und hingen als hilfloses Knäuel in dem Wagen. Liv und Anna kamen lachend herein, aber anstatt uns sofort zu helfen, machte Anna zuerst einmal ein Foto von uns.
Schließlich schafften wir es uns zu befreien und nebeneinander hinzusetzen. Dann fuhren wir durch die langen Gänge und suchten nach weißer Tapete und irgendetwas, womit man die Tapete an die Wände kleistern konnte.
„Irgendwie ist hier alles ziemlich billig, oder?“ wollte Anna wissen.
„Ja, ich glaube, du musst durch 4 teilen, um den Preis in Franken zu erhalten.“ Antwortete ich.
„Wir haben aber nur Euro.“ Warf Anna ein.
„Ach Anna, du bist so dumm!“ Lachte ich und schlug mir die flache Hand gegen die Stirn. „Dann machst du halt durch 4 um auf Euro zu kommen. Das macht doch keinen Unterschied.“
„Stimmt du hast recht.“ Wir scherzten weiter und überlegten uns, ob wir vielleicht auch einfach einen weißen Streifen malen könnten und dann unsere Erlebnisse auf den Streifen malen.
„Hei Leute, hat sich nicht neulich jemand darüber beschwert, dass wir kein großes Becken haben, in das wir Wasser füllen können? Hier gibt es sowas.“ Kam Livs Stimme aus dem Gang nebenan.
„Doch das war ich“ gab Anna zurück und schob mich und Aria ächzend in die Richtung, aus der Livs Stimme gekommen war.
„Leute, das geht so einfach nicht. Ihr seid einfach zu schwer.“ Beschwerte sie sich gleich darauf. Wir beide im Einkaufswagen lachten.
„Irgendwie, kann das nicht sein. Wie bitteschön, sollten ein Strich in der Landschaft und ein Lauch zusammen schwer sein?“ Anna schüttelte den Kopf und ließ uns schließlich einfach mitten im Gang stehen.
„Anna?! Was ist das den jetzt für eine miese Aktion?“ Wollte Aria wissen.
Aber Anna antwortete nicht. Kurz darauf hörten wir sie auf Englisch irgendeinen Angestellten anquatschen, damit er ihr helfen konnte weiße Tapete und alles andere was wir brauchten, um den Wagen zu bemalen, zu finden. Aria und ich waren mittlerweile aus dem Wagen geklettert und versteckten uns hinter einem der Regale, um uns vor den anderen zu verstecken. Als wir so durch die riesige Halle stürmten, sahen wir plötzlich in einem abgelegenen Gang einen riesigen Drachen. Er war natürlich nicht echt, sondern aus Plastik, aber er sah super aus. Es war eine dieser riesigen aufblasbaren Figuren, auf denen all die reichen Tussen immer für ihre Insta-Bilder posierten, nur dass der hier ungefähr doppelt so groß war, wie all die Gummitiere, die ich bisher gesehen hatte.
Er war grün und hatte lauter pinke Tupfen. Seine Flügel waren weit ausgebreitet und sein Schwanz ringelte sich lustig hinter ihm.
„Den will ich haben.“ Rief ich begeistert und stürmte zu dem Plastikungetüm.
„Dein Ernst? Wie willst du den denn transportieren?“ Aria wirkte nicht sonderlich überzeugt.
„Keine Ahnung. Wir könnten ihn aufs Dach binden oder so. Das würde doch bestimmt funktionieren, oder?“ Ich grinste. Egal was es kostete, ich wollte diesen Drachen.
„Na gut, wenn du meinst. Ich muss zugeben, er ist echt cool.“
„Na eben, dann lass uns ihn doch einfach mitnehmen.“
Also griffen Aria und ich uns den Drachen und trugen ihn gemeinsam zur Kasse. Anna und Liv warteten bereits auf uns. Wie wir sahen, hatten auch die anderen noch einiges mehr, als nur das was wir eigentlich brauchten, eingekauft.
Unser Einkaufswagen quoll über vor lauter Kissen, Farben, Pinseln, Papier und weiterem Krimskrams. Als die beiden uns sahen, blieb ihnen der Mund offen stehen. „Emma und Aria, wo in aller Welt soll so ein riesen Teil denn nur Platz haben?“ Das war wieder einmal typisch Anna. Sie und Liv waren schon immer die vernünftigere Hälfte unseres Quartetts gewesen.
„Nun, wir dachten, wir binden ihn einfach aufs Dach. Das sollte eigentlich kein allzu großes Problem sein und die Seile haben wir auch schon mitgebracht.“ Ich grinste schelmisch.
Nach einer hitzigen Diskussion konnten Aria und ich uns schließlich durchsetzen und wir kauften den Drachen.
