Das weiträumige Gelände, ringsherum des Fischgrund-Weilers war belebt, wie es die Menschen Rongards noch nie erlebten. Überall wurde laut und ausgiebig gefeiert. Es wurde getanzt, gelacht und gesungen. Die Naïns gesellten sich unter ihre Verbündeten, waren sogar allerorts willkommen und blieben nirgends ausgeschlossen.
Das Zelt, indem sich Ben mit seinen Freunden und Goram mit seinem Sohn aufhielten, war hell beleuchtet. Der Tisch vor ihnen stand beladen mit gefüllten Bechern und ordentlichen portionen Fleisch, Obst und Brot einladend da. Goram reichte Ben ein zusammengerolltes Pergament und erklärte ihm, um was es sich dabei handele. Eine nach Naïnart gefertigte Karte des Tales, welches die Pferdeherren, Mark nennen. Thanh wurde augenblicklich hellohrig, schaute seinem Fürsten beim Betrachten jener aufgeregt über die Schulter und nestelte mit den Fingern immer wieder an dieser herum.
»Mein guter Goram, diese Karte ist uns und meinem neugierigen ...« Ben schielte grinsend über seine Schulter hinweg. »... Kartografen sehr willkommen. Wir haben bisher den nördlichen Bereich der Mark außer Acht gelassen und wissen nichts über dortige Geländeeigenschaften. Euer Geschenk hilft uns, diese zu berücksichtigen und spart uns vieles an Zeit.« Er betrachtete weiter die eingezeichneten Landmarken und deutete mit dem Zeigefinger nordöstlich auf eine markierte Höhle. »Was befindet sich hier?«
»Das dort, mein Freund, ist der Zugang zu unserem Heim. Ein Plateau und ein ausladender Gipfelsee erstrecken sich in einem umschlossenen Trichter. Einem Uralten, vor ewig langer Zeit erloschenem Vulkan. Nur unseren fleißigen Steinschlägern und Baumeistern ist es zu verdanken, dass wir den See teilweise, mittels Zisterne, überbauen konnten, um so die bebaubare Landfläche zu vergrößern. Unter den meinen, die, die mir noch verblieben sind, sind überwiegend Oberweltler und haben ihr Leben lang an dieser gelebt. Dieser Lebensweise zum Dank, verfüge ich noch über ein Volk, über das ich wachen darf.« Des Königs Blick verfinsterte sich und Trübsal überschattete sein Antlitz. »Die wenigsten erinnern sich noch an die prächtigen Hallen im Inneren des Brehin.«
»Ein Trichter in den Gipfeln, ein alter Vulkan?« Thanh kratzte sich gedankenverloren am Kinn und brütete an markanten Stellen der Karte.
»Ganz recht, ein erloschener Vulkan. Meine Steinschläger sind wahre Künstler, sie haben zwei kleine Wasserfälle genutzt, um ein Bildnis unseres ersten Königs zu formen, aus dessen Augen diese, als Tränen den See füllen.«
Goram erzählte den Anwesenden über den Beginn des Ausbaues, als ein ausgesandter Trupp diesen wundervollen Platz erspähte und wie sie von der Höhle aus beginnend einen Tunnel zu diesem Plateau in den Fels trieben. Es war ihr bestreben, ihre Stadt bequem von der Sohle des Tales aus betreten zu können. Bereits zwei von drei Bauebenen habe man gebaut und weitestgehend fertiggestellt. Auch von dem angrenzenden Schacht berichtete er, der weit in den Berg hinabführte und niemand dessen Tiefe kannte, oder je erkundete. Keiner wusste, wo dieser endete, noch wohin er führte. Seit Baubeginn schüttete sein Volk stets den baulich anfallenden Schutt in diesen und ließ regelmäßig das abfließende Quellwasser, welches den hiesigen See in der Mark speiste, hineinleiten. Um jedoch diesen zentralen See und seine Fauna nicht zu gefährden, entschloß man sich dazu, das Bachbett, welches zum Sichelgraben führte umzulenken. Die Baumeister wollten so den Bauschutt verdichten, sodass die immer wieder aufsteigenden Morroval keine Möglichkeit bekamen, sich fortlaufend einen Weg an die Oberfläche zu graben.
