Große abgewetzte und vielerorts zerbrochene Steinplatten säumten bedingt durch Witterungseinfluss und mangelnde Instandsetzung das Gelände auf einer Breite von eineinhalb Längen und soweit das Auge reichte. Die Natur holte sich zurück, was ihr der Mensch einst in mühevoller Arbeit aberrungen hatte. Vor langer Zeit haben geschickte Steinmetze diese Platten mit ihren Maßen von jeweils einer Viertellänge zu jeder Seite, zu einer soliden Handelsstraße verlegt. Diese reichte von Middellande über Bregerans Handelshauptstadt bis hinauf zur Burg des damaligen Fürsten. Von der einstigen Prachtstraße war jedoch nichts weiter geblieben als Andeutungen, überstehende und zerbrochene Steinplatten, sofern diese nicht von Siedlern oder Invasoren entwendet wurden, um fortan für anderweitige Zwecke dienlich zu sein.
Folgend der alten Straße in westlicher Richtung ritt Elm‘emo durch Wälder und passierte verwilderte Ackerflächen. Nur selten erspähte er in der Ferne Siedlungen, in denen er gebunden an seiner Bestimmung haltmachte, um Gebrechen und Wunden fachkundig zu versorgen. Die hiesigen Ansiedlungen waren größer und organisierter als die, die man in Middellande auffand. Bewohner berichteten ihm, dass die Patrouillen der Brut seit Langem geringer geworden seien und dadurch die gesamte Mark relativ entspannt schien. Als Gegenleistung seiner Dienste erhielt er Verpflegung für seinen Ritt, oder bei nahender Dämmerung einen warmen Platz zum Ruhen. Erzählungen zur Folge haben sich die Invasoren in der verfallenen Burgruine des damaligen Fürsten eingenistet und ließen von Zwangsarbeitern ihres Volkes die noch brauchbaren Steinquader der Handelsstraße hinaufschaffen. Wozu sie diese Platten benötigten, konnte niemand zufriedenstellend beantworten und Spekulationen winkte er kurzerhand ab.
Der Hüter ließ sich vorsichtig und verhalten über ihre Träume und Wünsche erzählen, um so in Erfahrung zu bringen, ob sich die Bemühungen und Auflehnungen der Menschen aus Middellande bereits verbreiteten. Er versuchte anhand ihrer Schilderungen, ihren Berufen und Kenntnissen abzuwägen, inwieweit er einigen der angetroffenen Männern und Frauen ins Vertrauen ziehen durfte, um ihnen die Möglichkeit eines Neuanfanges zu bieten.
»Oben, im Nordosten. Nahe des Grenzverlaufes nach Middellande sollt ihr euch einfinden. Im Schutze des umliegenden Waldes werdet ihr auf einer Lichtung euer Lager errichten und Anderen, ebenfalls Wartenden, anschließen. Wartet auf den Reiter, der mit dem grünen Wimpel im Wind reitet«, bläute er ihnen ein, die seines Erachtens in Betracht kamen und die Reise ins Tal antreten sollten.
Sein Weg führte vorbei an verfallene Höfe und Weilern, deren verrotteten Überreste wie Gerippe zerfallener Urwesen aus dem Boden ragten. Am Horizont rückte die alte Handelshauptstadt Korint in Sichtweite. Gewaltsam zerstörte und eingefallene Wehrtürme reckten sich gen Himmel. Anzeichen einer wehrhaften Außenmauer verdeckten die Trümmer der Gebäude im Inneren der einst gewaltigen Stadt. Dort vor ihm wechselten zu glücklicheren Zeiten allerlei Handelswaren ihren Besitzer und wurden feilgeboten. Große Handelshäuser und Lager beherbergten Unmengen Bedarfsgüter sowie nutzlosen Tant.
Die alte Handelsstraße führte weiter in Richtung Nordwesten, bis hinauf zur Burg und etwas abseits seines Zieles, den verfallenen Hofschmieden vorbei. Da die Dämmerung hereinbrach, hielt Elm‘emo vor dem halbwegs erhaltenem Stadttor und stieg von seinem Pferd. Vorsichtig führte er es an den Zügeln kurzgehalten durchs Tor hindurch. Verstohlene Gesichter blickten aus den Schatten heraus und beobachteten ihn, doch niemand wagte es, sich zu nähern oder willkommen zu heißen. Mittig einer Wegekreuzung, gegenüber dem Tor verharrte er und sah sich um.
Laut rief er und hielt die Zügel weiterhin kurz. »Habt keine Scheu. Ihr solltet mich kennen, man nennt mich Dario. Dario den Reisenden. Mein Ziel sind die verfallenen Hofschmieden, doch möchte ich hier mit eurer Erlaubnis die hereinbrechende Nacht verbringen.«
»Ihr habt noch einen weiten Weg bis hinauf zu den Ruinen. Was beabsichtigt ihr dort zu finden?«, fragte ein älterer Mann, bekleidet in staubig schmutzigen Gewändern und trat mit einem Kurzschwert in der Hand hinter einem Mauervorsprung hervor.