Der gesamte Einkauf war teurer geworden als erwartet, aber immer noch billig. Draußen auf dem Parkplatz begannen wir den Drachen auf dem Dach festzuschnallen und die Einkäufe im Wagen zu verstauen. Wir hatte in dem Geschäft komplett die Zeit vergessen und wenn wir noch weiterfahren und einen Platz zum Übernachten finden wollte, dann mussten wir jetzt weiter fahren. Aria fuhr und Liv saß neben ihr, währendem Anna und ich uns den kläglichen Rest unseres Essens anschauten. Sobald wir in Danzig waren, mussten wir definitiv einen Großeinkauf machen.
Als wir schließlich endlich in Danzig ankamen, waren wir vier ziemlich durch. Dennoch wollte Liv und ich gleich die Stadt erkundigen, aber Aria und Anna blieben wie zwei tote Fische liegen. Plötzlich hob Aria den Kopf und schaute uns begeistert an.
„Leute, wie wäre es, wenn wir uns irgendein teures Hotel mit Sauna, Frühstücksbuffet und allem Drum und Dran aussuchen würden, und dort dann eine Nacht übernachten würden.“ Wir waren alle anfangs etwas unsicher und besonders Liv zögerte, aber wir hatten uns relativ schnell geeinigt.
„Schließlich ist es nirgends so günstig wie hier.“ Versuchte ich unser schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Wir gingen in die Nähe des Flusses Motlawa, der durch Danzig floss.
Unser Auto stellten wir einige Querstraßen von dem Hotel, für das wir uns entschieden hatten ab. Wir ließen unser Gepäck vorerst im Auto und nahmen nur das Nötigste, also unsere Rucksäcke mit Geld und Wertgegenständen, mit.
„Cześć“ begrüßte uns die Dame hinter dem Empfangstresen und blickte uns mit hochgezogenen Augenbrauen an. Aria übernahm das Sprechen und fragte nach einem freien Zimmer für vier Personen. „Tut mir leid, wir haben nur noch zwei Zweierzimmer, die ich ihnen anbieten könnte, oder aber eine Suite für vier Personen.“ Sagte die Frau mit ihrem ostländischen Akzent. „Ihr nehmt dann wohl die beiden Zweierzimmer?“ obwohl sie am Ende des Satzes mit der Stimme nach oben gegangen war, klang es mehr wie eine Feststellung, als wie eine Frage.Aria drehte sich zu uns um und ich sah das Funkeln in ihren Augen. Was sie gerade vor hatte, war ganz und gar nicht vernünftig, aber ich konnte nicht anders, als zurück zu grinsen.
„Wir nehmen die Suite.“ Meinte sie nur und drehte sich dann zum Fahrstuhl um. Wir anderen folgten ihr. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich den irritierten Blick der Empfangsdame sah und stieg dann hinter den anderen in den Lift.
Lachend warfen wir uns auf die Betten und freuten uns tierisch über den Gesichtsausdruck der Frau, als Aria ihr gesagt hatte, dass wir die Suite nehmen würden.
Von unserem Zimmer aus, gab es große, bodentiefe Fenster mit Blick direkt auf den Fluss. Es gab zwei große Doppelbetten und ein geräumiges Bad. Das einzige, das fehlte, war der Balkon, aber die Lage des Hotels, machte das wieder wett.
Als Annas Blich auf das Telefon fiel, schien ihr etwas einzufallen.
„Hast du deine Eltern eigentlich noch angerufen, bevor wir losgefahren sind, Emma?“ Ich schlug mir eine Hand vor den Mund. „Verdammt! Das habe ich komplett vergessen.“
Ich vergaß ständig meinen Eltern Bescheid zu geben, wenn ich verreiste oder mich verspätete. Das hatte schon, als ich dreizehn war, zu heftigen Diskussionen zwischen mir und meiner Mutter geführt.
„Ruf sie doch einfach jetzt an.“ Meinte Liv und deutete auf den Telefonapparat. „Günstiger als von hier aus, kannst du bestimmt nicht ins Ausland telefonieren. Das schien heute wohl jeden teuren Spaß zu rechtfertigen, aber sie hatte ja Recht.
Ich nickte. Wenn meine Mutter jetzt abnahm, dann bekam ich ein echtes Problem.
Schnell wählte ich die Nummer von zuhause und hielt mir dem Hörer ans Ohr. Es klingelte – aber niemand nahm ab.
Ich zuckte mit den Schultern und stellte das Gerät zurück auf die Ladestation. Ich hatte sie zurückgerufen. Mehr konnte ich auch nicht tun.
Ich ließ mich zurück auf mein Bett sinken und schaute zu den anderen.
„Eine heiße Dusche und dann die Stadt erkunden?“
„Klingt gut.“ Anna nickte. „Ich will aber als erste duschen. Ich stinke unglaublich.“ „Dann dusche ich als zweite.“ Rief Aria, ehe ich etwas erwidern konnte.
„Ist das okay für dich, wenn ich als nächstes dusche?“ fragte ich Liv.
