»Fendrik, Eric – seid ihr in Ordnung? Wie steht es um eure Männer?«
»Soweit ja. Diese verfluchte Brut hat uns ganz schön eingeheizt und wir haben das tägliche Training sträflich vernachlässigt.«
»Vor allem den kämpfenden Beritt. Die Strafe dafür haben wir heute erhalten«, Eric deutete betrübt mit dem Kinn über das Chaos des Schlachtfeldes.
»Benjamin, wo steckt Yaeko? Ich habe ihn seit eurem Eintreffen nicht mehr gesehen.«
»Er kümmert sich noch um die Gefallenen und reitet anschließend nach Neumark, um für ausreichend Heilkundige und Verbandsmaterialien zu sorgen. Fast fünf Zehnen hat es erwischt und nur zwei einzelne von ihnen stammten aus meinem Beritt.« Mit dem Tadel versah er seine beiden Freuden mit vorwurfsvollen Blicken, die betrübt die ihren senkten und zu Boden starrten.
»Das war uns eine harte Lehre, davon kannst du ausgehen. Wir und unsere am Leben gebliebenen schwören dir, mehr Zeiten auf die Kampfübungen zu legen als je zuvor.«
»Gibt es noch Flüchtige der Brut, oder konnten deine Männer sie allesamt niederreiten?«, versuchte Eric die schmachvollen Bemühungen seines besten Freundes so zu bremsen.
»Einer, Eric. Gehüllt in eine zerschunden graue Robe, ähnlich wie die eures Begleiters, der mir noch dazu seltsam bekannt vorkommt. Egal, er hat dieses Wesen gestellt und hält es magischen gefangen.«
»Du bist enttäuscht von uns«, stellte Fendrik unnötigerweise fest.
Ben, der sich bereits auf dem Weg zu der zerlumpten Gestalt machte, blieb abrupt stehen und drehte sich ihm zu. »Soweit ich im Pass erkennen konnte, habt ihr uns mehr als nur den entsprechenden Nachschub entsendet, den wir besprachen. Ihr habt darin eure Aufgabe gesehen und dafür die Ausbildung der Kämpfenden, jenen, die diese Mark beschützen sollten, vernachlässigt. Ihr habt den Tod vieler zu verantworten. Dies wird euch beiden mehr schmerzen oder beschäftigen, als jedwede Strafe, die ich verhängen könnte. Vorerst wird kein weiterer Nachschub mehr die alten Marken verlassen, um in Neumark Zuflucht zu suchen. Lasst uns jetzt sehen, was euer geheimnisvoller Begleiter eingefangen hat.«
Fendrik sah müde auf und wollte den Mund zu einer erneuten Frage öffnen, als ihm Eric vors Schienbein trat und mit dem Kopf schüttelte. »Er gibt uns eine Chance, belass es dabei.«
Ben winkte einen seiner Männer herbei und erteilte ihm die Anweisung, dass sich die stehenden Passwächter zurück auf Posten begeben und die Menschen des Trosses über den Verlauf des Angriffes unterrichten. Ein weiterer Bote soll nach Neumark reiten und ein vorgeschobenes Lager am Zugang des Passes einrichten. Verpflegung und genügend Wasser sollten für die nahenden bereitstehen.
Gemeinsam gingen die drei Freunde hinüber zu Elm‘emo, der den Eingefangenen in seiner Sphäre hielt und aus verengten Augen beobachtete. Der Gefangene stand wie angewurzelt darin und hatte seine Hände verkreuzt, sodass es aussah, als würden die Ärmel der Robe ineinander übergehen. Sein Blick fiel stur nach unten und er sprach kein Wort.
»Ah, da seid ihr ja. Dieses Wesen hier verfügt über keinerlei Kraft mehr, sich mir oder sonst wem zu wiedersetzten. Nur noch ein Schatten seiner Einstigen selbst. Eure Reiter hätten ihn auch ohne meine Hilfe leicht erledigen können.«
Ben besah Elm‘emo mit einem unbekümmerten Seitenblick, so als würde er ihm mitteilen wollen, nicht nach seiner Meinung gefragt zu haben. Er verschränkte seine Hände hinter dem Rücken und trat näher an die Sphäre heran. »Wer oder was ist es?«
»Einer der meinen. Ein Hüter, wie ihr Menschen sagt.« Elm‘emo verzog angewidert das Gesicht und spuckte aus. »Einer der sich durch Lügen und falschen Versprechungen auf die Seite Inat schlug.«
»Und ihr? Ihr seid demnach auch einer dieser – Hüter? Dario erzählte mir einige Geschichten über diese Wesen. Was unterscheidet euch von diesem hier«, stellte ihm Ben mit leicht nach rechts angewinkeltem Kopf die Frage.
