Ich bin so verwirrt über sein plötzliches Verschwinden, dass ich zu spät, d.h. gar nicht reagiere.
Was war das denn jetzt?
Er hat ja angekündigt, sich zurückzuziehen, aber dieser schnelle Abgang nach seinem Handkuss war ja geradezu eine Flucht.
Das ist aber nicht das einzige, was mich irritiert. Meine rechte Hand fühlt sich seltsam kalt an, insbesondere dort an der Handoberfläche, wo seine Lippen mich berührt haben.
Um etwas Wärme zurückzubekommen, reibe ich mit der linken Hand an der Stelle hin und her.
Das Unheimliche ist, dass ich dabei nichts Außergewöhnliches spüre. Die Haut ist normal warm. Weshalb spüre ich dann trotzdem diese Kälte?
Weil ich mir das alle einbilde. Eine andere vernünftige Erklärung habe ich nicht.
So langsam ist genug!
‚Alles von diesem blöden Vampirkram‘ fluche ich innerlich. Und ärgere mich, dass ich mich durch diese Märchen scheinbar so beeinflussen lasse.
Durch dieses seltsame Empfinden kommt es mir fast so war, als halte der Graf noch immer meine Hand. Oder vielmehr meine ich sogar, seine kalten weichen Lippen zu spüren.
Wie sich diese Lippen wohl bei einem Kuss anfühlen? Ob er dabei vornehm zurückhaltend vorgeht oder ist er ein leidenschaftlicher Liebhaber?
Verflucht! Ich kann so etwas jetzt nicht brauchen.
‚Professionalität‘, rufe ich mir innerlich zu.
Langsam verschwindet das seltsame Gefühl wieder.
Fast ein wenig enttäuscht registriere ich, dass meine Hand sich wieder durch und durch warm anfühlt.
In diesem Moment höre ich ein leises Räuspern.
Erschrocken zucke ich zusammen und drehe ich mich um.
Es ist der Butler, der nun neben mir steht. Ich muss wohl so in Gedanken gewesen sein, dass ich ihn nicht bemerkt hatte.
Oder Markus hat sich absichtlich angeschlichen. Ich kann diesen Typ nicht leiden und das beruht vermutlich auf Gegenseitigkeit. Gut möglich, dass er es darauf angelegt hat, mich zu erschrecken.
So oder so, er ist offensichtlich Profi genug, nicht auf meine schreckhafte Reaktion einzugehen. Stattdessen fragt er mich mit unverschämt teilnahmsloser Stimme: „Der gnädige Herr hat mich gebeten, Ihre Habseligkeiten in das Gästezimmer hinaufzutragen“.
Ich blicke zurück.
Auf irgendetwas scheint er zu warten.
Wir beide schweigen, dann erklärt er: „Ihren Autoschüssel, Frau Helmstett. Damit ich Ihr Gepäck holen kann“.
Autoschlüssel!
Auf keinen Fall!
Und tausend Mal nicht diesem alten Mann, der einen Besenstil verschluckt zu haben scheint und entsprechend steif herumläuft.
Mein Auto ist ein reiner Gebrauchsgegenstand. Gemacht, um einen Menschen fortzubewegen und sonst nichts. Naja, es hat ja auch ein entsprechendes Alter.
Aufgrund der langen Fahrt habe ich einiges getrunken. Hauptsächlich Wasser und auch vereinzelt mal Cola Zero. Die leeren Plastikflaschen stapeln sich nun im Fußraum des Beifahrersitzes.
Und das geht diesem Typ hier einfach nichts an.
Mir fällt ein, dass ich noch eine volle Flasche mit Mineralwasser neben mir liegen hatte. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.
Und ich hatte meinen Corsa in der prallen Sonne abgestellt.
Kann so eine Plastikflasche platzen? Sie war ja noch zu, aber was passiert damit, wenn sie sich immer mehr erhitzt? Verschwindet die Kohlensäure, oder dehnt sich dann das Wasser erst recht aus?
Ich sehe die Plastikflasche geradezu vor mir. Vergessen auf dem Sitz, wird sie immer heißer und heißer. Das Wasser fängt an zu kochen und wirft Blasen, die Flasche wird immer dicker. Mit einem lauten Peng explodiert alles und das kochende Wasser verteilt sich auf dem Sitz und dem Armaturenbrett. Am besten fließt es noch irgendwo hin, wo es gar nicht hindarf und richtet einen großen Schaden an.
Natürlich großer Unsinn. Trotzdem werde ich mich wohler fühlen, wenn alles ausgeräumt ist.
Glücklicherweise habe ich sonst nichts Verderbliches mehr im Auto. Mein Proviant habe ich alles aufgegessen. Den restlichen Verpackungsmüll habe ich unterwegs in Raststätten Mülleimern entsorgt. War ja nicht viel. Die Plastikflaschen werde ich zu Hause abgeben, da kommt dann doch die Deutsche in mir durch.
Markus steht immer noch da und wartet. Ach ja, er wollte ja mein Auto ausräumen.
Aber wir machen das so, wie ich möchte.
„Wir gehen gemeinsam“ teile ich ihm deshalb mit. „Kann ich den Rest meiner Sachen so lange hierlassen?“
„Selbstverständlich. Ich kann es Ihnen auch anschließend in Ihr Zimmer hochbringen, wenn Sie möchten“.
So ganz kann ich sein Angebot nicht einschätzen. Möchte dieser unfreundliche Kerl mir tatsächlich helfen, gehört das zu seinen Aufgaben als Angestellter, oder möchte er in meinem Unterlagen herumschnüffeln?
„Vielen Dank, das mache ich nachher selbst“. Ich hole meinen Autoschlüssel hervor. „Von mir aus kann es losgehen“.