„Verdammt!“
Fluchend fuhr ich hoch und rieb mir die Augen. Draussen schien die Sonne. Sie fiel in schmalen Streifen durch die zugezogenen Vorhänge und brachte den Staub im Raum zum glitzern.
Ich warf einen Blick auf den alten Wecker neben meinem Bett und fluchte erneut.
Der erste Arbeitstag nach dem Sartinas und schon hatte ich verschlafen.
Isis, meine Arbeitsaufsicht würde mich umbringen!
Eilig sprang ich aus dem Bett und spritzte mir etwas Wasser ins Gesicht
Dann griff ich nach der grauen, aus grobem Leinen gefertigten Arbeitskleidung. Der Stoff kratzte auf meiner Haut und ich musste dem Impuls widerstehen, sie mir vom Leib zu reissen.
„Kian?“, rief probehalber in den angrenzenden Raum. wie erwarte bekam ich keine Antwort. Mein Bruder war bereits aus dem Haus.
„Es war immerhin einen Versuch wert.“, murrte ich und band mein Haar zu einem strengen Knoten.
Bei der Arbeit in der Weberei, musste man die Haare immer zusammenbinden und sich streng and die Kleiderordnung halten.
Ich schnappte mir eine trockene Scheibe Brot und mein Geldbeutel und eilte nach draussen. Für einen kurzen Augenblick blieb ich stehen und reckte mein Gesicht der Sonne entgegen. Einige Vögel kreisten über mir und liessen sich vom Wind tragen. Ich riss mich zusammen und schnappte mir das Levibike das am Zaun unseres nicht gerade besonders grossen Grundstücks lehnte. Ich glaube, es war ursprünglich einmal hellblau aber mittlerweile war es von einen rostigen Rotton. Aber genau so, sah es auch schon aus, als Kian es vor zwei Jahren von seinem Arbeitgeber gekauft hatte.
Ich legte meinen Beutel in die Box, die vorne am Lenker befestigt war und schwang mich in den Sattel.
Der Feldweg, den ich entlang fuhr war uneben und voller Schlaglöcher, aber das spürte ich zum guten Glück nicht, weil ich ca. 20 Zentimeter über dem Boden schwebte. Überall spross Gras und Unkraut und ich freute mich unglaublich darüber.
Seit der Klimakatastrophe, vor 471 Jahren, als unsere alte Sonne explodierte und die Erde aus ihrer Umlaufbahn flog, wuchs selbst hier unten im Süden beinahe nichts mehr. Eigentlich war es erstaunlich, dass überhaupt noch etwas wuchs.
Ich beschleunigte und versuchte nicht an die Standpauke von Isis zu denken, wenn ich schon am ersten Arbeitstag zu spät kam.
Glücklicherweise kam ich nur 10 Minuten zu spät in der Weberei an und ich fragte mich ob ich mich vielleicht unbemerkt an meinen Platz schleichen konnte, ohne dass Isis oder eine der anderen Aufseherinnen etwas mitbekam.
Ich stellte mein Levibike zu den wenigen anderen an die Wand des Gebäudes. Es standen kaum welche hier, denn nicht viele hier konnten sich ein Levibike leisten. Naja, wir, also mein Bruder und ich eigentlich auch nicht, aber er hatte ein Vierteljahr lang beinahe doppelt so viel gearbeitet, damit er das Bike soweit in Stand setzen konnte dass ich es gebrauchen konnte damit ich nicht vor Sonnenaufgang aufstehen musste und nur gute 30 Minuten für den Weg zur Arbeit brauchte.
Leise öffnete ich die Tür zu Halle 4 und steckte vorsichtig den Kopf hinein. In Halle 4 arbeiteten ausschliesslich Mädchen im Alter zwischen fünfzehn und siebzehn. Alle sassen auf ihren Stühlen und webten Stoffe von dunkelgrau bis hin zu Sonnengelb.
ich sah keine Aufseherin, dafür aber meinen Webstuhl. Es war der einzige, an dem niemand sass und ich bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
Er war keine dreissig Schritte entfernt und ich hastete darauf zu. Als ich mich hinter das grossen Holzgestell sinken liess, blickten einige der Anderen zu mir hinüber.
Nur kurz, aber es genügte um mich rot werden zu lassen. Sie schoss mir ins Gesicht und ich blickte schnell zu Boden.
In diesem Moment berat Isis die Hallen und fixierte mich mit ihren stahlgrauen Augen, die perfekt zu ihren blonden Haaren passten und ich zuckte unwillkürlich zusammen.