»Verstehe ich euch richtig, ihr baut dort oben auf dem Berg eine Stadt? Obwohl ihr nur einhundert Köpfe zählt, errichtet ihr für mehr als die fünffache Anzahl?«
»Korrekt Benjamin. Wir bauen deshalb so großzügig, da wir von dem Tag träumen, indem wir es schaffen in unsere angestammte Heimat einzudringen. Unser Ziel ist es, zumindest eine der Traumhallen zu erreichen, um einen Teil unserer schlafenden Brüder und Schwestern zu befreien.«
Ben legte sein Kinn gedankenschwanger in die hohle Rechte, dessen Ellenbogen bereits auf dem Tisch auflag. Er sah in die Leere, ohne einen fixen Punkt vor sich zu haben. »In Ordnung, ihr und die euren. Ihr seit Baumeister was die Bearbeitung von Stein und Stahl betrifft, soweit einleuchtend. An eurer Stadt grenzt eine unbekannte tiefe Schlucht, die in den Berg steil hinabführt. Man kann keine Männer ...», er zeigte mit dem Finger der vorgehaltenen Hand auf Goram und fuhr fort. »... Naïns dort hinab schicken, um diese Mordo...«, er schüttelte mit runzeliger Stirn den Kopf, bekam den Namen jedoch nicht fehlerlos über die Lippen.
»Morroval«, half Aguschal ihn auszusprechen.
»Ah danke. Also, um diese Morroval direkt anzugreifen.«
»Ja. Der Abstieg oder das Abseilen ist uns bisher nicht ergeben, und nach wenigen Längen verschlingt einen die Dunkelheit. Wir haben bei der Schlucht zwei verstärkte Wachposten errichten, die wir ständig besetzt halten, um auf alles, was sich aus dem Schacht wagt, Pfeile und Speere zu lösen. Unmengen Schutt wurde bereits abgekippt, aber diese Viecher schaffen es immer wieder, sich daraus hervorzugraben. Wir wissen nicht einmal, welche Ausmaße der Schacht nach unten hin hat, sodass wir in der Lage wären, die benötigte Menge zu berechnen.«
»Mmh. Wie können wir euch dahin gehend behilflich sein?«
Der König der Naïns musterte seinen Gegenüber durch zusammengekniffene Augen, um die offene Fragestellung auf versteckte Forderungen hin abzuwägen. Eine gefühlte Ewigkeit verging, als dieser mit dem Kopf schüttelte und einen tiefen Schluck aus seinem Becher hinunterkippte.
»Wenn ihr uns in regelmäßigen Abständen Männer zur Unterstützung entsendet, können wir so, unsere Handwerker entlasten, um diese von den Waffen zu bekommen.» Schmunzelnd fügte er bei: »Die treffen eh nur selten etwas und dann sollte es sich auch bitte nicht bewegen.«
Verhaltenes Gelächter und Grinsen umspielte die Gesichtszüge der bereits angeheiterten.
»So soll es geschehen. Wir werden euch eine stehende Schar an den Wehrposten positionieren und euren Naïns so den Rücken frei halten.«
»Im Gegenzug mein lieber Fürst, möchte ich eure Steinmetze und fähigen Schreiner von unseren begabtesten Baumeistern anleiten lassen. Man hat mir von dem Steinbruch erzählt und wie eure Mannen den armen Stein quälen. Mit etwas Führung und Lernwillen könnt ihr ohne Probleme mindestens die zehnfache Menge an soliden Materialien fördern. Auch wird es unlängst Zeit, dass dieses gebeutelte Volk aus diesen schäbigen Zelten herauskommt.«
»Sie leben bereits seit vielen Jahren in diesen schäbigen Zelten, werter Herr König«, spuckte Thanh angewidert aus, als er gedankentief von dem geschenkten Kartenmaterial aufsah. Ben legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm und bedeutete ihm die lose Zunge im Gehege zu lassen oder anderweitig den Platz zu verlassen.
