Wir saßen zu viert in unserer kleinen Kabine und jassten. Die Restaurants hatten bereits geschlossen und draußen vor dem Bullauge herrschte schwarze Nacht.
Nachdem wir uns heute Morgen die Bäuche mit Rührei, Toast, Früchten und Muffins vollgeschlagen hatten, waren wir mit einem Boot auf die Halbinsel Hel gefahren und hatten uns die Robbenstation angeschaut.
Als wir zurück waren, reichte die Zeit gerade noch, um eine letzte Runde durch Danzigs Altstadt zu drehen, wobei wir einen großen Bogen um unser Hotel machten, bevor wir unseren Bus packten und uns auf den Weg zur Fähre machten.
Seitdem wir den riesigen Gummidrachen auf unserem Dach festgebunden hatten, war es ziemlich eng, denn nachts mussten wir ja immer noch das Zelt mit den beiden übrigen Schlafplätzen aufstellen. Auch beim Einfahren in die Fähre hatte der Drache einige Schwierigkeiten gemacht. Mit ihm auf unserem Dach waren wir zu hoch für die Fähre und da er voll aufgeblasen nicht durch die Türen unseres Buses passte, waren wir gezwungen, einen Teil der Luft herauszulassen, und das, obwohl wir vergessen hatten eine Pumpe zu kaufen.
Das hieß, dass wir ihn später von Hand aufblasen mussten.
Als wir uns später in eines der beiden Restaurants setzen wollten, wurden wir weggeschickt, weil das hier bloss ein Restaurant für Lastwagenfahrer wäre. Wir setzten uns also in das andere Restaurant, das auf schick machte, aber irgendwie trotzdem ziemlich schmuddelig war. Die roten Kunstlederbänke waren abgewetzt und auch die Kronleuchter, die von der Decke hingen, wirkten weder neu, noch antik, sondern von allem billig.
Wir bestellten uns jeder einen Salat und eine Portion Pommes Frites, weil das irgendwie das einzig vernünftige war, dass die Speisekarte hergab.
Während dem Essen plapperten wir munter durcheinander und diskutierten angeregt über das Halten von Tieren in einem Zoo. Irgendwie hatte uns wohl der Besuch bei den Robben darauf gebracht.
„Irgendwie finde ich es ja toll, dass man die Tiere anschauen kann und es schafft ja auch Arbeitsplätze, aber die Tiere tun mit halt leid.“ Sagte ich und schob mit eine Gabel Salat in den Mund.
„Dass dir die Tiere leidtun, war ja klar.“ Aria verdrehte die Augen.
„Mir tun sie auch leid.“ Warf Anna ein.
„Und trotzdem schaut du sie dir an. Die Menschheit ist schon tief gesunken.“ Ich schüttelte theatralisch den Kopf.
„Ja du schaut sie dir ja auch an. Bit also nicht besser.“ Liv schaute mich tadelnd an.
„Jaja ich weiss. Traurig ist es trotzdem.
Aria nickte zustimmend.
Als wir mit dem Essen fertig waren, hatten wir einen kleinen Abstecher an Deck gemacht und uns danach relativ schnell in unsere Kabine verzogen, wo wir begonnen hatten zu jassen.
„Wenn du mich jetzt triffst,“ lächelte ich, „machen wir einen Match.“ Anna mir gegenüber verzog gequält das Gesicht und legte dann eine ihrer Karten auf die Bettdecke.
Ohne zu warten bis ich an der Reihe war, legte ich alle meine verbliebenen Karten neben Annas und grinste. Aria und Liv warfen ihre Karten stöhnend dazu.
„Tut mir leid Mädels, aber im Coiffeur sind Anna und ich einfach unschlagbar.“
Aria stöhnte auf. „Und natürlich musst du uns das wieder unter die Nase reiben.“
Ich grinste.
Jetzt war es aber besser das Thema zu wechseln und Ara nicht noch weiter zu reizen, denn ansonsten konnte ich nicht ausschliessen, dass die Situation eskalierte.
„Jassen wir noch eine Runde?“
Liv nickte.
