Das Gelände rund um den Pass-Weiler war wie ausgestorben, seit Ben mit seinem restlichen Gefolge zum See gezogen ist. Die Spuren der vielen Feuergruben und verkohlten Holzscheite waren gewissenhaft beseitigt. Aufgeworfene Erdhaufen, durch Abgrenzungen und zum Beschweren von Zeltbahnen wurden begradigt. Die Natur würde sich selbst um das größte Durcheinander des Umlandes kümmern, welches durch ungezählte umherlaufende Füße, Hufe und Karrenräder entstanden war. Niedergetretenes Gras richtete sich wieder auf oder wuchs nach.
Nur noch wenige Stellen zeugten von der ehemaligen niedergelassenen Zeltstadt. Die Gebliebenen, die künftig den Weiler bewohnten, kümmerten sich um den weiteren Ausbau ihres Heimes, bearbeiteten und bewirtschafteten weiterhin die Flächen des Umlandes. Seien es die Bauern auf dem Acker, die Holzfäller und Förster im Wald oder die Metzen im Steinbruch. Schreiner verarbeiteten geschlagenes Holz und bereiteten mit Helfern die noch zu bauenden Wohngebäude als auch eine gewünschte Errichtung einer Scheune, wo die Bauern nach der Ernte ihr Getreide zu Mehl mahlen wollten.
Am See hatten sich die Jäger mit ihrem Lager etwas abseits der Übrigen abgesetzt, um diesen durch ihre andauernden Waffenübungen nicht zu stören. Die gesamte Zeltstadt wurde nahe dem Ufer halbmondförmig errichtet und so in die Länge gezogen, anstatt wie zuvor am Pass in einem wirren Knäuel zu enden. Das Baugelände des künftigen Weilers war weiträumig, von Zelten der Arbeiter frei gehalten, um die benötigten Lastenkarren in der Nähe der jeweiligen Bauplätze zu stellen und Nachschub direkt vorfahren zu können. Viele der bereits im Vorfelde abgesteckten Plätze waren bebaut oder wiesen Vorkehrungen für eine solche auf und sollten planmäßig in den nächsten ein bis zwei Tageswenden bezugsfertig sein.
Korian, der erste Schreiner und seine Vorarbeiter hatten die bevorstehenden Bebauungen mit Ben besprochen und begonnen, Arbeiten für die Errichtung einer Obstfarm sowie das Haus des künftigen Fischers samt Steg vorzulegen. Angrol, der erste Steinmetz vom Pass-Weiler, hatte Nachricht geschickt, dass die nächste Lieferung zunächst in der kommenden Tageswende eintreffen solle. Die Ladung wurde bereits unlängst erwartet, da die Schreiner vor Ort mit ihren Bauvorhaben ins Stocken gerieten und ihre Arbeitskräfte auf den übrigen Baustellen aufteilen mussten. Vielerorts standen sich die Helfer selbst im Wege, weswegen Korian das Vorziehen der Fischerhütte und der Obstfarm vortrug.
Trotz des entstandenen Engpasses mit Stein, bedingt durch den großflächigen Umzug der Siedler, waren alle bestrebt und voller Elan. Sogar die älteren Kinder griffen zu umliegenden Schaufeln und halfen beim Ausheben der Gruben für Fundamente oder beim Tragen von benötigtem Material. Einige Male waren sie allerdings zu klein, um den kräftigen Männern beim Schleppen der Balken zur Seite zu stehen. Dort wo sie es dennoch versuchten, beim Aufwuchten auf Schultern behilflich zu sein, wurden sie kurzerhand und zur Belustigung Umherstehender an den Arm baumelnd mit weggetragen. Frauen sammelten im Apfelhain, nahe der Siedlung, loses Geäst und schafften diese als Brennmaterial zu den Holzhaufen neben den Zelten. Andere trennten genießbares Fallobst von Ungenießbarem, pflückten leicht zu erreichende Äpfel und steckten diese den Kindern, die noch zu klein zum Helfen waren, zu. Es war ermunternd und erfreulich zu sehen, wie sich die Kleinen mit quiekend kreischenden Lauten bedankten und jedem Stolz ihren gereichten Schatz zeigten. Zwei Familien mit erwartendem Nachwuchs hatten sich bereit erklärt, den Obsthain als Farm auszubauen, und begonnen, junge kräftige Bäume zu versetzen sowie alte und morsche, die kein Obst mehr tragen würden, zu fällen. Ben und Jarik standen nebeneinander am Ufer des Sees und beobachteten die Betriebsamkeit ihres Volkes, nachdem sie ausgiebig mit einigen der Jäger über Fischfang und mit einigen Frauen über deren möglichen Zubereitungen diskutierten.
