Jay gedieh. Längst schon hatte sie auch begonnen, laut ihre Stimme auszuprobieren und schmetterte oft stundenlang Lieder und Wörter in Spatzensprache in die Welt hinaus. Sie hatte auch gemerkt, dass es draussen ebenfalls Spatzen hatte. Mit ihnen schien sie sich aus sicherer Warte zu unterhalten.
Bei mir meldete sich das schlechte Gewissen. Dieser Vogel brauchte seinesgleichen.
Täglich nach dem Mittagessen setzte ich mit meiner Hündin nun in ihr Zimmer, schloss Türe und Fenster und öffnete ihr Käfigtürchen. Ich wartete im Wissen darum, dass sie diesen alles entscheidenden Schritt, das Fliegen, selber entdecken musste.
Es dauerte, bis sie sich schon nur an den Ausgang wagte - um gleich wieder in den sicheren Käfig zurückzuhüpfen. Viele Tage vergingen, doch wir hatten ja Zeit.
Dann, irgendwann, war es soweit. Noch recht unsicher, aber zielstrebig, flatterte sie auf mich zu, setzte sich auf meine Beine. (Ab da hatte ich übrigens immer wieder kaum entfernbare Flecken in meinen Kleidern. ;-) )
Ich freute mich sehr, war einmal mehr stolz auf mein Vogelmädchen. Sie hüpfte auf meinen Arm, machte es sich in meinem Ellbogen bequem - und schlief dort ein.
Es wurde immer mehr zu einer schönen Gewohnheit, die ersten Nachmittagsstunden zu dritt zu verbringen. Jay turnte an mir herum, flatterte vom Arm in den Nacken, zupfte dort an Haaren und Haut (was oft echt schmertzhaft war), bis sie dann irgendwann erschöpft in der Hand oder eben in der Ellbogenbeuge einschlief.
Zu meinem Kummer entdeckte ich dann aber mit der Zeit, dass sie es nur schwer fertig brachte, vom Boden aufzufliegen. Sie brauchte stets mehrere Anläufe, bis sie eine gewisse Höhe hatte. Sie wäre der nächsten Katze direkt ins Maul geflogen. Was nun?
Um ihr noch mehr Übungsmöglichkeiten zu geben und immer noch mit der Absicht, sie bald einmal auszuwildern, verlegten wir unsere "Flugstunden" ins Aussengehege unserer Zwergkaninchen. Dieses war ein- und ausbruchsicher und die beiden hatten sich bald an unsere täglichen Besuche gewöhnt. Eher gewöhnungsbedürftigwar für sie wohl, dass Jay sich einen Spass daraus machte, auf ihnen Landeübungen zu machen. Auch unsere Hündin musste da einige Male herhalten, wobei das dann etwas schwierig wurde, weil sich Jay in deren langen Haaren verhedderte. Trotzdem erschienen mir jene Stunden immer wie Weihnachten: Ein Mensch mit drei verschiedenen Tiergattungen in einem Gehege und es herrscht Frieden...
Das Problem aber blieb bestehen: Jay konnte nur schlecht fliegen. Vermutlich deshalb hatten sie ihre Eltern aus dem Nest gestossen, denn in freier Natur überlebt nur, wer auch überlebensfähig ist.
Ein weiteres Problem zeigte sich: Sobald ich das Aussengehege verliess, schrie und zeterte Jay - wie ein Rohrspatz eben. Sie beruhigte sich erst, wenn ich wieder in Sichtweite war. Ganz offensichtlich war ich Spatzenmama und Vogelschwarm in einem.