Als schließlich auch die Letzten um die seichte Biegung des Passes und in Sichtweite der Wächter traten, schwellten Jubel und freudige Ausrufe an. Bedingt der Passformation klangen die Rufe wie widerhallender Donner, der ihnen entgegen rollte. Eine komplett fertig gestellte Palisade begrüßte Ben und seine übrigen Reiter. Flankiert von zwei wehrhaften Türmen, die von jeweils zwei Wachposten besetzt waren und den Nahenden aufmunternd zujubelten. Verwundert und vom Lärm aus seinen trüben Gedanken gerissen huschte Ben ein freudiges Lächeln über die Lippen und Jarik zeigte mit ausgestrecktem rechten Finger voraus.
»Einige unserer Frauen haben mehrere Tageswenden damit zugebracht, um sie fertigzustellen und ungesehen in eine der Karren zu schmuggeln. Sie sind die Ersten von vielen.«
In tiefem Grün und knallig dunklem Blau umsäumt, wehten Fahnen auf beiden Türmen im seichten Wind. An den äußeren Seiten einer jeden, waren mit silbernem Faden zwei sich gegenüberstehende und auf der Hinterhand stehende Pferdeleiber aufgestickt. Zwischen den Pferdeinsignien zierte eine goldene aufgehende Sonne mit einem springenden weißen Pferd. Das neue Wappen einer neuen Heimat.
Ben konnte sich nicht erklären, woher die Frauen den Faden nahmen, geschweige denn, wie diese gleich zwei dieser scheinbar aufwendig gestalteten Fahnen herrichteten.
Die Freunde, nach zwei Zehntagen wieder vereint, saßen an einem Feuer nahe der umbauten Quelle und lauschten den Echos der Erzähler. Der gesamte Bereich hinter der schützenden Palisade bis weit in den diesseitigen Pass hinein war durch die vielen Feuer taghell erleuchtet. Das Gefolge erzählte von Ereignissen während der Reise, woher sie kamen und wie sie sich vorbereiteten. Andere wiederum stimmten leise Gesänge über vergangene Heldentage an, in jene wieder andere einstimmten und so der Eindruck erschien, es handle sich um mehrstimmige Phrasen, die im ganzen doch einstimmig klangen. Der Pass verzerrte lediglich die Wahrnehmung.
»Erzählt, was ist passiert. Ich habe von einem Lager der Brut gehört und einem glorreichen Sieg. Und vor allem, wo steckt Eric? Ich habe ihn noch nicht gesehen.«
Jarik ergriff das Wort noch vor Ben und wiederholte den Verlauf der Geschehnisse, seit Fendriks Abreise bis hin zum einritt in den Pass. Ben erklärte anschließend, dass er Eric durch die Marken geschickt habe, um einerseits ihr Ausgangslager neuerlich mit Männern zu füllen, die am Kriegshandwerk ausgebildet werden mussten, als auch für weitere Nachschubzüge zu sorgen. Mit einem Seitenblick zu Jarik verdeutlichte er weiter, das Middellande nicht nur einen guten Kämpfer benötige, sondern auch einen erfahren Kopf, der das Lager in Ordnung hält und die begonnen Ausbauten vollenden sollte.