Sie kam direkt auf mich zu und mir fiel wieder einmal auf wie erwachsen sie wirkte, obwohl sie nur ein Jahr älter war als ich. Als sie mich erreicht hatte baute sich drohend vor mir auf.
„Mira Oblava!“, ihre Stimme war wie Eis und ich wurden noch röter.
„Hätten Sie freundlicherweise die Ehre mir zu erklären, wieso sie bereits zum dritten Mal seit Anfang Jahr zu spät kommen?“
Ich schwieg und sank noch mehr in mich zusammen. Wir wussten beide das es keinen wirklichen Grund gab, weshalb ich mich zum wiederholten Mal verspätete.
„Ach Mira,“ sie seufzte tief und sah mich etwas weniger strafend an.
„Du weisst genau, dass ich dir etwas von deinem Lohn abziehen muss.“
Ich nickte schuldbewusst und wich ihrem Blick aus.
„Ich kann dir nicht weniger als einen Solem abziehen. Ich hoffe das weisst du.“
Ich nickte erneut und schaute sie nun endlich an. Eine Strähne löste sich aus ihrem Dutt und ich konnte sogar die Andeutung eines Lächelns auf ihrem Gesicht erkennen.
„Jetzt mach dich an die Arbeit und schau bitte, dass du in Zukunft pünktlich bist, ja?“
„Okay, ich werde mich bemühen.“
Wir hofften beide innständig, dass das, was ich hier sagte, die Wahrheit war.
Während den ersten drei Arbeitsstunden von sieben bis zehn, versuchte ich möglichst fleissig zu sein, um die verlorene Arbeitszeit auch ja aufzuholen. Und zwischen Pedale bedienen, Schiff schieben, Garn wechseln und Einstellungen ändern, hatte ich kaum Zeit für meine eigenen Gedanken.
Als endlich der Gong zu der halbstündigen Pause erklang, beeilte ich mich nach draussen zu kommen. Ich kaute auf meiner trockenen Scheibe Brot herum und suchte die Menge mit Blicken ab. Ich suchte meine beste Freundin Alya. Ich selbst, mit meinen rötlichen Haaren, stach genauso aus der Menge heraus wie Isis mit ihren hellen Augen und ihrem hellen Haar. Sie stammte von weit aus dem Norden und hatte mit erzählt, dass dort alle so aussahen wie sie.
Alya jedoch, sah aus wie alle. Okay, zugegeben, mit ihren langen, schlanken Beinen, der grossen Oberweite und den vollen Lippen war sie etwas ganz besonderes, aber im Grossen und Ganzen sah sie gleich aus wie alle anderen. Glattes, schwarzes oder dunkelbraunes Haar und olivfarbene Haut.
Plötzlich sah ich Etwas auf mich zurasen und im nächsten Augenblick, fiel mir Alta um den Hals.
„Mira, wo warst du? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht!“
„Ich…Ich hab verschlafen…“, gab ich zu und erneut wurden meine Wangen rot.
„Aha“ ihre Stimme klang belustigt und der Schalk leuchtete in ihren Augen.
Naja, also vielleicht habe ich etwas zu lange gelesen…“
„Wusst ich`s doch!“
Wir lachten beide, meine beste Freundin hakte sich bei mir unter und wir entfernten uns etwas von den Anderen.
„Wie war dein Sartinas?“, fragte ich.
„Gut!“, nuschelte sie und biss in den Apfel den sie in der Hand hatte.
„Das ist ein…ein Apfel!“ Meine Augen starrten auf die Frucht in Alyas Händen.
„Oh“, es wirkte, als ob sie erst jetzt bemerkte, dass sie einen Apfel in der Hand hielt.
„Wie kommst du denn dazu?“
Seit dem grossen Umsturz auf der Erde waren Lebensmittel knapp geworden. Es war unglaublich kalt und beinahe jegliches Leben, ganz egal ob Tier oder Pflanze, starb. Mittlerweile wir beinahe wieder normale Temperaturen aber alles was vor 471 Jahren von den Menschen nicht rechtzeitig gerettet worden war, gab es nicht mehr. Keine Hasen und Rehe im Wald, keine Fische im Fluss, keine Bienen die das Obst bestäubten und kaum Rinder, Hühner oder Schweine.
Ein Apfel war in unseren Verhältnissen, der reinste Luxus!
„Also…äh…“ nun war es an Alya rot zu werden.
„Wie ich ja schon sagte, war mein Sartinas gut… sehr gut.“
„Das heisst?“, langsam wurde ich ungeduldig. Musste ich ihr denn heute alles aus der Nase ziehen?
