Als der Beritt in die Siedlung einritt, verschlug es Ben den Atem. Nicht aufgrund der Schönheit dieses Ortes, eher begründet derer Erbärmlichkeit. Dieser Ort, sofern man dieser Benennung überhaupt gerecht wurde, zeigte keinerlei Ordnung. Vollkommen unkoordinierte Zeltreihen und lieblos zusammengeschusterte Bretterbuden, die jedes Kind im Wald schlicht als armselige Butze bezeichnen würde. Wohlwollend, vereinzelnd kleinere Hütten, die festerer Bauart entstammten, existierten in Kleinstmengen. Bedeutend darauf, dass das Handwerk nicht gänzlich ein Fremdwort zu sein schien, aber dieses hier eine Siedlung schimpfen?
Viele der umherschleichenden Bewohner, oder die, die die Ankömmlinge neugierig begafften, waren gebrochene Menschen ohne jedwede Aussicht auf eine lebenswerte Zukunft. Nur Wenige von diesen armen Teufeln strahlten noch genügend Selbstsicherheit aus, um den Anschein zu erwecken eine Person vor sich zu haben, mit der man halbwegs vernünftig reden konnte. Die meisten von den hier lebenden waren bekleidet mit zumeist dreckig zerschlissenen Leinenhosen und Hemden. Nur selten erblickte man besser erhaltene Kleidung. Der süßsaure Geruch nach Schweiß und die beißende Ammoniaknote nach Urin waren in solchen verwahrlosten Menschenansammlungen ein stetiger Begleiter. Ben beschlichen von den miserablen Eindrücken und Ausdünstungen Kopfschmerzen und ein schrecklicher Schwindelanfall, sodass er sich nur noch mit Mühe auf dem Rücken seines Pferdes hielt. Er krallte sich mit der freien Linken in die Mähne seiner Stute, um nicht zu sehr zu schwanken und hoffte, dass diese kurzeitige Schwäche niemanden auffiel – weit gefehlt.
Ein reichlich untersetzter aber dennoch besser bekleideter drängte sich unachtsam durch die Umstehenden und erregte dadurch Bens Aufmerksamkeit. »Jarik, Jarik. Was habt ihr uns denn da Hübsches angeschleppt? Einen schwächelnden Angehörigen eurer Jägerschaft, der mir krank scheint dazu zwei Schreiberlinge, wobei der Ältere von beiden den Jüngeren wohl als Krücke nutzen mag? Unser Heim ist bereits jetzt schon deutlichst überfüllt, und seitdem kürzlich eine meuchelnde Rotte Gouwors eines der Nachbarsiedlungen überrannt hat, stapeln sich die Schlafenden auch noch an den Feuern«, stänkerte dieser, mit wild überschlagenden Armen, ganz so als möge er Schwimmübungen zu Lande vollführen. Ein unangenehmer Rülpser entrang sich seinem Wanst und er spuckte etwas Undefiniertes in den Dreck, der die gesamte Möchtegernsiedlung großflächig umgab.
Wenn man sich diese Gestalt so betrachtete, schien diese mit seiner unförmigen Statur dem Michelin-Männchen der modernen Welt Konkurrenz machen zu wollen. Dazu ein ernüchterndes Klerasil-Testgelände im Gesicht, welches jedem Dermatologen die reinste Wonne bereitet hätte. Er fixierte mit seinem öligen Blick Ben und musterte ihn von oben bis unten.
Genauso stelle ich mir jemanden vor, der eine Volksmasse führen sollte – ein Volk voller Jammerlappen. Kein Wunder, das diese sich nach einer lebenswertere Zukunft sehnen. Aber was machen solche wie Jarik und seine Männer hier, wieso übernehmen sie nicht die Verantwortung? Verdammt, ich brauche Antworten und das schleunigst. Und zwar bevor ich den Verstand verliere, oder diesem hässlichen Fressen in die Selbige trete.
Schien derzeit die beste und harmloseste Erklärung dessen zu sein, was Ben momentan durch den Kopf schwirrte. Fendrik bemerkte den entrückten Blick seines neuestem Gefährten und deutete dessen Gedanken weitestgehend richtig. »Mann – halt einfach dein dreckiges Maul, wenn ich ebendieses nicht mit diesem Fischkadaver, nach welchem es hier stinkt, stopfen soll!«, bellte er ihm aufgebracht entgegen.
