Der Mann, der sich genähert hat, mustert mich mit interessiertem Blick. Er ist nicht besonders groß, vielleicht 1.70 Meter. Trotzdem hat er etwas an sich, was ihn sehr präsent wirken lässt und einem sofort für sich einnimmt.
Zuerst einmal fällt mir seine Kleidung auf. Trotz den warmen Temperaturen trägt er einen edlen, langärmligen Anzug mit weißem Hemd. Das ist kein Teil von der Stange. Klassisch dunkel gehalten, einem sehr dunklen Blau, fast schwarz, passt diese Farbwahl zu seinem dunklen Typ. Wäre da nicht das helle Hemd, würde er fast düster wirken.
Seine längeren Haare hat er hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Es gibt ja Männer, bei denen wirken lange Haare deplatziert, aber zu ihm passt es. Vielleicht fühlt er sich als Künstler? Maler oder Musiker haben ja auch öfters längere Haare.
Trotz seiner akkuraten Frisur habe ich den Eindruck, dass diese schwarzen, leicht welligen Haare schwer zu bändigen sind. Unwillkürlich muss ich an die kämpfenden Clans aus „Braveheart“ denken, auch wenn seine elegante Aufmachung dazu nicht passt. Und sein perfekt rasiertes Gesicht.
Trotzdem. Man erahnt einen muskulösen Körper unter all dem teuren Stoff. Er hat etwas von einem Krieger an sich.
Bevor ich mir weiter darüber Gedanken machen kann, ist er auch schon direkt vor mir und streckt mir seine rechte Hand hin. Erst jetzt bemerke ich, dass er feine, dünne Lederhandschuhe trägt. „Fräulein Helmstett?“
Etwas zögernd lege ich meine Hand in das schwarze Leder. Diese Begegnung hat etwas Surreales an sich. Wer sagt heute noch Fräulein und trägt mitten im Sommer am helllichten Tag Handschuhe? Soweit ich das erkennen kann, sind seine Hände feingliedrig und eher dünn, fast schon feminin.
„Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen“ sagt er leise und führt meine Hand zu seinem Mund.
Natürlich. Der Handkuss. Maria erwähnte das ja.
Es ist nichts dabei, sage ich mir, das macht er bei allen. Trotzdem fühle ich mich ungewollt geschmeichelt.
Unsere Blicke treffen sich. Er hat dunkelbraune, ausdrucksstarke Augen, die fast ein wenig im Widerspruch zu seinen Augenbrauen stehen, die sehr dünn und akkurat in Form liegen. Es wirkt aber natürlich. Ehrlich gesagt kann ich mir auch nicht vorstellen, dass ein Mann Augenbrauen zupft, oder? Aber keine Ahnung, wie das bei Adligen ist.
Seine Lippen dagegen sind eher schmal und von einem blassen rosa. Sein Gesicht ist durchschnittlich breit, eher länglich mit einer hohen Stirn. Auffällig ist, dass es ungewöhnlich symmetrisch wirkt. Einen Bart trägt er nicht.
Ich kann weder im Gesicht noch sonst etwas an ihm entdecken, was störend wirkt. Vielleicht wirkt er ja deshalb so einnehmend auf mich.
Auffallend ist jedoch seine ungewöhnliche Blässe, die ich jedoch auf seine Sonnenallergie schiebe. Der arme Mann ist ja gestraft genug, bei einem so schönen Wetter im Sommer nicht in die Sonne gehen zu können.
Aber irgendwie steht im dieses ungebräunte Gesicht auch. Er wirkt dadurch vornehmer und das passt perfekt zu dem Bild, das ich von ihm habe.
Ich blicke an ihm vorbei und bemerke erst jetzt, dass Maria nicht mehr anwesend ist. Wie es aussieht, hat sie sich dezent zurückgezogen.
Vielleicht haben die Bediensteten hier entsprechende Anweisungen. Oder sind das jetzt Angestellte? Keine Ahnung.
Ich schüttle den Gedanken beiseite. Ihn nachdenklich anzustarren ist sicher nicht das, was sich gehört, vor allem nicht, wenn man mit deutschem Adel spricht.
Nur wie unterhält man sich überhaupt mit einem solch hohen Herrn?
Ich lächle ihn an. Sicher bemerkt er meine Unsicherheit. Was hat er gerade gesagt? Richtig, er freut sich, mich kennenzulernen.
„Ganz meinerseits, Herr von Wattenstein“ entgegne ich daher möglichst selbstsicher.
Ein amüsiertes Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Irgendwie habe ich den Eindruck, er durchschaut mich und ahnt meine Verlegenheit.
Freundlich antwortet er jedoch: „Bitte nicht so förmlich. Nennen Sie mich Gregor, und bitte nicht Gregorius, sonst fühle ich mich so alt“.
Nun muss ich doch grinsen. Dass ihm sein vollständiger Vorname verstaubt vorkommt, kann ich ihm nicht verdenken.
Aber alt? Ich hatte ja schon vermutet, einen Rentner interviewen zu können.
Hm- sagt man das bei Adligen? Pensionär ja wohl auch nicht?
Ich finde es schon seltsam, dass mir mein Chef nichts über das Alter unseres Schriftstellers sagen konnte. Das war ja ein großes Geheimnis, und nun steht mir ein attraktiver Mann in den besten Jahren gegenüber, ich schätze mal so Anfang dreißig.
„Gerne. Aber nennen Sie mich bitte Viktoria. Gleiches Recht für alle“ biete ich ihm schlagfertig an.
„Ihr Angebot nehme ich gerne an, Viktoria. Ein wunderbarer Name, er gefällt mir. Zeitlos“.
Der Typ macht mich ein wenig verlegen. Ehe ich etwas darauf erwidern kann, fährt er fort: „Ich sollte mich jetzt aber auch erst mal setzen. Sie erlauben?“
Ich nicke zur Antwort. Gregor setzt sich mir gegenüber, in einem solchem Abstand, dass er mir weder zu nah, noch zu fern ist. Der Mann hat ein gutes Gespür.
Ich erwarte, dass er sich nun auch etwas von den Getränken holt, schließlich stehen sie alle griffbereit auf dem Tisch.
Er hat meinen Blick offensichtlich richtig gedeutet, aber er lacht leise auf und schüttelt den Kopf.
„Nein, danke, Viktoria. Ich genehmige mir nach dem Aufstehen immer erst mal einen Vitamindrink, bevor ich in den Abend starte. Wie Sie sicher mittlerweile bemerkt haben, bin ich einer, der erst spät aufsteht und gerne die Nacht durcharbeitet. Das ist hier gleich quasi mein Orangensaft zum morgen. Ich schlage vor, wir warten einfach mit Ihrem Interview noch eine kleine Weile, einverstanden?“