Kapitel 4
Die Elster
~ Claude Monet ~
Liv hatte sich für diese Nacht genau vier Stunden Schlaf eingeteilt. Punkt ein Uhr klingelte ihr Wecker. Sie war sofort hellwach. Sie schlug das teure Laken des Bettes zurück und hüllte sich in einen der seidenen Morgenmäntel, in den die Initialen des Hotels eingestickt waren. Die Lichter im Zimmer ließ sie gelöscht. Sie fand sich wie eine Raubkatze zielsicher ihren Weg durch die Dunkelheit in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an. Sie hätte sich auch einen guten italienischen Latte Macciato kommen lassen können, doch sie wäre dumm, mitten in der Nacht die Aufmerksamkeit der Hotelangestellten zu erregen.
Routiniert legte sie ihre Vorbereitungsutensilien auf dem breiten Fenstersims vor der großen Glasfassade, die einen herrlichen Blick auf das Met bot, ab. Ein Fernglas, Zettel, Stift, die gute Spiegelreflex mit dem Nachtsichtobjektiv. Eine Waffe besaß sie nicht. Sie war keine Kämpferin, hasste die Gewalt. Sie wollte sich einfach nur holen, wonach ihr Herz begehrte und fand nichts Falsches daran, wenn sie schon dazu verdammt war, ein unglückliches Leben zu führen.
Der Kaffee war durch. Sie stellte die Tasse mit der dampfenden nachtschwarzen Flüssigkeit ebenfalls auf den Fenstersims ab, setzte das Fernglas an die Augen und beobachtete aller fünf Minuten einen anderen Punkt des Museums. Stunde um Stunde um Stunde. Ihre Glieder schmerzten, doch sie rührte sich nicht. Ihre langen Beine, die nackt unter dem Morgenmantel hervorblitzten waren eiskalt. Ihre Augen tränten. Doch ihr Hirn arbeitete auf Hochtouren.
Wachmänner an jedem Ausgang, selbst an den kleinen Nischen, von denen man davon ausgehen konnte, dass sie nicht mehr benutzt wurden. Hier und da konnte sie in den Seitenstraßen eine Streife in Zivil erkennen, von der ihr ihre Kamera verraten hatte, dass jemand in ihr saß, bewegungslos, starr. Genau wie sie hier oben. Sie wurde erwartet.
Als es zu dämmern begann, legte sie das Fernglas beiseite und ließ sich an der eiskalten Heizung zu Boden sinken, trank den jämmerlich kalten Kaffee aus. Das Gemälde war in der Wand verschraubt, sicherlich durch einen besonders ausgefuchsten Alarm gesichert. Das Museum war voller Kameras und so groß und verwinkelt, dass sie einiges mehr an Vorbereitungszeit bräuchte, etwas zu unternehmen als die zwei Tage, die sie sich genommen hatte. Was hatte sie erwartet? Einen jämmerlichen müden alten Wachmann wie in den kleinen Schuppen nähe Washington? Oder eine Alarmanlage, die selbst sie mit ihrem geringen technischen Verständnis hacken konnte wie neulich im El Museo del Barrio? Wahrscheinlich war das hier eine Nummer zu groß für sie.
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. Warum konnte sie nicht einfach nach Hause fahren und all das vergessen? Dankbar sein, dass sie bis hierhin davongekommen war und sich in das Leben fügen, das nun mal das ihre geworden war?
„Weil es nicht ausreicht.“, flüsterte sie sich selbst zu. „Reiß dich zusammen!“
Sie stand abrupt auf, das Gesicht wieder kühl und klar und machte sich bereit für den Tag.
Punkt acht Uhr war sie wieder in der öffentlichen Toilette des Central Parks und zog sich Emilys Haut über. Tauschte Pumps gegen Turnschuhe, die teuren Ohrclips gegen simple Stecker. Doch ihr Make-up ließ sie dieses mal wie es war. Auch den Zopf ließ sie weg. Sie strich sich zögernd durch das goldene Haar und versuchte, sich selbst zu rechtfertigen, warum sie die Verwandlung nicht zuende führte. Warum wollte sie, dass dieser Cop einen Teil ihrer Wahrheit sah?