Jarik nutzt die Einleitung und erweiterte den Ausbruch um seine Meinung. »Du bist hier weder sonderlich beliebt, noch führst Du dieses heillose Durcheinander an, welches sich Siedlung schimpft! Du bist Abschaum und ein gutsichtbares Negativbeispiel für alle, die sich eine friedlichere Zukunft wünschen. Schau dich an bevor Du über meine Begleiter oder sonst jemanden urteilst. Ja, einer meiner Weggefährten ist krank. Er benötigt dringend einen Schlafplatz und den bekommt er in meiner Unterkunft. Diese beiden sind Schreiber, auch das stimmt. Aber jeder von diesen Dreien, meine Männer eingeschlossen, haben mehr und bringen mehr Taten, als du widerlicher Bastard jemals leisten wirst. Wir sollten deine aufgedunsene Pickellage bedecken und dich wie ein Schwein über dem Feuer rösten, damit alle satt werden. Dein verwanzter Leib reicht aus, um eine komplette Mark über die Wintermonate zu bringen! Verschwinde bevor einer meiner Pfeile deinen Fettleib durchbohrt und eventuell noch dahinter liegende Organe spickt!« Jarik redete sich dermaßen in Rage, das er jeden Satz mehr oder minder ausspie. Seine Finger umkrampften sich um den Griff seines Dolches, sodass seine Knöchel weiß hervortraten.
Es brach einladender Tumult bei den Versammelten aus, nicht aus Boshaftigkeit, eher dem herzhaften Gelächter wegen. Einigerorts fielen die Leute bäuchlings und mussten diesen vor Lachschmerzen halten. Andere riefen zustimmende Äußerungen und freuten sich sichtlich, dass Jarik es diesem fiesen Fettwanst so richtig gab. Knurrend und wutentbrannt trat der Beschimpfte davon und drängte sich schupsend durch die Menge. Kinder mimten seine Gangart mit eindeutigen Gesten nach und stampften breitbeinig umher, bis sie von den Erwachsenen zur Seite gezogen wurden. Womöglich deren Eltern oder ältere Geschwister.
Ben schaute dem sich Entfernenden hinterher, verzog angewidert das Gesicht und schauderte. »Ekelhaft. Fendrik, was für ein Trottel war das denn eben?« Ein Lächeln stahl sich über seine Züge. Dieser drehte sich ihm zu und klopfte kumpelhaft auf sein Knie. »Ach Benjamin. Das war einer der wohl unwichtigsten Personen in der ganzen Mark. Er hält sich für einen fürstlichen Nachfahren und steht auf dem Standpunkt sich dadurch entsprechend mehr rein stopfen zu dürfen. Sein Name ist Grimfield, Horacio Grimfield. Vergiss ihn einfach wieder, ja?«
»Hört mir zu Leute. Wir haben auf halbem Wege ein Lager der Brut entdeckt. In diesem konnten wir, auf den Pferden verstaut, verschiedenste Beute einsammeln und eben diese beiden,« Jarik zeigte mit der Linken auf die zwei Schreiber. »Dario und Thanh, wobei Letzterer ein Kartograf ist. Die Erschlagenen selbst kokeln vermutlich noch in der Glut ihres eigenen Feuers. Unser anderer Begleiter stammt aus Nordfluss und ist aus einem der umliegenden Siedlungen zu uns gestoßen, da, wie ihr wisst, die flussnahen Marken stark unter dem Einfluss der Brut zu leiden haben. Er stand uns bei der Bekämpfung tapfer zur Seite und wurde dabei leicht verletzt. Ich nehme die Drei in meine Obhut, sodass kein zusätzlicher Schlafplatz geschaffen werden muss.«
In den Reihen der umherstehenden entstand Getuschel und Begeisterung zugleich. Ein kräftiger Bursche mittleren Alters trat vor und griff die Zügel von Jariks Pferd und schaute fragend auf. »Jarik, wir wissen, dass du und deine Männer für uns alle hier auf Jagd geht. Ihr bringt Fleisch und durchstreift die Gegend. Überdies schafft ihr es immer wieder, kleinere Rotten dieser Bestien zu töten. Was aber, wenn sie dahinter kommen, dass man die Schuldigen hier bei uns zu suchen hat? Alle hier wissen, dass Grimfield eine Zwiegestalt ist und sogar sein eigenes Fleisch und Blut für Essen verhökern würde, sofern er darüber verfügen würde. Wenn du ihn immer wieder aufs Böseste verspottest, so fürchte ich, dass er einen schweren Fehler begehen könnte – das wäre unser aller Untergang. Versteh es bitte nicht falsch, wir sind dir und deinen Männern zu Dank verpflichtet, aber dieser Klops ängstigt uns. Wir haben noch nie jemanden aus den eigenen Reihen ermordet, nicht mal Leute wie ihn. Auch wenn er es verdient.«