»Ich stelle keinerlei Bedrohung für euch dar. Steckt bitte eure Waffen ein und tretet aus den Schatten. Ich bin keiner der Invasoren und befehlige keine Horde. Ich will mit den Erben der Schmieden in Handel treten.«
Der Sprecher betrachtete Elm‘emo und sein Pferd und schob sein Schwert in die, an seiner linken Seite baumelnden Scheide. Auf dieser Geste hin traten weitere Personen hervor oder erschienen in Türöffnung und schauten aus verängstigten Augen.
»Die Hofschmieden sind längst nicht mehr und kein Schmied schwingt mehr den Hammer. Nur ein einzelner Narr mit seinem Mündel treibt sich in den Bergen herum und behauptet, ein direkter Ahn derer zu sein. Ihr verschwendet eure Zeit, wenn ihr mit diesen beiden Handel treiben wollt. Kommt Herr Dario und teilt einen Platz mit uns. Euer Name wie auch Ruf eilen euch voraus«, erklärte der Sprecher und deutete auf einen Weg, gegenüber dem Tor.
»Ich bin Wilram und diene den Ansässigen Korints als Sprecher und Oberhaupt.«
»Darf ich euch als Gegenleistung für eure Mühen mit meinen Erfahrungen in der Heilkunde dienlich sein?«
»Nein, das braucht ihr nicht. Zum Glück.«
Elm‘emo betrachtete Wilram vorsichtig von der Seite her und versicherte sich dessen Äußerung und Bedeutung. »Niemand der euren ist verletzt oder leidet Gebrechen?«
»Wie ich bereits sagte, nein. Leichte Schnittwunden oder Stauchungen bedürfen keinerlei Heilkunde und Altersgebrechen könnt auch ihr nicht lindern.« Wilram hielt seinen Kopf stur geradeaus und würdigte den Hüter keinerlei Blickes – angenommen. Elm‘emo verspürte eine kribbelnde Unsicherheit in der Magengegend und beobachtete Umherstehende vorsichtig aus den Augenwinkeln. Er erblickte sehr wohl einige mit heilungsbedürftigen Wunden, wagte aber nicht zu widersprechen. Beide gingen sie nebenher durch einen vage freigeräumten Weg, der sie vorbei an komplett zerfallenen Gebäuden und zu einer großen Fläche führte. Scheinbar der alte Marktplatz, auf dem man Zelte und Lagerstätten errichtete.
»Hier halten wir uns zumeist auf, wenn wir nicht gerade den Luxus eines noch erhaltenen Wohngebäudes vorzuweisen haben. Ihr müsst mich und die Meinen entschuldigen, aber wir bekommen nur äußerst selten Besuch von außerhalb und sind deswegen sehr argwöhnisch. Die Horden Lord Inats sind seit langer Zeit beängstigend ruhig und das verunsichert uns.«
»Ich verstehe. Ich habe einen langen Weg hinter mir und bin die vergangene Tageswende hindurch geritten, um einer Patrouille weiträumig zu umgehen. Ich würde mich mit eurer Erlaubnis gern zu Ruhe legen, und Morgen zum Grauen aufbrechen.«
»Es ist noch ein ordentlicher Weg bis hinauf zu den Ruinen, mein guter Dario. Seid ihr sicher, dass ihr nicht eine Weile bei uns bleiben mögt? Ihr könnt euch hier bei uns hinreichend erholen und Geschichten erzählen.«
Die ausgesprochene Art und Weise ließ Elm‘emo innerlich aufschreien. Eine verborgene Drohung war nicht zu verkennen. »Das bin ich. Ich danke euch jedoch für euer Angebot. Ich kann euch nicht länger als nötig zur Last fallen und darf auch nicht meine Dienste des Heilens anbieten. Andere Siedlungen bedürfen sie vielleicht dringendst und so muss ich meiner Bestimmung folgen.«
»Nun denn. Wir sehen uns zum Morgengrauen. Nehmt dieses Zelt, es steht euch zur Verfügung.« Wilram deutete mit dem rechten Zeigefinger auf eines der umstehenden und blinzelte ihn finster entgegen. Elm‘emo zeigte keinerlei Reaktion auf die dargebotene Haltung, nickte der Einfachheit halber und begab sich zu der gewiesenen Unterkunft. Vor dieser blieb er stehen und streichelte seinem Pferd die Nüstern, nährte sich dessen gespitzten Ohren und fühlte die umgebene Unruhe. Mit seinem Kopf an die Ohren des Pferdes gebracht flüsterte er: »Wir fühlen gleich, mein Freund. Etwas an diesem Mann, an diesem Ort ist nicht so, wie es zu sein scheint. Dunkle Geheimnisse ranken sich an diesem Ort. Sei wachsam, mein Freund.«
Er kraulte es noch hinter den Ohren und versuchte so zu verschleiern, dass er mit dem Tier sprach. Er beließ seinen Sattel an seinem Platz und die Zügel frei hängen, um diese bei Bedarf schnell greifen zu können.
Keine freudigen Geräusche oder Gespräche drangen an seine Ohren. Die Menschen in dieser alten Stadt waren zu tiefst verängstigt oder haben sich vielleicht sogar auf die Seite des Feindes geschlagen. Er ließ sich auf die Knie sinken und krabbelte in das ihm überlassene Zelt, rollte sich in seine mitgeführte Decke und schlief schnell ein.