»Ein verlockendes Angebot, König Goram. Nur, wie sollen wir und vor allem das Volk so etwas bewerkstelligen. Was schlagt ihr vor?«
Dieser donnerte frustriert seinen fast leeren Becher auf den Tisch und sprang auf die Beine. Wütend blickte er von seinem Sohn zu Thanh und zu den übrig Anwesenden, die verunsicherte Blicke tauschten.
»Ach verflucht noch eins. Ich hasse dieses förmliche Geschwafel«, bellte Goram erbost, der ohne Vorwarnung ein heiteres Grunzen von Aguschal erntete und alle Zuhörer, allem voran von Ben verständnislose Blicke erhaschte.
»Ich habe mich schon gefragt, wie lange du das wohl noch ausstehst. Entschuldigt mich, aber mein Vater hasst dieses höfische Geschwafel bis aufs Blut.«
Vater und Sohn wechselten strenge Blicke und hielten sich sodann prustend die Bäuche. Jarik verzog unverstanden die Brauen und suchte aufklärenden Rat bei seinem Fürsten, der scheinbar selber nicht recht wusste die Situation zu urteilen.
»Nun schaut nicht so bedröppelt. Ich kann diesen kratzbuckelnden Murks halt nicht ausstehen. Ich heiße von Geburt an Goram, punkt aus.«
»So nennt mich ebenfalls beim Namen«, erwiderte Ben und ergriff die ausgestreckte Rechte.
»Gut, nun können wir auch endlich ungeniert quatschen. Du, Thanh entschuldige meine Äußerung, aber ich brauche mal eben die Karte, ich will euch was zeigen.« Goram griff nach der gereichten und tippte mit seinem kleinen dicken Zeigefinger auf eine Stelle hoch im Norden. Alle Anwesenden beugten sich gespannt über den Tisch und betrachteten die gezeichneten Landmarken, deren Lage und Topografie sie äußerst detailliert nahegebracht bekamen. Laut Legende und Ausführungen bildete der gezeigte Bereich einen gewaltigen Einschnitt, der auf gesamter Breite halbmondförmig mit einem Spalt, den Sichelgraben, im Boden abgegrenzt sei. Dieser bemisst auf ganzer Länge, etwa eine breite von zwei Längen und könne mit einer ordentlich errichteten Brücke überbaut werden. Der hintere Bereich wäre somit ein interessanter Platz für eine Burg, in der Ben mit seinem direkten Gefolge leben könne. Der Bereich vor jenem Spalt fiel vom Gelände seicht ab und könnte optimal der Höhenunterschiede ausgenutzt werden, um seinem Volk eine oder gar zwei schützende Mauern zu bieten. Er wiederholte nochmals, dass dieser Spalt zuvor Wasser führte, bevor seine Baumeister begonnen, den Wasserverlauf der Quellen zu verändern. Am äußersten Punkt im nördlichen Zipfel befand sich eine natürlich gewachsene Höhle, die man als Rückzugsoption mit in die Burg einbauen könne, diese aber nicht weiter ausgespäht sei. Gespannt lauschten und diskutieren sie über der ausgebreiteten Karte und formten skurrile Ideen zu brauchbaren Ansätzen. Thanh stellte Zwischenfragen bezüglich des Geländes und deren Formation, machte sich unleserliche Notizen und gab an, diese später für Nachforschungen nutzen zu wollen. Ben und Jarik schauten sich zustimmend an und beschlossen das Volk nicht wie geplant einen weiteren Weiler errichten zu lassen, sondern die verbliebene Menge aufzuteilen.