Jarik legte ihm beruhigend die Hand auf seine und griff zu. Er sprach nicht zu ihm selbst, sondern zur Allgemeinheit. »Leute, macht euch nicht verrückt. Grimfield steckt nur das ein, was er austeilt und das Böse wird uns nicht auf die Spur kommen. Wir verfügen in jeder Mark über etwa zwei Hundertschaften erfahrener Jäger und jede Jagdgruppe verwischt ihre Spuren gewissenhaft, sodass eine Rückverfolgung für diese Bestien nicht möglich ist. Nehmt lieber die Lasten von den Tieren und verpflegt sie. Danach teilt die Beute auf. Wir müssen den übrigen Jägern berichten und meine Gäste unterbringen, die einige Tageswenden bei uns verbringen werden.«
Der Bittsteller nickte, entzog ihm die Hand und sorgte dafür, dass sich die Menge zerstreute, um sich wie geheißen der Beute wie der Pferde zu widmen. Entlastete Pferde wurden zu primitiven Angern geführt, um diese gewissenhaft mit Heu abzureiben, zu wässern und angemessen Verpflegung zu gewähren. Trotz der extrem schwierigen Zeiten sind für viele die Pferde mehr als nur Nutztiere und entsprechend wurde sich um diese gekümmert. Jarik geleitete währenddessen seine drei übrigen Begleiter, Ben, Dario und Thanh zu seiner bescheidenen Unterkunft. Diese bestand aus einem einzigen Raum, den man mit einem alten Vorhang unterteilte. Festgestampfte Erde diente als Fußboden, der mit trockenem Heu ausgestreut war. Winddurchlässige, grob aneinander gebundene Bretter ziemten als Außenwände und der Eingang war lediglich mit einem festen Tierfell – scheinbar Bärenfell – verhängt. Das Dach hätte bei starken Regen nichts davon abgehalten, in das Innere der Unterkunft seinen Weg zu finden. Bestehend aus Zweigen, noch dazu äußerst dünn aufgelegt bot dies jedenfalls keinen sonderlichen Schutz.
»Entschuldigt mein bescheidenes Heim, aber wie bereits erklärt, sind unsere Siedlungen nicht nur sehr unpraktisch, sondern auch sehr ungastlich. Eine feste Bauweise der Unterkünfte lohnt nicht, da niemand weiß, wie lange wir an einem Ort bleiben können, wobei dies nun schon seit fast einer Generationen der Fall ist. Die Leute haben Angst, ihr mickriges Hab und Gut wieder zu verlieren.«
»Aber genau das ist doch das Problem. Die Leute haben keinen Bezug zur Heimat, niemand kann verteidigen, was er nicht besitzt, weswegen ihr, als Jäger die Einzigen seid, die wissen, was Kampf und Verteidigung bedeutet«, erwog Ben daraufhin.
»Ich kann dir nicht folgen. Worauf willst du hinaus?«
»Ganz einfach, und ohne dass ich jetzt näher darauf eingehen möchte, nur so viel ... Die Leute brauchen ein richtiges Zuhause. Ein Heim in dem sie weitestgehend ohne Angst schlafen, leben und sich bewegen können. Etwas das sich auch lohnt zu verteidigen. Erst dann, Jarik, wird sich dein Volk ändern. Derzeit haben sie nicht das Geringste, was sich zu ändern lohnt und deswegen werden sie nichts dergleichen unternehmen.«
Dario und Thanh sahen sich bei dem Wortwechsel wissentlich an und Dario sprach aus, was beide dachten. »Was das Volk braucht, ist nicht zuerst ein Heim. Das, was es vielmehr bedarf als alles Übrige, ist einer der sie führt. Ein Jemand, der ihnen sagt, was sie tun müssen, um sich diesem Joch entgegenzustellen. Erst dann können diese Menschen an ein wirkliches Heim denken.«
»Wer aber bitte soll das Volk anführen oder anleiten? Soweit ich weiß, habt ihr keine Fürsten mehr, die sich kümmern. Nur die vereinigten Jäger streiten für die Mittellosen«, erwiderte Ben ungehaltener.
Noch bevor sich ein Streitgespräch aufschaukeln konnte, schritt Jarik ein und bedeutete ihnen zu schlafen, um die erlebten Strapazen verarbeiten zu können. Er beteuerte für die morgige Tageswende, sich um die Besorgung der gewünschten Gegenstände zu kümmern und zusammen seinen Fragen zu stellen.
Daraufhin überließ Jarik die Hütte seinen neuen Kameraden und machte sich auf den Weg zu seinem Bruder, der bereits wartete.
»Die anderen sind schon vorausgeritten. Wollen wir gemeinsam, oder hast du noch etwas zu erledigen? Deine Sachen sind übrigens in meinem Zelt untergebracht.«
»Danke Fendrik. Lass uns direkt los und anschließend zur Nachtruhe schreiten. Ich bin Müde und muss nachdenken.«