»Fürst Benjamin, ich weiß, dass das momentan noch reichlich abstrus klingen mag. Aber ich, hingegen zu diesem Abschaum, bin stets auf der Seite der Menschen gewesen und werde es immer bleiben. Genauso wie einst mein Pretus, der gute Herr Os‘tono.«
Ben schlenderte aufmerksam um den ruhig dastehenden Gefangenen herum und versuchte so alle Eindrücke in sich aufzunehmen. Bis er direkt vor ihm stehen und den Blick auf sein Gewand haften blieb. »Sagt mir eines, Hüter – Elm‘emo. Ihr wart es, der mir diese Geschichten erzählte. Ihr wart es auch, der die vielen Jahre durchs Land zog und seine Dienste als Heilkundiger und Gelehrter dem Volk anbot.« Sich ihm zudrehend und forschend seine Gesichtszüge betrachtend, fuhr er fort mit seiner Feststellung. »Ihr wart – nein. Ihr seid Dario.«
Der nunmehr Erkannte bewegte keinerlei Mine, nicht einmal die Mundwinkel zuckten. »Ihr habt mich ertappt. Allerdings erkannte ich mich selber erst kürzlich wieder, als der Runenstein seine Aufgabe erfolgreich erfüllte und euch nach Rongard trug. Ich konnte und durfte mich nicht eher zu erkennen geben, bis der Stein die Ereignisse ins Rollen brachte.«
»Hm verstehe, nur werden wir beide uns darüber noch ausführlicher unterhalten. Ich habe Fragen, auf die ich Antworten verlange.«
Sein Gegenüber nickte indessen und erwiderte sein Einverständnis.
Der gefangene Abtrünnige hob langsam den Blick und richtete diesen auf Elm‘emo. »Du«, geiferte dieser abstoßend. »Wie konntest du dich die vielen Jahreswenden hinweg vor ihm verstecken? Wir besungen deinen Tod, den vom Pretus und den deinen.«
Ben näherte sich ihm, stellte sich direkt zwischen den beiden und suchte Augenkontakt, so als versuche er ins Innere seiner Gedanken zu schauen. Dieser riss ungläubig die Augen weit auf, ganz so als erkenne er augenblicklich die Wahrheit und fing an zu stottern. Schweiß bildete sich auf seiner fahlen Stirn und lief den Schläfen entlang. »Nein, nein, NEIN. Das darfst du nicht.« Abwehrend hob er die Hände, als wolle er sich vor Schlägen schützen. »Es kann nicht sein, es ist unmöglich, NEEIIN!«
Ben neigte interessiert den Kopf nach rechts, schaute noch eindringlicher und kniff die Augen enger zusammen. Ein einzelner Schweißtropfen ran ihm von der Stirn, obwohl die Luft nicht mehr so heiß war wie zu Sonnenhoch. Auch atmete er vollkommen ruhig und flach.
»Was passiert da?«, flüsterte Fendrik zu Elm‘emo, der ebenso wenig begriff und bedeutungslos die Schultern zuckte. »Ich weiß es nicht, ahne jedoch, dass die beiden einen gedanklichen Kampf ausfechten.« Leise flüsterte er zu sich selbst. »Os‘tono, alter Freund. Was gabt ihr diesem Mann mit auf seinem schweren Weg?«
Ein erstickendes Geschrei halte aus der Sphäre über den Schauplatz des Gefechtes und ließ Umstehende erschrocken aufsehen. Der Gefangene krampfte, als leide er unter qualvollen Margenschmerzen. Seine Füße schabten den Boden, seine Finger verkrampften sich klauenartig und sein Kopf drehte sich ruckend von links nach rechts. Ein letztes unerwartet ruckartiges Aufbäumen seines Körpers, begleitet von einem verheißungsvollen Knacken brachte die umschließende Sphäre letztlich zum Zusammenbruch. Sie erblasste und Ben packte dem in sich Zusammenfallenden mit der Rechten beim Kragen, bevor dieser zu Boden schlagen konnte. Mit der Linken griff er in dessen verschlissene Robe und förderte einen runden Stein aus dieser, den Elm‘emo mit weit aufgerissenen Augen sofort ergriff und in den Saum seiner eigenen Robe hüllte.
»Einen Sack, schnell«, rief er und legte einen gehetzten Blick auf.
Ein umherstehender der Naïns griff sich an die Seite und zog einen ledernen Beutel hervor, dessen Inhalt – Brotreste – er unbekümmert vor sich ausschüttete und dem Hüter reichte. Dieser ergriff hektisch nach dem Gebotenen, stülpte diesen über den Stein und verknotete die Öffnung. Er sah die Umstehenden an und schüttelte sein graues Haar. »Wir dürfen diesen niemals betrachten oder benutzen. Dieser Gegenstand, ein Sprechstein, ist das Werkzeug Lord Inat.«
Als sei diese Antwort ausreichend, schubste Ben den Leichnam angewidert von sich und wischte die Hände am Boden ab.