„Aber nur noch eine.“ Anna gähnte.
„Wie spät ist es denn?“ Aria schaute fragend zu Liv.
„Halb zwei.“ Meinte diese.
„Seht ihr, wir haben also noch mehr als genug Zeit.“ Ich mischte die Karten und teilte neu aus.
Aus der einen Runde wurden schlussendlich dann doch drei und aus halb zwei wurde halb drei, bis wir endlich das Licht löschten und einschliefen.
Die Fähre kam am nächsten Morgen in Nynäshamn an und von dort aus waren es nur noch ca. eine Dreiviertelstunde bis nach Stockholm.
Die anderen wollten gleich heute noch die Stadt erkunden, aber ich war zu müde und blieb im Wohnmobil. Die erste Zeit in der ich alleine war, versuchte ich mich an mehr Sachen zu erinnern, aber als das misslang, schnappte ich mir „Weit weg und ganz nah“ und begann zu lesen.
Ich weiss nicht, wie oft ich dieses Buch schon gelesen habe, sicher nicht ganz so oft wie „ich kam mit dem Wüstenwind“, aber oft genug.
Am späten Nachmittag kamen die anderen von ihrem Ausflug zurück. Sie hatten das Schloss des Königs besucht und Pizza mitgebracht.
Das war sicher nicht das typischste Essen, aber es schmeckte erstaunlich lecker und ausserdem hatte niemand von uns Lust gehabt, an diesem Abend noch zu kochen. Denn auch weil ich es in meinen Erzählungen nie erwähne, hatten wir zwischendurch immer mal wieder etwas von unseren Einkäufen in Danzig gegessen und wir waren uns sicher, dass es in der Nähe des Sees bei dem unser Pfeil stecken geblieben war, keinen Supermarkt oder etwas Ähnliches gab. Deshalb wollten wir nichts mehr kochen weil wir natürlich auch zu faul gewesen wären um nochmals einkaufen zu gehen.
„Wir haben dir Pizza mit Schinken mitgebrach, aber es hat auch noch einen Rest Margherita.“ Sagte Aria, als sie durch die Tür trat und hielt mir eine Schachtel entgegen.
„Ich nehme lieber die Margherita.“ Antwortete ich und nahm Ara die entsprechende Schachtel ab.
„Okaaay, du isst doch eigentlich immer mit Schinken, oder?“
Ich verzog das Gesicht und begann zu essen.
„Vielleicht tun ihr jetzt sogar die Tiere des Schinkens so leid, dass sie sie nicht mehr isst.“ Scherzte Liv.
Ich hatte irgendwann aufgehört Cervelats und Bratwürste, aber nur die, zu essen, weil mir die Tiere so leidtaten.
Nach zwei Stücken Pizza legte ich die Schachtel zur Seite und stand auf.
„Hast du keinen Hunger mehr? Du hast doch fast nichts gegessen.“
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Machen wir heute noch irgendetwas? Wollen wir noch mit dem Malen anfangen, oder machen wir das am Digertjärnensee?“ Anna zuckte mit den Schultern. „Es ist irgendwie zu früh, um den Tag schon zu beenden. Fühlst du dich eigentlich besser Emma?“ „Ja klar, ich glaube die lange Reise zehrt einfach an meinen Nerven, aber jetzt gerade ist alles okay. Und die Bauchschmerzen kommen sicher auch nur vom Stress.“ „Also wenn wir die nächsten sechs Stunden nicht nur mit jassen verbringen wollen, dann müssen wir wohl oder übel unseren Arsch aus diesem Wohnwagen bewegen und schauen was wir machen wollen“ Aria fenzte sich auf einem der Betten hin und her. „Okay, dann lasst uns doch einfach losziehen. In einer Stadt wie Stockholm ist sicher immer irgendetwas los.“ Anna nickte zustimmend. „Wie wäre es, wenn wir endlich das Feiern, das wir in Berlin verpasst haben nachholen?“ Sie grinste um die Runde. Wenn es um Jungs ging, dann war sie wie verwandelt und ausserdem wie ein Raubtier auf Beutezug. „Also dann los.“ Aria war etwas zurückhaltender, aber dafür für so ziemlich jeden Scheiss zu haben. Liv war in allem etwas zurückhaltender und wir waren uns alle einig, dass ich wohl die grösste Draufgängerin war. Ich war so erpicht darauf etwas anzustellen wie Aria und genau wie Anna immer für eine Knutscherei zu haben. Wir waren uns aber auch alle vier einig, dass das nicht unbedingt positiv war und dass ich sowohl diejenige von uns war, die schwanger werden könnte ohne den Vater zu kennen, als auch diejenige, die wohl eines Tages von einem Krankenwagen eingesammelt wergen musst, weil sie von einem Dach gestürzt war, obwohl ich natürlich behauptete, dass mir so etwas niemals passieren würde. Wir machten uns fertig und eine Stunde später erreichten wir das moderne Zentrum von Stockholm.Wir lachten und scherzten, als wir durch die Straßen zogen und als wir den ersten Club, der mehr oder weniger okay aussah, entdeckten, steuerten wir darauf zu. Mittlerweile war es ca. halb acht und in der Stadt war es noch hell, aber trotzdem stand ein bulliger Typ vor dem Eingang des Clubs und versperrte uns den Weg.
