Maria ist bereits verschwunden. Ich kann nicht anders und starre noch immer in die Richtung, in die sie verschwunden ist.
„Viktoria?“ höre ich ihn mit sanfter Stimme fragen. „Was ist los? Was denken Sie?“
„Ich...“. Ich zwinge mich, meinen Kopf zu drehen und ihn anzuschauen. „Es ist nichts, Gregor“. Dass ich seine Unterhaltung mit seiner Angestellten mehr als seltsam fand, braucht er nicht zu wissen. Und die alberne Eifersucht, die ich zwischendurch verspürte, erst recht nicht.
„Sie haben sich über mein Gespräch mit Maria gewundert“ schlussfolgert er. Wieder einmal erweist er sich als vorzüglicher Gedankenleser. „Insbesondere, nachdem ich Ihnen über diese Vampirgerüchte bezüglich meiner Familie erzählt habe. Ist es nicht so?“
Ich antworte ihm nicht, da Markus just in diesem Augenblick zu uns kommt. Das ist ja fast anstrengend, wenn ständig jemand von seinen Bediensteten vorbekommt. Macht es dem Grafen nichts aus, nie seine Ruhe zu haben?
Der Butler bleibt jedoch nicht lange. Er hat einen dicken DINA4- Umschlag in der Hand, den er Gregor mit einer kurzen Verbeugung überreicht. Erstaunt bemerkte ich, dass er dabei sogar kurz lächelt. Ja, kaum zu glauben, Markus kann das.
Allerdings ist dieser „Gefühlsausbruch“ bereits wieder verschwunden, als er mich anschaut. Mit routinierter Freundlichkeit nickt er mir zu, ehe er sich beeilt, wieder möglichst rasch zu verschwinden.
Gregor schmunzelt und meint: „Sie müssen verzeihen, Viktoria. Er ist schon sehr lange in den Diensten meiner Familie, wie schon seine Eltern und die Generation davor. Er macht es Fremden nicht leicht. Aber wenn Sie ihn erst mal näher kennengelernt haben, werden Sie merken, dass hinter der Fassade des steifen Dieners ein guter Mensch steckt“.
Weshalb betont er das so ausdrücklich?
Mein Gesprächspartner legt den Umschlag neben sich auf den Tisch, ehe er fortfährt: „Ich bin um ihn sehr froh, müssen Sie wissen, auch wenn es jetzt für Sie vielleicht nicht so nachvollziehbar ist. Er und Maria sind mir wirklich eine große Hilfe. Die Italiener sind sehr gastfreundlich, waren aber am Anfang mir gegenüber etwas misstrauisch. Ein Deutscher, der sich hier ein altes Weingut kauft und zurückgezogen lebt, das war für sie erst mal ungewohnt und verdächtigt“.
Ich antworte nicht und nicke stattdessen. Nachvollziehbar, vor allem, wenn man sich vor Augen führt, wie gesellig Italiener normalerweise sind.
„Markus ist bei der Suche nach einer Haushälterin sehr bald auf Maria gestoßen. Er kann nicht alles alleine machen. Und Maria ist wirklich eine gute Seele“.
Ich kann ja mein Gesicht selbst nicht sehen, aber scheinbar sieht man mir meine Zweifel oder vielmehr mein Missfallen an, denn er fährt lachend fort: „Keine Sorge, Viktoria. Sie denken falsch. Maria hilft mir, wenn es Probleme mit der Bürokratie gibt. Glauben Sie, wenn Sie sich darüber in Deutschland aufgeregt haben, dann kennen Sie die Verwaltung in Italien noch nicht. Ohne entsprechende Verbindungen geht hier kaum was“.
Wie jetzt? Will er mir allen Ernstes sagen, dass es darum in seinem Gespräch mit seiner Angestellten gehen wird?
„Immer, wenn ich Maria um einen Gefallen bitte, weiß sie, dass ich wieder mal ein Problem mit dem Podesta, also dem örtlichen Bürgermeister, habe. Wir sprechen das nicht direkt aus, aber das ist auch nicht nötig. Wenn Sie so wollen, ist dies unser Code. In der Regel versuche ich, ihr den Sachverhalt möglichst kurz in meinem Büro zu schildern. Es ist dann ihre Aufgabe zu versuchen, meine Interessen bei der Behörde durchzusetzen, das ist oft mühsam genug.“.
„Weshalb haben Sie denn solche Probleme mit der Verwaltung?“ wundere ich mich.
„Das ist vor allem eine persönliche Abneigung von Seiten Signore Gallo“ vermutet Gregor mit einem leichten Seufzen.
Gallo, das muss der Bürgermeister sein, schlussfolgere ich.
„Aber warum dann die Sache mit dem Taxi?“ spreche ich meinen folgenden Gedanken laut aus.
„Es ist ein kleines Entgegenkommen meinerseits“ erklärt er. „Maria behauptet zwar fast jedes Mal, die Sache schnell geklärt zu haben, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Sie wissen vielleicht, dass Italiener gerne reden und noch lieber streiten. Ich möchte, dass sie sich zumindest auf der Fahrt ein wenig entspannen kann. Und da sie einen alten klapprigen Fiat fährt, ist es auch taktisch klüger, wenn sie mit einem vernünftigen Auto beim Bürgermeister vorfährt“.
Ich vermeide seinen Blick. Was er wohl von mir und meinem Fahrzeug denkt?
Vermutlich hat er meinen alten Corsa noch gar nicht gesehen. Es war ja der Butler, der mir die Türe geöffnet hatte.
Naja – geöffnet, zugeknallt und mich dann doch widerwillig ins Haus gelassen hat. So ist das gewesen.
„Ich hoffe, Sie haben jetzt kein falsches Bild von mir“ fährt der Mann mit ruhiger Stimme fort. „Ich beurteile Menschen nicht nach seinem Automobil oder sonstigen Äußerlichkeiten. Aber der Signore tut es und warum sich nicht einen kleinen Vorteil verschaffen, wenn dies so einfach geht? Maria hat jedoch Skrupel, mein Angebot für ein Taxi anzunehmen und daher erinnere ich sie mittlerweile vor Beginn des Gesprächs daran. Das letzte Mal hatte sie es einfach keines bestellt und wollte mit ihrem Auto losfahren. Ich habe jedoch auf das Taxi bestanden und so wurde es dann ein viel zu langer Tag für sie, da wir doch lange warten mussten, bis es dann endlich kam“.
„Aber dann braucht sie am Folgetag ja wieder eines, um hierher zu kommen“ kommt mein Einwand.
„Ja, natürlich. Was ich selbstverständlich zahle. Aber das ist ein geringer Preis dafür, dass ich so eine mutige Kämpferin gefunden habe, die für meine Interessen einsteht und dem Podesta die Stirn bietet. Ich selbst habe das mehrfach versucht, aber die Erfahrung lehrte mich, dass es in diesem Fall besser ist, das die Italiener unter sich regeln zu lassen“.
„Dann haben Sie wirklich Glück mit ihrer Angestellten“.
„Ja, das habe ich“. Zu meiner Überraschung ergreift er mit seinen Händen erneut die meinen und hält sie mit leichtem Druck fest. „Ich habe das Gefühl, auch in Ihnen eine gute Freundin gefunden zu haben. Ich führe diese Unterhaltung mit Ihnen sehr gerne, auch wenn es mich doch einiges an Kraft kostet, so früh am späten Nachmittag. Ich könnte mir keine bessere Interviewpartnerin vorstellen als Sie, Viktoria“.