Sie schüttelte die Frage ab und erklärte sich ihr Verhalten damit, dass dies auch für Emily kein gewöhnliches Treffen war. Dass sie natürlich hübsch sein wollte für den fremden älteren Mann. Liv besah sich nochmals kritisch im Spiegel. Doch wirkte sie so noch wie das junge naive Mädchen? Nun, sie würde es herausfinden. Wenn er Verdacht schöpfte, sagte sie sich, konnte sie noch immer ihre sieben Sachen packen und verschwinden. Doch ihre Neugierde war geweckt. Wie weit durchschaute er sie bereits?
Viertel vor neun spazierte sie lässig durch den Park und ließ sich bewusst Zeit. Sie würde nicht pünktlich sein, auch wenn sie wusste, dass er sie bereits erwartete. Schließlich war Emily keine verantwortungsbewusste erwachsene Frau. Vierteil nach neun konnte sie sich nicht mehr zügeln und ging zum Museum.
Er wartete inmitten der Great Hall auf sie, den Rücken dem Eingang zugewandt, sodass er sie nicht kommen sah. Etwas an der Tatsache, dass er tatsächlich Wort gehalten hatte und gekommen war, ließ eine unbändige kindische Freude in ihr aufsteigen. Sie näherte sich ihm leise wie eine Katze, so nah, dass er ihr teures Parfum riechen konnte, als sie ihn ansprach. „Ich hätte nicht gedacht, Sie noch einmal wiederzusehen.“
Er dreht sich zu ihr um und wirkt nicht im mindesten überrascht. "Nicht?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Für jemanden, der mit Kunst nichts anfangen kann. Und was nun? Wollen Sie mir die Werke etwa aus Ihrer Sicht erklären?"
"Ich wollte erst einmal anmerken, dass ich Ihren Namen nicht kenne." Er trat einen Schritt näher.
Aus irgendeinem Grund raubte seine Nähe ihr den Atem. Automatisch trat sie einen Schritt zurück, ehe es atemlos aus ihrem Mund stolperte. "Liv."
Sie verfluchte sich selbst. Sie war doch die Studentin Emily. Warum stellte sie sich als die Diebin bei ihm vor? Es war gleich, dass er den Namen nicht kannte, sie daran nicht identifizieren konnte. Es ging ihr ums Prinzip. Liv machte keine Fehler. Und wenn sie es schon tat, wollte sie wenigstens auf demselben Wissensstand sein wie er. "Darf ich vielleicht auch den Ihren erfahren?"
"Selbstverständlich!" Er streckte seine Hand aus. "Ich bin Derrick."
Sie sah auf seine Hand, versuchte zu entscheiden, ob das ein Trick war und legte schließlich zögernd ihre hinein, um sie ihm dann genauso schnell wieder zu entziehen. "Und nun, Derrick?"
"Ich weiß nicht." Er schlenderte etwas den Gang hinab. "Wie geht es mit Ihrer Arbeit voran?"
Er spielte mit ihr. Sie war selbst zu gut darin, um einen Meister bei der Arbeit nicht zu erkennen. "Nicht sonderlich gut, fürchte ich. Offensichtlich verbringe ich meine Zeit lieber mit Ihnen, anstatt daran zu arbeiten.", erwiderte sie.
"Das klingt so negativ. Haben Sie eigentlich schon die Ausstellung gesehen? Abgesehen von der Afrikaausstellung und der Impressionistischen Galerie?"
"Oh, einen Teil. Nicht alles, fürchte ich.“ Sie beschleunigte ihre Schritte, holte ihn ein und ging langsam rückwärts vor ihm, um ihn nichts aus den Augen lassen zu müssen. „Was von dem Zeug hier interessiert Sie eigentlich wirklich?"
"Die altägyptische Ausstellung! Die Geschichte der Menschheit fasziniert mich einfach."
Die Antwort kam eine Spur zu schnell, wie auswendig gelernt. Sie lächelt ihn an. "Dann lassen Sie uns das doch zusammen anschauen. Aber lassen Sie mich vorher noch einen Kaffee in der Cafeteria holen, ich hatte eine furchtbare Nacht."
"Eine Ihrer legendären Parties?", lachte er und lehnte sich an eine Säule an.
"Hm... kann man so sagen." Sie blieb unschlüssig stehen. "Soll ich Ihnen einen mitbringen?"
"Ja, das wäre nett, ich saß auch noch Ewigkeiten über..." Er hielt kurz inne. "Schwarz, wenn es geht" Er lächelte sie an.
Er legte ihr bewusst Köder. Sie kniff die Augen zusammen, sah ihn noch einen Moment an, dann lächelte sie und ging.