»Was hast du getan, Benjamin? Wie hast du ...«
»Keine Ahnung, Fendrik«, winkte er beiläufig ab. »Ich konnte seine finsteren Gedanken spüren, als ich ihm in die Augen sah. Etwas in mir – ich kann es nicht richtig in Worte fassen, aber – irgendetwas in mir hat mit diesem Wesen gekämpft.«
»Das war äußerst interessant. Darf ich kurz?« Elm‘emo hob seine Handflächen in Richtung Bens Schläfen und wollte diese berühren, hielt sich sodann doch zurück.
Ben nickte zustimmend. »Nur zu.«
Elm‘emo legte nur die ersten Fingerglieder seiner geöffneten, flachhaltenden Hände an dessen Schläfen und schloss konzentriert die Augen. Er murmelte dabei verständnislose Worte und nahm mit einem Seufzer seine Hände wieder herab. »Es ist nichts Bedrohliches, so viel kann ich vorab sagen. Auf dem Weg nach Neumark werde ich jedoch etwas nachdenken müssen und möchte bei Zeiten mit dir darüber reden, Benjamin.«
»Nichts Bedrohliches, also. Na dann. Wir werden uns eh zu gegebener Zeit unterhalten. Sparen wir uns also die Zeit. Wir sollten unseren Toten die letzte Ehre erweisen und schauen das wir von hier fort kommen.«
»Achtundvierzig, Herr. Wir haben sie jeden für sich, der Erde übergeben und wie es die Tradition verlangt mit dem Schwert in der Hand.«
Alle Kämpfer, auch die Naïns, stellten sich um die frisch aufgeschütteten Gräber herum auf und neigten die Köpfe in stiller Zwiesprache.
»Bis auf zwei kannte ich leider keinen von den hier Gefallenen. Sie starben tapfer und in Anbetracht ihrer Aufgabe, den Tross ziviler Menschen zu beschützen. Wir wollen ihnen nach alter Tradition willen, den Geleit in die ruhmreichen Hallen der Ahnen gewähren.«
Die Krieger griffen nach ihren Schilden und Schwertern. Fendrik übernahm das Wort auf ein Kopfnicken von Ben und zelebrierte den Treueeid, dabei fing er leise und langsam an, mit dem Schwertknauf auf sein Schild zu klopfen. Alle anderen machten es ihm nach und das verhaltene Trommeln vieler Schilde klang wie ein im vollen Galopp reitender Beritt. »In Treue fest, dem Volke Gefahr bedroht, mein Pferd mich trägt zu dessen Not, soll Eile sein stets das Gebot.«
Das Trommeln auf den Schilden nahm an Intensität zu, als sie die Geschwindigkeit anhoben, bis dies zu einem ohrenbetäubenden Tosen anschwoll und abrupt mit einem letzten donnernden Schlag verklang.
»Mögen unsere gefallenen Kameraden ehrvoll in den ruhmreichen Hallen der Ahnen eintritt erhalten«, beendete Ben die Zeremonie.
»Wir reiten zurück ins Lager und wollen um unsere Kameraden trauern. Wir werden uns um weitere Ausbildung und Übungen kümmern und diese getreu deiner Vorgaben vorantreiben. Niemals wieder wollen wir so einen Fehlschlag erleben.« Mit diesen versprochenen Worten verabschiedeten sich die Freunde erneut voneinander und die Beritte trennten sich.
»Ihr tapferen Herrn Naïns«, begann Ben. »Ihr habt uns furchtlos in der Not zur Seite gestanden und ich möchte mich dafür von Herzen bedanken. Richtet eurem König meinen innigsten Dank als auch meine Einladung aus. Wir fühlen uns geehrt, wenn er uns seinen Besuch erweist und wir eine dauerhafte Freundschaft zwischen unseren Völker knüpfen können.«
»Ich werde es meinem Vater ausrichten, Fürst. Über eure Einladung wird er sich freuen, zumal er immer bestrebt ist, alten Bündnissen die Treue zu halten, weswegen wir auch heute an eurer Seite standen.«
Fürst und Prinz reichten sich die Hände und besiegelten ihre Worte.
»Unser Weg führt ebenfalls ins Tal hinein. Da wir uns nunmehr nicht verstecken müssen und wollen, möchten wir die Gelegenheit nutzen, mit euch zu ziehen. Auf dem Weg können wir uns unterhalten und so einander besser kennenlernen.«
»So soll es sein, Prinz Aguschal.«
»Bitte, nur Aguschal. Das förmlich ist mir zu überschwänglich und könnte jedes Mal spucken bei so viel Geschwafel.«
»Also gut, dann nennt mich ebenso schlicht, Benjamin. Auf Dauer wird mir die wohl dann zu reinigende Rüstung zu aufwendig.«
Beide schenkten dem Gegenüber musternde Blicke und verzogen lächelnd die Mundwinkel. Andere schauten sich nur an und erkannten den Zusammenhang erst, als beide in Gelächter ausbrachen, als sie in unwissende Gesichter blickten.
»Auf auf, ihr tapferen Pferdeherren und Naïns. Benjamin und ich wollen Heim«, bellte der kleine Mann – Naïn, Prinz seines Erbes.