„Wie alt seid ihr?“ Wollte er wissen, aber er hatte einen solch starken Akzent, dass ich kaum etwas verstand und das bisschen was ich verstand war eine Meisterleistung, da mir meine Norwegischkentnisse in Schweden ohnehin nicht besonders viel brachten.
„Wir sind alle vier achtzehn.“ Sagte ich nachdem ich die Wortfetzen verarbeitet und mir mein Hirn eine mögliche Lösung ausgespuckt hatte.
Er nickte. Offenbar war er mir der Antwort zufrieden.
Ich machte einen Schritt nach vorne um endlich hinein zu können, aber sein muskulöser Arm stoppte mich.
„Habt ihr irgendwelchen Stoff bei euch?“ Dieses Mal redete er englisch, da er wohl begriffen hatte, dass ich ihn nicht richtig verstanden hatte.
Ich schüttelte den Kopf und nahm an, dass die anderen es mir gleichtaten, denn der Türsteher nickte zufrieden und liess uns durch.
Glücklich darüber es doch noch geschafft zu haben gingen wir durch die Tür hinter ihm und dann einige Stufen hinunter, bevor eine weitere Tür kam.
Anna stiess sie auf und wir standen im Club. Auf der Tanzfläche war bereits einiges los und auch an der Bar und bei den Stehtischen auf der anderen Seite des Raumes standen ziemlich viele Menschen für diese Uhrzeit.
Aria sah mich fragend an: “Ist das die Zeit, zu der es in einem Club schon so viele Menschen hat?“
Sie dachte offenbar genau das gleiche wie ich.
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Die Nächte in Stockholm sind lang. Wir sind hier in einer Hauptstadt und nicht in einem Provinzdorf.“
Ich grinste sie an und sie lächelte zurück. „Ich hole uns mal was zu trinken.“ Meinte Liv und bahnte sich einen Weg durch das Gedränge in Richtung Bar. „Da hinten steht ein ziemlich gutaussehender Typ und starrt zu uns hinüber. Was meint ihr Mädels?“ Ich musste den Kopf über Anna schütteln. „Nein Anna, wir wissen alle drei ganz genau wen von uns er anschaut.“ „Ja dich.“ Mischte sich jetzt auch Aria in das Gespräch ein. Anna lachte. „Na wenn ihr meint. Ich bewege mich mal unauffällig in seine Richtung und schaue, was dabei herauskommt.“ Sie winkte und ging dann in Richtung Tanzfläche. Wir beiden Übriggebliebenen beschlossen zuerst zu Liv zu gehen, damit sie am Ende nicht mutterseelenallein mit vier Getränken an der Bar stand und gingen zu ihr hinüber. „Was wollt ihr trinken?“ fragte sie uns, als wir endlich bei ihr angekommen waren, weil sie ich mittlerweile bis ganz nach vorne zur Bar gekämpft hatte und gerade dabei war zu bestellen. „Ich nehme einen Mojito, Aria du?“ „Gerne ein Panaché. Ach und Anna braucht übrigens nichts. Sie hat sich bereits an irgendeinen Typen herangeschmissen und ist wohl für die nächste Zeit beschäftigt.“ Liv schüttelte den Kopf. „Ich kenne wirklich niemanden, der sich so an Männer heranschmeisst wie sie. Kaum passt man eine Sekunde nicht auf, ist sie verschwunden und du siehst sie erst Stunden später, mit mindestens einem Knutschfleck und einem Typen im Schlepptau wieder.