»Unser in Zelten fristendes Volk zählt noch weit mehr als fünfhundert Köpfe und die kalten Monde rücken unaufhaltsam näher. Zweihundert von Ihnen, werden sich beginnend mit dem morgigen Grauen darauf vorbereiten eigener Wege zu gehen. In Sichtweite des Naïnpasses ...« Ben tippte mit dem rechten Zeigefinger auf eine Stelle nordöstlich. »... um dort einen neuen Weiler zu errichten. Die Übrigen ziehen mit uns zu genanntem Spalt. Dort wollen wir beginnen eine schützende Burg und eine Stadt für die Unsrigen und Nachkommenden zu schaffen.«
Jarik nickte mit offen stehendem Mund immer zu und schenkte den Anwesenden einen glasigen Blick. Seine roten Wangen verrieten auch warum. Goram und Aguschal hingegen besprachen, welche Baumeister und welche Steinschläger abkömmlich waren, um dem geplanten Bauvorhaben zusammen, als Verbündete voranzubringen. Es waren wiedererwartend nicht alle ihrer Handwerksmeister, aber dennoch die Meisten.
»Vater, die zweite Bauebene ist Weitestgehen gebaut und alle der Unsrigen haben ihre Unterkunft. Belass nur so viele auf dem Plateau, dass restliche Bauvorhaben beendet und die Sicherheit gewährleistet werden. Alle anderen Hände können wir hier, bei unseren neuen Freunden, besser brauchen. Unser Volk bringt unbestritten die besten Baumeister zustande und ich vermute, dass jede Hand dankend entgegen genommen wird.«
Der König der Naïns gewährte seinem Erben einen vielsagenden Blick und nickte verhalten. »Du erstaunst mich mein Sohn. Du hast recht. Im Gegenzug musst Du, Benjamin, jedoch mehr als nur eine Schar entsenden. Deine Leute gehen den unseren zur Hand und wir den deinen. Nimm es mir nicht krumm, aber ein erfahrener Handwerker der Unsrigen arbeitet effektiver als fünf der Deinen.«
Angesprochener sah sich einer ausgestreckten kleinen aber durchaus kräftigen Hand entgegen, die als vertraglich einzuhaltende Geste zu werten schien. »Abgemacht. Ich schicke meinen Oberscharführer mit vier Scharen, wie weiteren zwanzig Arbeitern hinauf.«
Er ergriff die Dargebotene und entschlossenes Händeschütteln besiegelte das Abkommen, welches gleich zur kommenden Tageswende ausgeführt werden sollte. Jarik verabschiedete sich schwankend von den Anwesenden und versprach Yaeko seinen künftigen Auftrag zu übermitteln. Aguschal empfahl sich ebenso und begleitete ihn, um den Abmarsch zu beschleunigen. Ben und Goram leerten ihren nachgeschenkten Becher des Bëors und begaben sich anschließend zur Nachtruhe. Nur Thanh winkte ab. Er griff sich die Karte der Naïns und die Seine. Er räumte den Tisch leer und rückte Papier und Zeichenmaterialien zurecht, um aus Zweien eine zu machen.
»Geht nur, ich bin nicht Müde und von diesem Teufelszeug hab ich auch nur einen Becher gelehrt«, erwiderte er mit gesenktem Blick und einer Feder in der Hand.
Die feiernde Menge hatte sich bereits vielerlei Orts aufgelöst, als die Bewohner des Pass-Weilers und der äußeren Höfe sich verabschiedeten, um in ihren eigenen Bettstätten zu schlafen. Die abgestellten Arbeiter für die zu errichtende Mine haben sich gleich nach Eintreffen der Naïns mit den bestimmten Materialkarren abgesetzt, um noch vor Einbruch der Nacht anzukommen. Ein Fass mit Bëor hat man ihnen dennoch zum Anstoßen mitgegeben und mit besten Grüßen an Herrn Halis verabschiedet. Selbst die hartgesottenen Naïns rollten sich in ihre Decken nahe den Karren zum Ruhen.