Glücklicherweise erklärte sich eine Freundin bereit, das junge Wesen in ihren Händen zu wärmen, bis ich alles organisiert hatte, um dann selbst Jay zu übernehmen. Ich erinnere mich an das Entzücken jener Freundin, welches auch leicht ängstlich klang: Das Vögelchen war ja noch so klein und zart! Erleichtert überliess sie mir dann wieder meinen Pflegling, den ich in der Folge während des ganzen Abends nicht mehr aus meinen Händen gab.
Wir sassen ums Feuer und sangen Lieder. In mir spürte ich eine tiefe Verbindung wachsen zu diesem kleinen Vogel, welche ich bis zu jenem Moment noch nicht ganz zugelassen hatte, war er ja ein Wildtier. Und mein Ziel war ja immer noch, Jay dereinst auszuwildern. Innerlich versprach ich ihr, so lange für sie da zu sein, wie sie mich brauchen würde...
Wir gewöhnten uns an, Jay überallhin mitzunehmen, auch ins Gartenrestaurant. Nur das Einkaufen musste innerhalb einer Stunde erledigt sein, damit ich zur Fütterungszeit wieder zu Hause war. Ich merke erst jetzt beim Niederschreiben dieser Erinnerungen, wie sehr ein so junges Wesen einen bisher recht eingefahrenen Rhythmus verändern kann und, so klein es auch ist, einen grossen Platz einnimmt. Doch Jay dankte es mit gesundem Heranwachsen und einer grossen Wärme, welche ich immer tiefer empfand, wenn wir zusammen waren. Es entwickelte sich eine richtige Beziehung zwischen uns beiden. Was ich damals entdeckte und was mich während ihres ganzen langen Lebens immer wieder in Staunen versetzte: Sie konnte über ihre Augen sehr genau ausdrücken, was sie empfand. Wohlbefinden, Fröhlichkeit, Nachdenklichkeit, Zorn, Müdigkeit - mit der Zeit lernte ich, alles an ihren Augen abzulesen. Oft schauten wir uns einfach an, es war ein stilles Austauschen.
Noch war Jays Zuhause eine einfache Kartonschachtel, mit Heu ausgepolstert. Die Wärmeflasche konnte ich nun wegräumen. Ihr Federkleid war voll ausgebildet und ihre kleiner Körper fühlte sich ausgeglichen warm an.
Mit dem Heranwachsen hatten sich auch ihre Flügel entwickelt und es kam der Moment, wo wir uns nach einem Käfig umsehen mussten. Denn noch immer war sie auf meine Fütterung angewiesen, wenn auch nicht mehr so häufig wie in den ersten drei Wochen, da die Mengen,die sie jetzt verdauen konnte, grösser wurden und länger sättigten. Also sah man uns bei weiteren Ausfahrten - wir waren damals gerade daran, ein neues Haus auszubauen - mit einem Vogelkäfig im zum Glück verglasten Kofferraum unseres Autos. Jay liebte Autofahren!
Vor uns lag nun ein Schritt, dem ich etwas bange entgegensah, weil gerade daran die meisten Rettungsversuche von Jungvögeln scheitern: Jay sollte langsam lernen, selbst zu essen und zu trinken. Noch liessen wir uns Zeit. Aber spätestens, wenn sie dann stehen und hoffentlich auch fliegen lernen würde, mussten wir uns diesem Thema stellen.