“ „Immerhin besser als Emma. Wenn sie mal weg ist, dann findest du sie frühestens wenn der Club alle rausschmeisst wieder und dann hat sie zwar keine Typen mehr im Schlepptau, aber Knutschflecke an Stellen, wo ich lieber gar nicht viel mehr darüber wissen möchte.“ Ich konnte nicht anders als lauthals loszulachen. „Also wirklich Leute, so schlimm bin ich jetzt wirklich nicht. Das war einmal…“ „Ja, aber dieses eine Mal warst du so durch, dass du mich für deine Mutter gehalten hast, also bitte.“ „Gut, aber von dir kann man also auch ein Liedchen singen. Zum Beispiel, als du dich vor Frust vollkommen hattest volllaufen lassen und das nur, weil…“ „Okay Mädels, es reicht.“ Liv unterbrach uns. „Ihr seid beide total unvernünftig was solche Sachen angeht, okay? Keine ist besser als die andere.“ Aria und ich schwiegen. Während wir unsere Drinks tranken, füllte sich der Club zusehends. Anna kam einmal kurz bei uns vorbei und meinte, dass der Typ, den sie kennengelernt hatte, spitze sei und dass sie sich keine Sorgen um sie machen müssten. Wir nutzten den kurzen Moment zu viert und einigten uns darauf, uns spätestens um ein Uhr, beim Ausgang zu treffen um die Lagen zu besprechen. Dann trennten wir uns. Ich hatte keine Lust mehr, noch länger untätig an der Bar herumzustehen und bewegte mich zur Tanzfläche hinüber. Grundsätzlich mochte ich Tanzen, aber in einem Club, konnte man die Twerk-ähnlichen Bewegungen kaum noch als Tanzen bezeichnen. Aber trotzdem liess ich mich irgendwie mitreissen und bewegte mich im Takte der rhythmischen Musik. Es dauerte nicht lange und ich hatte mich in den Kern der Menge vorgetanzt. Kaum jemand tanzte hier noch alleine. Die meisten standen engumschlungen da und ich sah überall Pärchen die sich küssten und die Finger nicht voneinander lassen konnte. Einige Meter von mir entfernt löste sich eine Blondine in einem dunkelroten Kleid von ihrem Freund und kam zu mir hinüber. „Hey, du bist mir gleich aufgefallen.“ Lächelte sie. „Oh, danke, du mir auch.“ Antwortete ich auf Norwegisch. „Du bist nicht von hier?“ Ich schüttelte den Kopf. „Aus der Schweiz mit norwegischen Wurzeln.“ Sie nickte. Und dann geschah es. Ohne dass ich auch nur ihren Namen kannte küssten wir uns. Es tat gut, aber gleichzeitig nagte auch das schlecht gewissen an mir. Wenn mich jemand fragte, ob ich single war, antwortete ich mit ja, denn das zwischen mir und April war mehr ein Verhältnis als eine Beziehung, aber das bedeutete nicht, dass ich keine Eiversucht oder kein schlechtes Gewissen empfand. Aber ich musste mich jetzt entscheiden. Entweder vergass ich April für einen Abend, was für sie total okay wäre, oder ich brachte möglichst schnell einen Abstand zwischen mich und die Blondine. Sie schien bemerkt zu haben, dass ich zögerte. „Tut mir leid, ich… also… tut mit echt…“ Ich hatte mich entschieden. April war 1800 Kilometer entfernt und das hier sollte unser Sommer werden! Mein Sommer.