Kurze Zeit später bin ich dann tatsächlich alleine.
Neugierig blicke ich auf den Kühlschrank. Die Gelegenheit, ihn zu untersuchen.
Da Maria, oder vielleicht auch Markus, jedoch noch mit einer Art Häppchen – oder was auch immer – kommen wird, sollte ich vielleicht tatsächlich warten.
Daher begnüge ich mich erst mal, den stinkenden Duftstein in Form einer Zitrone herauszuholen. Ich halte mir die Nase zu trage und trage dieses Ungetüm mit gestrecktem Arm in rüber ins Bad. Mehrfach umwickle ich es mit dem Klopapier. Zu irgendwas muss dieses mehrlagige weiche Luxuspapier ja gut sein.
Ich darf nur nicht vergessen, diesen Stinkestein nachher wieder zurückzulegen. Bis dahin jedoch lagert er erst mal auf dem Waschbecken. Ist ja schließlich groß genug.
In der Hoffnung, dass diese provisorische Verpackung ausreicht, um den Geruch zu unterbinden, kehre ich erst mal zum Tisch mit meinem Laptop zurück.
Ich könnte eigentlich zwischenzeitlich mit dem Artikel anfangen.
Mein Blick fällt auf einen DinA4- Umschlag.
Stimmt, ich erinnere mich. Das ist ganz untergegangen. Die Frau hatte ihn ja mitgebracht. Von dem Grafen, sagte sie doch, oder?
Ich war einfach noch zu durcheinander gewesen in diesem Augenblick. Zu verwirrt von Gregors Vision des blutrünstigen Vampirs, als dass ich irgendwas wirklich aufgenommen hätte.
In diesem Moment regt sich in mir selbst jedoch Widerstand gegen meine eigenen Gedanken. Ich hatte keine Bestie gesehen. Etwas Gefährliches schon – aber im Nachhinein auch auf wundersame Weise schön und erregend.
Irgendwie.
Ja wirklich. Das war es irgendwie schon.
So wie ich das jetzt sehe, war das alles nicht so schlimm und der Mann war auch nett gewesen, von diesen Fangzähnen mal abgesehen.
Hätte ich nicht diese Angst gespürt, wäre erotischer Tagestraum wohl eine passende Bezeichnung.
Ich höre mich selbst leise auflachen. Was für ein Glück, dass der Schriftsteller nichts von meinen Fantasien ahnt.
Fast andächtig streicht meine rechte Hand sanft über den Umschlag. Ganz normales, hellbraunes Papier. Kein Wasserzeichen oder andere Verzierungen, nicht mal mein Name oder sonst etwas steht darauf. Allerdings wurde die Tasche hinten mit einem Karton verstärkt.
Ein seltsames Gefühl überkommt mich, wenn ich daran denke, dass ER genau diesen Umschlag noch vor wenigen Minuten in seinen Händen gehalten hat.
Um mich von diesen unwillkommenen Emotionen abzulenken, öffne ich lieber rasch die unerwartete Post.
Staunend ziehe ich den Inhalt hervor.
Es ist ein Bild. Und es zeigt ihn, den Herrn von Wattenstein. Zumindest steht diese etwas steife Bezeichnung in Druckbuchstaben darunter. Es ist ein Portrait und zeigt ihn von vorne. Ein Blick, der sich direkt an den Betrachter wendet, ihn einfängt mit seinen intensiven dunklen Augen.
Das ist deshalb etwas Besonderes, da es sich hier nicht um eine Fotografie handelt. Ich betrachte ein Gemälde auf einer speziellen Leinwand, das vermutlich mit Acrylfarben – ich kenne mich da leider nicht so genau aus – gezeichnet wurde. Und dafür, dass hier eben keine Kamera verwendet wurde, sondern ein Mensch am Werke war, ist das Ergebnis erschreckend realistisch. Würde man das Bild von der Ferne betrachten oder nicht so genau hinschauen, könnte man es durchaus für eine Fotografie halten. Ohne Zweifel, der Maler war ein Meister seines Fachs.
Mir ist nun doch etwas mulmig zumute. Wie schon erwähnt, handelt es sich hier um ein Original und nicht um einen bloßen Nachdruck.
Ich kann das nicht annehmen.
Etwas ratlos schaue ich noch mal in dem großen Kuvert nach. Und tatsächlich – ich finde einen zusammengefalteten Zettel darin.
Was sage ich – nicht einfach einen Zettel. Edles Briefpapier – zwar nicht allzu stark, aber mit leichtem Strukturaufdruck, Wasserzeichen und einem vorgedruckten farbigen Briefkopf, der natürlich neben seinem Namen und eine Adresse in Deutschland sein Familienwappen enthält.
Ein wenig wundert mich das – aber offensichtlich geht seine schriftliche Korrespondenz normalerweise über seine Anschrift im guten Old Germany.
Neugierig beginne ich zu lesen. Seine Schrift ist recht schwungvoll und elegant; sie erinnert fast ein wenig an altdeutsche Buchstaben. Trotzdem kann ich den Text gut entziffern:
Meine liebste Viktoria!
Hiermit möchte ich mich nochmals für meinen Fauxpas entschuldigen. Bitte sehen Sie es mir, einem zurückgezogenen und manchmal auch etwas einsamen Menschen, nach. Ich weiß, dass ich Ihre Nachsicht eigentlich nicht verdient habe.
Als Entschuldigung übergebe ich Ihnen hiermit ein kleines Präsent. Es liegt mit viel daran, dass Sie es annehmen. Bitte enttäuschen Sie mich nicht. Da ich mich nicht ablichten lasse, erhalten Sie ein kleines Kunstwerk, welches ein befreundeter Maler kürzlich von mir gemacht hat.
Ich freue mich schon sehr auf den heutigen Abend und die kleine Überraschung, die ich Ihnen bereiten werde.
Ihr treu ergebener
Gregor (Graf von Wattenstein).
A/N: Man beachte die Doppeldeutigkeit des Satzes „Da ich mich nicht ablichten lasse…“