»Sieh sie dir an. Mit den gesammelten Erfahrungen am Pass-Weiler sollten wir an diesem Örtchen noch zügiger vorankommen, zumal die innere Bebauung bereits weit fortgeschritten ist.«
»Davon dürfen wir ausgehen, Jarik. Es ist schön, die Leute lachen und singen zu sehen.« Er deutete mit der Rechten hinüber zu den Obstbäumen. »Schau, ein Apfel und schon strahlt die Kleine bis zu den Ohren. Als wenn Sorgen und Trübsal nie existiert haben«, freute sich Ben mit vorgestrecktem Kin.
»Ja. Ich wünsche uns allen, dass dem so bleibt. Was denkst du, wann Yaeko mit dem Nachschub eintrifft?«
»Ich gab ihm genügend Zeit, um den Tross ordentlich vorzubereiten. In den kommenden Tageswenden erwarte ich Nachricht. Wir sollten schauen, dass bis dahin der innere Bauabschnitt sowie die freien Höfe bezugsfertig sind. Wenn die neue Kolonne ankommt ...«, er zeigte abermals mit der Rechten, diesmal jedoch hinüber zu den Zelten. »... wird die Zeltstadt aus allen Nähten platzen. Wir wissen nicht, wie viele Leute Eric um sich geschart hat.«
»Das könnte eine ernüchternde Erfahrung werden, zumal wir dann noch mehr hungrige Mäuler zu versorgen haben.«
»Auch das wird uns gelingen. Interessant werden jedoch deren Moral und Eingliederung.«
Jarik schaute sich verdrießlich umher und rückte mit seinem Kopf näher an Bens heran um nicht allzu Laut sprechen zu müssen. »Sage mal, was wird aus dir und dem Mädchen?«
»Hm, welches Mädchen meinst du«, fragte Ben zerstreut und blickte seinen Freund erwartungsvoll an.
»Oh, hast du doch mehr Verehrerinnen? Ich meine natürlich die Kleine vom Schreiner, diese Lerina. Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie dich geküsst und nicht umgekehrt. Nicht dass es mich was angeht, aber nicht nur ich hab euch so allein vorm Pass-Weiler gesehen.«
»Ach, ...« Ben winkte gelassen ab. »... was soll mit ihr schon sein. Sie ist hübsch und scheint mich irgendwie zu mögen«, versuchte Ben mit einer gelangweilten Ausdrucksweise die Situation abzuwerten.
»Hübsch. Irgendwie?«, blaffte Jarik mit schüttelndem Kopf und nährte sich Bens linkem Ohr, um ihm seine Meinung zuzuflüstern.