Liv ließ sich Zeit mit dem Kaffee, nahm bewusst einen längeren Weg, von dem aus sie ihn beobachten konnte. Er sah auf sein Handy, wie bei ihrem ersten Aufeinandertreffen schon. Ob er sie in diesem Augenblick schon an seine Kollegen verriet? Und warum zum Teufel ging sie nicht einfach? Doch jetzt zu Verschwinden wäre ebenso auffällig, sagte sie sich und ignorierte das Gefühl in sich, dass sie seine Gegenwart genoss.
"Da bin ich wieder. Ich habe Ihnen einen Schokoriegel mitgebracht. Ich denke, Sie können etwas Süßes vertragen." Sie überreichte ihm den schwarzen Kaffee und den Schokoriegel und nippte grinsend an ihrem eigenen Becher.
"Sehr aufmerksam von Ihnen!" lachte er, nahm einen großen Schluck vom Kaffee und machte sich langsam auf den Weg zur ägyptischen Ausstellung.
Sie ging schweigend neben ihm her und sah sich unauffällig die Gemälde und Skulpturen an, ihre Befestigungen. Sie zählte die Fenster, schätzte ihre Höhe ab und fragte sich, ob sie sich mit einem Sprung sehr verletzen würde.
"Wissen Sie, die Ausstellung beherbergt Gegenstände aus den unterschiedlichsten Epochen, von der frühen Bronzezeit bis zur islamischen Ära." Sie betraten die Halle, die sofort altertümlich wirkte, jedoch trotzdem lebendig.
Sie sah ihn überrascht an. "Für jemanden, der sich nicht besonders gut auskennt, wissen Sie erstaunlich viel."
"Ich habe etwas recherchiert. Neben einer Frau von Bildung will ich nicht wie ein Idiot aussehen" Er lächelte sie frech an, und näherte sich einem Gegenstand. Eine Art Zange. Sie bestand aus Bronze und war mit einer grünlichen Patina überzogen.
Liv blieb hinter ihm stehen und musterte stumm seine Statur, fast wie er die Skulptur musterte. Sie fragte sich, was für ein Mann er war; wo er sie belog und wo die Wahrheit sagte. Dann trat sie neben ihn. "Ich bin nur eine Studentin. Ich weiß noch gar nicht, was ich am ende wirklich tun will."
"Gar keine Idee?" Er musterte sie kurz, wandte sich dann wieder der Zange zu und hielt einen Moment inne. "Die ist aus dem neuen Königreich. Sie erraten nie, wofür die benutzt wurde."
"Ich wette, Sie überraschen mich.", lachte sie und besah sich die Zange näher. "Ein Folterinstrument?"
"Sozusagen. Damit brach man Dieben die Finger" Er war einen Moment absolut still, nicht einmal ein Atemgeräusch war zu hören. Dann prustete er laut los.
Sie drehte sich langsam zu ihm um und sah ihn direkt an. "Sie haben eine perfide Art an sich, die mir gefällt, Derrick. Und jetzt seien Sie ehrlich, treffen Sie sich immer mit jungen Studentinnen. Nach Ihrem Feierabend in der Bank." Das letzte Wort betonte sie übertrieben.
"Nur wenn sie besonders interessant sind." Er wich ihrem Blick aus und schaute sich etwas im Ausstellungsraum um.
Aha. Auf diesem Gebiet war er nicht sonderlich gut im Spielen. Dafür war sie es umso mehr. Sie lächelte. "Wissen Sie, ich habe keine Lust, meinen freien Nachmittag zwischen verstaubten Antiquitäten zu verbringen, Sie etwa?" Sie lachte frech und nickte zu den Fenstern, durch die das Sonnenlicht flutete. "Haben Sie Lust auf einen Spaziergang im Central Park?"
"Nichts lieber als das! Es fiel mir langsam schwer, Interesse an Kunst vorzutäuschen."
Sie legte den Kopf schräg und blitzte ihn an. "Das alles für mich? So viel Mühe müssen Sie sich gar nicht geben." Sie ging ihm voran zielstrebig Richtung Hinterausgang, der zum Park führte.
Er folgte ihr mit etwa einem Meter Abstand, sein Blick auf Livs nun offene Haare gerichtet. "Steht Ihnen! Die Frisur."
