„Wir sollten aufbrechen. Es ist schon spät“
Was bitte?
Was ist los?
Ich war gerade doch noch in seinen Armen? Auf seinem… Schoß?
Oh nein, Das ist jetzt nicht wahr.
Ich sitze ihm gegenüber.
Gregor beachtet mich im Moment nicht. Er ist gerade dabei, die einzelnen Blätter wieder in seine Tasche zu packen. Erst nach getaner Arbeit wendet er sich mir wieder zu.
„Und? Wie hat es Ihnen gefallen?“
Gefallen?
Verdammt, keine Ahnung.
Was ist hier jetzt echt und was nicht?
Aber das kann nicht sein. Er muss mitbekommen haben, dass ich abwesend war.
Also ist es doch geschehen, ich habe mir das nicht eingebildet. Dass ich ihm nahe war – sehr nahe. Auf seinen Schenkeln gesessen bin.
Dafür spricht auch, dass ich immer noch eine gewisse angenehme Kälte in mir spüre. Wenn auch nicht mehr so intensiv wie zuvor.
Ich muss ihn wohl ziemlich ratlos anschauen, und er ergänzt:
„Sie müssen verzeihen. Ich war so in meinen Text vertieft, dass ich nichts mehr von meiner Umgebung mitbekommen habe. Sie wissen ja, Vampire, mein Thema.“ Er lächelt entschuldigend. „Leider habe ich auch nicht mehr auf Sie geachtet. Was natürlich unverzeihlich ist. Verraten Sie mir also, ob Sie mit meinem Text etwas anfangen konnten?“
Wunderbar. Was sage ich ihm jetzt?
Fieberhaft versuche ich mir die Passagen in das Gedächtnis zurückzurufen, die ich noch mitbekommen hatte.
Das klang ja ganz gut, oder?
So wirklich aufgepasst hatte ich ja auch da nicht. Romantisch war es auf jeden Fall weniger, aber es war ja auch der Anfang einer Geschichte.
Blöd nur, etwas zu sagen, wenn man nicht weiß, wie es weiterging, und das nicht zugeben möchte.
„Es ist auf jeden Fall – ungewöhnlich. So ganz anders als Ihre bisherigen Geschichten.“, eiere ich herum.
„Gibt es denn eine Stelle oder Passage, die Ihnen besonders gefallen hat?“, fragt er mich.
Ja wunderbar. Was soll ich da jetzt sagen?
„Ich fand eigentlich den ganzen Text recht – originell. Mir fällt da leider jetzt nicht ein besonderer Absatz ein.“ Der Typ bringt mich jetzt aber ganz schön ins Schwitzen.
„Originell. Aha. Ja, so könnte man es auch nennen.“
Verdammt, der verkneift sich jetzt aber nicht ein Lachen, oder?
„Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen den Text bis morgen nochmals ausdrucken.“, bietet er mir großzügig an.
„Das würde mich gerne freuen. Natürlich nur, wenn es Ihnen keine Umstände macht. Ich werde es gerne lesen, mir nochmals Gedanken machen und Ihnen dann meine Meinung mitteilen.“, beeile ich mich zu sagen. Hoffentlich nimmt er mir das jetzt ab. „Ich fürchte nur, ich bin heute zu erschöpft. Die lange Anfahrt, Sie verstehen das sicher.“, winde ich mich raus und hole mir damit eine kleine Galgenfrist.
Ja, das klingt doch ganz gut und überzeugend. Hoffe ich jedenfalls.
„Das ist kein Problem, Viktoria. Ich verstehe das sehr gut. Ich werde es Ihnen morgen früh durch Markus zukommen lassen.“
Zukommen lassen? Weshalb kann er es mir nicht persönlich geben?
Der Autor klemmt sich nun die Mappe unter den rechten Arm. „Kommen Sie? Wir sollten meinen Diener wirklich erlösen. Der arme Kerl steht sich schon den ganzen Abend die Beine in den Bauch.“
Also wartet der Butler tatsächlich seit Stunden beim Auto, während des Essens und seiner Vorlesung? Schwer vorstellbar – das war wirklich eine lange Zeit.
Nicht dass er mir wirklich leidtut. Er wird vermutlich eh fürstlich bezahlt und ist dieses Warten vermutlich auch gewohnt. Wer weiß, wie lange er irgendwo blöd rumstehen muss, wenn Gregor und seine Kumpanen Vampire spielen?
Ob sie da alle tun, als würden sie ihn beißen? Und er muss steif und gerade stehen und so tun, als wäre nichts.
Kurz kichere ich angesichts der Vorstellung, die ich recht lustig finde.
Dann jedoch werde ich wieder ernst.
Wenn das denn tatsachlich nur gespielt ist.
Bei all den Dingen, die ich hier sehe. Vielleicht sind das gar keine LARP- Partys, sondern echte Vampirtreffen? Und keine gespielten Opfer, sondern….
Ich zwinge mich, diesen Gedanken nicht weiterzuspinnen, sondern folge dem ‚Vampirgrafen‘, der langsam vorausgegangen ist.
Als er bemerkt, dass ich ihm folge, stoppt er und wartet, bis ich neben ihm stehe. Er nimmt seine linke Hand und platziert sie sanft zwischen meine Schulterblätter, um mich vorsichtig nach draußen zu führen.
Das Leder seines Handschuhs.
Es ist warm.