»Unter uns. Eine Frau, noch dazu so eine Schönheit, die ständig in deiner Nähe umhersäuselt und dich ungefragt küsst – Junge, sie hat sich in dich verliebt.«
Nun war es an dem Fürsten, unsicher und erschrocken dreinzuschauen. Seinem Gegenüber einen Vogel zeigend grunzte er vor sich hin, hauchte leicht säuerlich und zog die Augenbrauen zusammen. »Du spinnst ja. Ich kenne sie nicht einmal, da verliebt man sich doch nicht so einfach.«
Jarik verzog schmollend den Mund und klopfte seinem Freund beschwichtigend auf die Schulter. »Geenauu. Und weil außer dir niemand sonst mitbekommt, was sich da anbahnt, tuschelt ja auch keiner. Schon gar nicht über euch beide.« Er schnaubte belustigt und schüttelte breit grinsend den Kopf. »Benjamin, du bist zwar jetzt mein Fürst, aber zugleich auch mein Freund. Ich erlaube mir deshalb, Dinge offen anzusprechen. Vor allem solche.«
»Ach Jarik, Lerina ist mehr als nur hübsch, ja. Ich bemerke auch ihre Versuche, sich mir zu nähern. Das Getuschel hingegen ist mir völlig egal, sollen sie doch denken, was sie wollen.« Seine Stimme wurde leiser, einem hauchen nah. »Sie ähnelt meiner Verlobten in meiner Welt zu sehr. Ich kann mich nicht einfach einer Neuen hingeben«, gab Ben niedergeschlagen zu und beobachtete ebendiese Frau aus dem Augenwinkel. Verführerisch rekelte sie sich am Ufer des Sees und ließ ihre Füße im See baumeln. Kinder liefen und sprangen um sie herum und spritzten ihre immer wieder vergnügt Wasser entgegen. Ihr herzliches Lachen vereinigte sich mit dem der Tollenden.
Jarik schürte die Lippen. »Sie kann gut mit ihnen, nicht? Korian erzählte mir, dass sie sich neben dem Kinderhüten mit Kräuterkunde beschäftigt. Wusstest du das?«
Da Ben nicht antwortete und vorgab in eine andere Richtung zu sehen, als zu Lerina, knuffte Jarik ihm in die Rippen.
»Was? Oh ja. Geb dir recht.«
»Na klar, verstehe«, kommentierte Jarik kopfschüttelnd und winkte mit der rechten hinüber zur Badenixe, die den Gruß freudig erwiderte und seinem Freund so zwang, aus seinem Tagtraum zu erwachen und die Geste zu beantworten.
»Kannst du mit Gewissheit sagen, dass du jemals wieder in deine Welt zurückkehren wirst?«
Ganz leise vor sich hinmurmelnd beteuerte er eine Verneinung. Das Gefühl vom wispernden Wind, welches er am Pass-Weiler wahrgenommen haben wollte sowie dessen Bedeutung mochte er seinem Freund nicht vorenthalten und hoffte so, eine zweite Meinung zu erhalten. So bedeutete er ihm, ihm ein paar Schritte aus Hörweite der anderen zu folgen, um ihm die Geschichte anzuvertrauen. Beginnend, nach seiner Ernennung bis zu diesem seltsamen Gefühl bis zum Kuss Lerinas, ließ er nichts aus oder beschönte sein Empfinden. Auch sein Begehren nach Zärtlichkeiten und dem Wunsch mit ihr die Nacht zu teilen gab er offen zu.