„Sonst bin ich noch am Haare kämmen und ihr seid schon über alle Berge.“ Liv lachte: „Ja klar. Kommst du schnell mit und hilfst mir frische Kleider aus dem Auto zu holen?“
Liv und ich beeilten uns, kurze Hosen, T-Shirts und Unterwäsche, sowie Bürsten und alles andere was wir brauchten nach oben in unser Hotelzimmer zu bringen.
Dort saß Anna bereits, die Haare in ein Tuch gewickelt, im Schneidersitz auf dem Bett und wartete auf uns. Sie schnappte sich sofort eine kurze Hose und ein rot-weiß gesteiftes Trägertop aus dem Haufen Klamotten und begann sich die Haare zu kämmen. Ich klopfte an die Tür des Badezimmers.
„Aria? Bist do bald fertig?“
„Ja. Bin gleich so weit.“ Kam es von hinter der Tür.
Einen Moment später öffnete sie die Tür und wäre beinahe in mich hineingerannt. „Ups. Sorry“ sie lachte. Ich konnte nicht antworten.
Sie hatte ein Handtuch um ihren Körper geschlungen und starrte mich mit gerunzelter Stirn an. Aber das alles war es nicht, was mich innehalten ließ. Es waren ihre Haare. Die Art, wie ihr die nassen Strähnen auf Wangen und Schultern klebte. Sie erinnerten mich so sehr an etwas, an das ich mich einfach nicht erinnern konnte. „Emma? Geht es dir gut?“
Ich nickte, auch wenn ich sie gar nicht richtig gehört hatte und in Ordnung war auch nicht alles mit mir. Mein Bauch tat wieder weh und mir war schwindlig. Ich machte einen Schritt beiseite, sodass Aria an mir vorbeikonnte und schloss, kaum dass sie draußen war, die Tür hintern mir.
Ich setzte mich auf die Toilette und stützte den Kopf in die Hände. Was war bloß los mit mir? Eine einzelne Träne ran mir über die Wange. Ich wischte sie trotzig beiseite. Ich wollte nicht weinen und ich wollte nicht schwach sein.
Schließlich stand ich auf und schaute in den Spiegel. Mein Spiegelbild wirkte blass und hatte tiefe Ringe unter den Augen. Hatte ich in letzter Zeit wirklich so wenig geschlafen?
Ein taubes Gefühl breitete sich in mir aus, aber als sich neue Tränen in meinen Augen ansammelten, begann ich zu schreien.
Ich schrie all meine Wut und all meinen Frust heraus und als das nicht mehr reichte, schlug ich auf den Spiegel.
Meine Faust schmerzte als ich das Glas traf, aber es blieb ganz. Ich wollte, dass der Spiegel zerbrach, bevor ich es tat und so schlug ich wieder und wieder auf das Glas ein, bis es zersplitterte und die Scherben mit in die Hand schnitten.
Ich hatte nicht gehört, dass meine Freundinnen an der Tür geklopft hatten und mich gerufen hatten, wie ich später erfuhr.
Ich hörte erst auf, als das mein Blut vom Rand des Waschbeckens auf meine nackten Zehen tropfte. Ich schaute überrascht nach unten und sah meinen Bauch. Naja, also ich sah natürlich auch meine Zehen, aber für die interessierte ich mich plötzlich nicht mehr, denn die Tatsachen, dass mein Bauch aussah, als ob ich schwanger wäre, schockte mich zu sehr.
Und dann fiel es mi wie Schuppen von den Augen.
Die Bauchschmerzen, die Übelkeit und der dicke Bauch.
Das also war in der Nacht geschehen, an die ich mich nicht erinnern konnte. Dann hatte Aria also recht gehabt, damals, in ihrer Geschichte. Ich war tatsächlich schwanger geworden, ohne dass ich mich auch nur ansatzweise daran erinnern konnte.
Nach einer ausgiebigen, heißen Dusche verließ ich schließlich das Bad, meine verwundete Hand in ein Badetuch gewickelt. Die anderen sahen mich mit einer Mischung aus Befremdung und Besorgnis an, aber ich tat so, als ob ich es nicht bemerkt hätte.
Aria hatte den Kopf auf Annas Beine gelegt und Liv jonglierte mit einem Ball, den sie mit nach oben genommen hatte. Sie versuchten alle so zu tun, als ob nichts wäre, aber die Anspannung, die in der Luft lag, war sichtlich spürbar. Ich griff mir die übriggebliebenen Hotpants und nahm ein weites, grünes T-Shirt, das meinen Bauch hoffentlich verdecken würde.
Liv war im Bad verschwunden und rief gleich darauf: “Emma?! Was zum Teufel ist mit dem Badezimmer passiert und wieso ist alles voller Blut?“
„Äh…“ ich stottert. „Ich… Mir ist auf einmal so schwindlig geworden und als ich versuchte mich aufzufangen, war dort dieser Spiegel…“
Wir wussten alle vier dass ich log, aber niemand sagte etwas.