„Also ich habe Jemanden kennengelernt…einen Jungen.“ Sie hielt ihre Hand in die höhe und ich sah einen schmalen Ring daran glänzen.
Ich war nicht fähig zu antworten, sondern starrte nur fassungslos auf den Ring, den eine kleine Rose aus geschnitztem Wacholder zierte.
„Du… du, ich kann es einfach nicht glauben, du hast sie ihm… ihm deine Jungfräulichkeit geschenkt?“
„Also es war so, mein Vater hat auf der Bäckermesse vor zwei Wochen einen ziemlich wohlhabenden Konditor mit seinen zwei Söhnen kennengelernt. Sie haben sich wohl irgendwie über ihre Familien unterhalten und mein Vater hat ihnen ein Bild von mir gezeigt. Der eine der Jungen, Daniel, war wohl ziemlich angetan und so haben sie uns eingeladen. Und den Rest kannst du dir ja denken.“
Zweimal im Jahr konnten Männer um die Hand einer Frau anhalten. Wenn sie ihm ihre Jungfräulichkeit schenkte, dann hatte sie seinen Heiratsantrag angenommen und von da an war an verlobt und ja, ich konnte mir allerdings ziemlich gut vorstellen wie es weitergegangen war. Die beiden hatten sich in einander verleibt und Alya hatte beschlossen ihm nicht nur ihr Herz sondern auch noch gleich ihre Jungfräulichkeit dazu zu schenken. Sie würden heiraten und…
Alya stiess mich an.
„Also? Du sagst ja gar nichts.“
Ich wollte gerade etwas erwidern, als der Gong, der das Ende der Pause ankündigte, erklang.
Während den nächsten dreieinhalb Stunden, dachte ich über Alyas und meine Zukunft nach.
Ich freute mich für sie, dass sie einen Mann gefunden hatte, und auch, das er aus besseren Verhältnissen stammte. So, wie sie während dem Hineingehen von ihm geschwärmt hatte, musste er echt gut aussehen.
Ich selbst kam mir neben all den anderen, Isis und Alya die eigentlich nur wenig älter waren als ich, vor wie ein kleines Kind.
Ich hatte mir noch überhaupt keine Gedanken über meine Zukunft gemacht, ausser, dass ich um jeden Preis bei meinem Bruder bleiben wollte, ich war viel kleiner und zierlicher als die beiden und hatte kaum Oberweite.
Es überraschte mich wirklich, dass mein Freundin einer Hochzeit so leicht zugestimmt hatten, obwohl, wahrscheinlich hatte sie gar keine Wahl.
Eine Wahl hatten Frauen in Tey-Nor nämlich so gut wie nie.
Das einzige, was sie entscheiden durften, war, wem sie ihre Jungfräulichkeit schenken wollten.
Sie hatten also zwischen vierzehn und achtzehn das Recht einen der Männer der um sie anhielt zu erwählen.
Aber das war’s auch schon. Frauen durften nicht abstimmen, kein eigenes Geschäft eröffnen, keinem Mann der mit ihr verwandt oder älter als sie war widersprechen und sie durften keinen weiterführenden Schulen besuchen oder eine akademische Laufbahn einschlagen.
Ich fand das einfach nur unfair!
Aber ändern konnte ich daran auch nichts.
„Fünfundsechzig Yeng Isis drückte mir einen Stapel Münzen in die Hand und lächelte grimmig.
Ich nickte stumm, nahm das Geld entgegen und steckte es in meinen Beutel.
65 Yeng waren nicht viel. Eigentlich verdienten wir 10 Yeng die Stunde also siebzig am Tag. Da ich heute allerdings zu spät gekommen war, hatte Isis mir zehn Yeng abgezogen. Zehn Yeng waren ein Solem.
Das Geld das ich in der Weberei verdiente reichte vorne und hinten nicht.
Ein Brot kostete ungefähr 2 Solem. Damit konnte ich an einem normalen Tag gerade die Einkäufe bezahlen.
Heute nicht.
Bein Bruder arbeitete von sechs Uhr Morgens bis sieben Uhr Abends und verdiente dreissig Solem pro Tag.
Wenn er nach Hause kam, war ich meist schon wieder von Einkaufen zurück und kümmerte mich um den Haushalt, während Kian sich mit seinen Freunden traf, mir half oder es sich auf seinem Bett gemütlich machte. Er half mir eigentlich bei fast allem und unterstützte mich meistens.
Er war nicht wie seine Freund. Vergriff sich nicht an mir und schlug mich auch nicht, obwohl er zu beidem das Recht hätte.