"Freut mich, dass es Ihnen gefällt." Das Lächeln breitete sich wie automatisch auf ihren Zügen aus, doch sie wandte sich nicht um, damit er es nicht sah. Sie fragte sich besorgt, was zur Hölle sie hier tat. Zum ersten mal hatte sie keinen Plan.
Draußen in der Sonne wurde ihr leichter ums Herz, die Luft war erfüllt vom Stimmengewirr der Spaziergänger im Park. Sie wartete am unteren Treppenabsatz auf ihn.
Innerhalb von zwei Sekunden stand er neben ihr, atmete tief durch. Er warf seinen leeren Kaffeebecher in die Mülltonne neben dem Ausgang und drehte sich zu ihr um. "Angenehm frische Luft hier. Sowas bekommt man leider viel zu selten, egal, in welchem Stadtteil man wohnt"
Sie lächelte geistesabwesend. "Sie sollten mal in die Hamptons fahren. Wenn das Meer gegen die Felsen schlägt, dann..." Sie brach erschrocken ab und verstummte. Was war nur in sie gefahren? Genauso gut konnte sie ihm gleich ihre Fingerabdrücke geben.
"Dann bin ich immer noch zu arm, um mir dort auch nur ein Handtuch für den Strand zu mieten." Er lachte los. "Was machen Sie denn in den Hamptons?"
"Meine Großeltern haben dort ein Strandhaus.", erwiderte sie schnell. "Im Sommer bin ich verdammt gern dort."
"Glaube ich Ihnen. Ich war ein paar mal geschäftlich da, es ist wirklich unglaublich schön" Er setzte langsam einen Schritt vor den anderen und ging tiefer in den Central Park.
"Vielleicht sehen wir uns dort ja mal.", erwiderte sie lächelnd und versuchte, ihre Nervosität zu verbergen, indem sie unentwegt lächelte.
Ein paar Minuten lang ging er schweigend neben ihr her, dann sah er Sie direkt an. "Wissen Sie, Sie können aufhören, mir etwas vorzumachen."
Sie blieb abrupt stehen. Es war, als hätte er einen Eimer Eiswasser über ihr entleer. "Was reden Sie da?"
"Das teure Parfum, die Hamptons. Ich weiß, was Sie versuchen." Er lächelte sie herausfordernd an.
Sie musste improvisieren! Und wenn es noch so billig war, hatte sie keine andere Waffe parat, als die Waffe einer Frau. Sie setzte ein verführerisches Lächeln auf, trat einen Schritt näher und fragte dann leise: "So? Was versuche ich denn?"
"Sie sind gar nicht irgendeine Studentin, die viermal dir Woche Ramen essen muss, Sie sind wohlhabender als das. Sie verstecken das nur vor Ihren Kommilitonen" Er zwinkerte ihr zu.
Für einen Moment sah sie ihn entgeistert an, ehe sie laut auflacht. "Ich glaubte, Sie unterstellen mir stattdessen, ich wollte Sie verführen."
"Wollen sie es denn?" Er lachte. "Na? Wer aus ihrer Familie macht denn das große Geld? Ihre Eltern? Großeltern?"
Ihr Lächeln verschwand. Er ließ sich nicht auf den Flirt ein. Er wollte sie einfach nur kriegen. Sie hatte keine andere Wahl mehr außer Flucht. "Sie haben Recht. Ich verstelle mich nur vor meinen Kommilitonen. Und das macht einsam, kennen Sie das? Wenn man sich fast schon wünscht, Sie mögen es herausfinden? Damit jemand etwas mehr von einem weiß als man selbst." Sie beschleunigte ihre Schritte und brachte Abstand zwischen sich und ihn.
"Ich weiß, was Sie meinen." Er lief ein wenig, um sie wieder einzuholen.
"Was ist ihnen dermaßen peinlich daran, dass Sie es vor ihren Kommilitonen verschweigen? Messen Sie sich an Ihren eigenen Errungenschaften, dann wird ihnen niemand etwas übel nehmen, wer auch immer Ihre Familie sein mag."
"Hören Sie auf damit, mich entschlüsseln zu wollen!", sagte sie heftiger als beabsichtigt. Weil sie ungewollt darüber nachdachte, was ihre eigenen Errungenschaften waren. Gestohlene Träume anderer… "Ich muss jetzt gehen, Derrick. Leben Sie wohl."
Sie drehte sich um und ging mit schnellen Schritten davon.