»Fendrik, ich möchte, dass Du dieser jemand bist. Deinen Bruder werde ich höchstwahrscheinlich nur los, wenn er als alter Sack stirbt oder sich umbringen lässt. Ebenso den da drüben. Wie heißt er doch gleich? Ah, natürlich – Yaeko.« Genannter griff unbescholten zu einem Stück umliegenden Holzes und warf es mit einem ausdrucksfrohen: »Hey« in Richtung Ben, der es mit der flachen Linken lachend abwehrte und fortfuhr. »Eric wird freiwillig in seiner Heimatmark bleiben und uns von dort den Rücken stärken, aber schaffen kann er dies nicht allein. Ich weiß, dass ihr beste Freunde seid und du eine wichtige Aufgabe verdienst. Die Bewohner Middellande vertrauen dir.«
Jarik, der allmählich begriff, was sein oberster Schwertmann verlangte und seinem Bruder anbot, wischte mit beiden Armen das unterbreitete Angebot aufgewühlt beiseite. Vor Erregung hochrot angelaufen zischte er die umsitzenden Freunde, allen voran Ben bitter an. »Niemals. Ich lasse nicht zu, dass du meinen kleinen Bruder diesen Gefahren aussetzt. Er bleibt hier bei uns.«
Ben hob nüchtern die linke Braue. »Genau da liegt das Problem Jarik. Du siehst ihn nur als deinen kleinen Bruder, den du beschützen musst. Er wird in deinem Schatten niemals eigenständig werden«, erwiderte er besonnen und legte seinem aufgebrachten Freund beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Du musst ihn ziehen lassen, sofern du ihn nicht eines Tages komplett verlieren willst. Wen soll ich deiner Meinung nach in Middellande einsetzen? Wen können wir bedenkenlos vertrauen?«
»Ach, hört doch auf ihr Beiden. Mein Entschluss steht bereits seit Langem fest. Ich werde nicht mit in die neue Mark gehen. Wenn, dann ausschließlich nur kurzzeitig zu Besuch. Meine Heimat ist und bleibt Middellande und ich werde es weiterhin mit meinem Leben verteidigen. Eines Tages wird es so sein, dass ihr zurückkehren werdet und unsere geliebte Mark befreit. Ich will, dass sie bis dahin hinreichend vorbereitet ist und euch unterstützen kann.«
Man sah Jarik deutlich an, dass er mit sich selbst einen inneren Kampf ausfocht. Doch schließlich, nicht ohne Widerstreben, schnaufte er aus und lenkte beklommen ein. »In Ordnung, ich verstehe euer Anliegen und den Grund dafür. Ich akzeptiere, dass du gehen wirst, was jedoch nicht heißt, dass ich es auch gutheißen muss.«
»Sobald ihr in Richtung Tal aufbrecht, reite ich mit meinen Männern zurück, die Arbeiter jedoch wollen mit euch gehen.«
»So soll es sein. Yaeko, stell zwei Scharen und ebenso viele Arbeiter als ständigen Wachentsatz für die Pass-Wacht ab. Diese soll alle zwei Zehntage abgelöst werden. Die Arbeiter sollen den hinteren Pass ausbauen und mit dem behauenen Gestein feste Gebäude errichten. Wir werden dafür weiteres Baumaterial hier belassen. In der neuen Mark sollte genügend zu finden sein, sodass zwei Karren weniger, uns nicht einschränken dürften.«
»Hörst du das? Wir müssen den Einmarsch der Pferdeherren melden, Kabar. Die wollen sich allen Ernstes im Tal breitmachen«, flüsterte Galoth und beugte sich von ihrem Ausguck über der Quelle zurück in den verdeckenden Schatten.
»Mhm, die Pferdeherren reiten wieder. Hast du das Gerede von der erschlagenen Brut gehört? Wenn dem beileibe so ist, beginnen die Menschen sich zu erheben. Dieser Kerl – Benjamin – scheint ihr Anführer zu sein. Wir sollten das überprüfen und dann entscheiden, ob es einer Meldung lohnt.«
Galoth tickte mit seinem kurzen kräftigen Zeigefinger Kabar heftig vor die Stirn und verdeutlichte so seine Aussage. »Hörst du mir nicht zu? Sie wollen in unserem Tal siedeln. Sie rücken uns auf die Pelle. Womöglich locken sie noch diese abartigen Gouwors an.«
Gepiesackt wischte dieser die Gebärde mit seiner immer griffbereiten Axt zur Seite und reckte seinem gegenüber das Gesicht ganz nah vor dessen – Nase an Nase. »Sei kein Narr Galoth, sie siedeln, ja und? Sie scheinen allerdings auch zu wissen, wie sie ihre Hintern zu verteidigen haben. Eine Hundertschaft der Brut bezwungen, das können wir von uns nicht behaupten. Ausserdem ist das dahinten eben nicht unser Tal«, zischte er seinen Gefährten entgegen.
»Tzzz, wir haben dafür andere Gegner, die wir zu bezwingen haben. Außerdem stehen auch Gouwors vor unseren Höhlen.«
»Sei‘s drum«, beschwichtigte Kabar und setzte sich zurück und legte seine Axt zur Seite. »Ich denke, dass sie die Geschichte mit den Gouwors nicht erfunden haben, um sich zu brüsten. Lass uns gehen und Aguschal berichten. Er wird wissen, was zu tun ist.«
Beide Naïns rafften ihr Zeugs zusammen und begaben, sich im Schutze der Schatten auf verschlungenen Pfaden des Gebirges, zurück zu ihrem Prinzen.