»So, wie du das erzählst, läuft es einem eisigkalt den Rücken herab. Aber in Anbetracht diesem, scheint mir meine Beobachtung mit deiner Verletzung am Auge in gewisser Weise zusammenzuhängen.«
Ben blieb abrupt stehen und drehte sich Jarik zu. Da er nicht wusste wohin mit seinen Armen, verschränkte er diese vor sich. »Wie meinst du das? Was ist mit meinem Auge?«
»Du erinnerst dich an unsere erste Begegnung, wo Eric deine Wunde reinigte?«
»Nur zu gut«, bestätigte Ben kopfnickend. Er löste sich aus seiner steifen Haltung und seine Mine wurde ausdruckslos, als ihm bewusst wurde, worauf sein Gegenüber hinaus wollte. Sein rechter Zeigefinger verharrte auf halbem Wege, vollendete sodann aber die Bewegung. Er befühlte die Stelle, wo sich die Wunde befand, um die Narbe zu ertasten. »Was ....«
Jarik nickte und hob erkenntlich die Brauen. »Du denkst scheinbar dasselbe, wie ich. Eigentlich sollte eben an jener Stelle ein Wundmal zu sehen sein.«
Ohne weiteren Kommentar kniete Ben rasch nieder und begutachtete sein rechtes Schienbein, wo definitiv eine Narbe vorhanden sein musste. Dort zog er sich nämlich in seiner Welt bei der letzten Meisterschaft einen üblen Schnitt zu, als sein Gegner ihm die Schneide des Schwertes durch den Schutzanzug jagte und folglich dessen aus dem fortlaufenden Wettkampf zwang. Die Wunde war so tief, dass sie genäht wurde. Nur bedingt der erreichten Punkteanzahl konnte er auf dem Siegertreppchen verweilen und sich den Titel des Vizeweltmeisters sichern.
»Sie ist weg«, hauchte er verängstigt und schaute achtsam um sich, ob jemand sie beobachtet.
»Wer oder was ist weg?«
Ben schob sein Bein ein wenig vor und deutete mit der Hand die Stelle an, an der sich eindeutig hätte eine Narbe befinden müssen. »Hier, genau an dieser Stelle. Ich hatte genau hier eine Narbe, eine die genäht wurde.« Mit Nachdruck sprach er weiter. »Sie ist weg.« Verunsichert und verstreut erhob er sich und starrte seinem Freund entgegen.
»Ich hab sie nicht, schau mich nicht so an.«
»Was hat das zu bedeuten? Wundmale, die vorhanden sein sollten, können sich nicht einfach in Luft auflösen.«
Abwehrend hob Jarik die Hände und zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid. Ich weiß es nicht. Aber womöglich hängen diese Dinge miteinander zusammen. Wenn doch nur die Geschichten stimmen, wir könnten darauf und auf vieles Andere garantiert Antworten erhalten.«
Da er seinem Freund und Fürsten ansah, dass er nicht verstand, erklärte er seine Äußerung. »Damals, nach dem letzten Kampf, als die übrigen der Schwertmänner flohen. Man hat nie den Leichnam des Hüters gefunden. Überlieferungen zur Folge will ein Beteiligter gesehen haben, wie sich ein Unbekannter unter den Flüchtenden aufhielt und fortan als Kundiger in der Heilkunst und Geschichte durch die Marken streifte. Vermutungen zu urteilen, sollte es sich um den todgeglaubten Elm‘emo handeln. Der letzte jener Gemeinschaft von Hütern, der den Menschen die Treue geschworen hat. Einige von ihnen konnten ihre wahre Gestalt ändern, sodass man von diesem Gedanken nie ganz abwich. Er sollte uns sagen können, was mit dir passiert. Sprich mit Korian, er weiß mehr über solche Dinge.«
»Wieso ausgerechnet unser erster Schreiner, was hat er damit zu tun?«
»Angeblich hat sich seine Familie einst mit dem Blut dieser Wesen vermischt, weswegen in unregelmäßigen Abständen eine Linie des Geschlechtes zu einem der Hüter wurde. Meistens jedoch wurden sie einfach nur deutlich älter als die Übrigen oder litten unter keinerlei Krankheiten. Ich weiß nicht, ob der Tratsch stimmt, aber es kann nicht schaden, ihn ins Vertrauen zu ziehen.« Jarik verzog die Lippen zu einem Lächeln – einem Ehrlichen und gut Gemeintem. »Er ist schließlich der Vater jener, die du anhimmelst.«
Ben schubste seinen Freund von sich, der sich lachend wieder aufrichtete.
»Gut, du hast recht. Er hat sich stets als vertrauenswürdig erwiesen und hat es verdient. Ich werde ihn bei nächster Gelegenheit darauf ansprechen. Danke.«