Gregors Geschichte (vorgelesen nach dem Dinner)
Ich heiße Alexander Müller.
Nein, das ist nicht ganz korrekt, eigentlich heiße ich Alexander von Hohenfels.
Aber Tarnung ist alles, und daher habe ich mir schon lange einen anderen Namen zugelegt. Mit den richtigen Kontakten und Leuten an der richtigen Stelle geht das.
Naja, Leute ist jetzt vielleicht auch nicht ganz das richtige Wort. Wesen meiner Art wohl eher.
Leider ist es notwendig geworden, da mein Familienname immer mehr mit all den vielen Toten in Verbindung gebracht wurde.
Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Ich bin ein Vampir.
Ja, Sie haben schon richtig gelesen. Ein Vampir. Genauso wie in den Roman, Dracula und wie sie alle heißen. Mit allem was dazugehört: spitzen Zähnen, Mantel, Fledermäusen, einem buckligen Butler…
Im Ernst, das ist alles Nonsens. Oder das meiste davon. Mir stehen jedes Mal die Haare zu Berge, wenn wieder ein neuer Film oder ein neues Buch herauskommt. Was für verrückte Ideen die Menschen haben. Manche Einfälle sind ja ganz amüsant, aber die meisten sind einfach nur primitiv und blöd.
Und die Geschichte mit der Wandlung…
Ich weiß nicht, denken die Menschen nicht zu Ende? Würden wir täglich – oder genauer gesagt nächtlich – ein Opfer suchen, es komplett leersaugen und dadurch einen Vampir schaffen, wie lange würde es wohl gehen, bis uns die Nahrungsquellen ausgeht? Das wäre ja dann ein sich potenzierendes System, wie die Geschichte mit dem Schachbrett und den Reiskörnern, sofern Sie diese kleine Anekdote kennen. Kurz gesagt ist die gesamte Anzahl der Reiskörner unendlich groß, wenn sie auf dem ersten Feld eines Schachbrettes ein Reiskorn legen und das mit jedem Quadrat verdoppeln, also 2, 4, 8, 16 usw. Und das gleiche wäre ja bei meiner Art, wenn wir so vorgehen würden.
Zunächst einmal: wir saugen unsere Spender nicht zu Tode.
Sie können dieser kleinen Rede jetzt aber entnehmen, dass die Geschichten mit unserer Nahrungsaufnahme stimmen. Wir brauchen Blut, das entspricht der Wahrheit. Ihr Blut, ganz recht.
In Notzeiten können wir auch Tierblut nehmen, aber das ist nur bedingt geeignet. Dieser Nahrungsquelle fehlen gewisse Bestandteile, die Ihr Blut besitzt und wir dringend brauchen. Sie glauben mir nicht? Armseliges Menschlein. Glauben Sie wirklich, Ihr Wissen ist schon ausreichend genug, um diesen heiligen Lebenssaft vollständig zu analysieren und begreifen?
Wenn wir uns ausschließlich von tierischem Blut ernähren beginnen wir etwa nach zwei Monaten, die Auswirkungen zu spüren. Die Details erspare ich ihnen lieber. Kurz gesagt, über früher oder lang wird man dadurch verrückt. Seien Sie aber unbesorgt, Sie werden keinen Vampir in einer Irrenanstalt finden. Dafür sorgen wir schon.
Aber ich schweife ab. Also – ein Mensch, SOLLTE seine „Blutspende“ tatsächlich so groß sein, dass er stirbt, ist tot. Aus und vorbei. Eine Leiche und das war‘s.
Wir Altvampire sorgen natürlich dafür, dass es nicht soweit kommt. Wir können unsere Gier, unseren Blutdurst zügeln. Wobei der Rausch, den wir nach unserer Mahlzeit erfahren, auch mit den Jahren nachlässt. Wir trinken nur kontrolliert und sorgen dafür, dass keine Spuren zurückbleiben. Oder wenn, dann manipulieren wir die Erinnerungen unserer Opfer, so dass sie dafür geeignete Erklärungen haben.
Wie sie zwischen meinen Zeilen lesen können, vergeht eine gewisse Zeit, bis man seinen Nahrungstrieb unter Kontrolle hat. Es gilt daher das ungeschriebene Gesetz, dass der Schöpfer eines Jungvampirs auch für ihn verantwortlich ist. Er hat dafür zu sorgen, dass der Nachwuchs in seinem Rausch nicht ganze Dörfer ausrottet oder auf andere Weise auf uns aufmerksam macht. Viele Vampire haben auf diese Art des „Babysittings“ keine Lust und das erklärt auch, warum sich unsere Anzahl in den letzten Jahrzehnten nur moderat erhöht hat.
Jetzt fragen Sie sich sicher, warum ich meinen Namen ändern musste, warum es so viele Tote gab?
Ich muss gestehen, dass es auch eine Zeit gab, zu der ich mich nicht im Griff hatte. Wir drei nicht, um genau zu sein. Ich und meine zwei Brüder.
Sie erinnern sich sicher an die Hippie- Zeit, Flower-Power, San Franzisco und die damit verbundenen wilden 60er?
Am Anfang hat mich das alles nicht sonderlich interessiert und mich eher abgeschreckt. Aber Jürgen, einer meiner Brüder hatte schon immer eine kindliche Ader und war begeistert von dieser Bewegung. Ich und Stefan wollten ihn eigentlich aus dieser Szene herausholen, stattdessen zog er uns beide hinein.
Ich möchte hier nicht weiter ins Detail gehen. Es genügt für Sie zu wissen, dass es durch etliche Drogenexzesse zu einigen Toten kam. Nicht dadurch, dass wir sie leergetrunken hätten, aber einem durch LSD und andere Drogen geschwächten Körper dann noch einen halben Liter Blut abzunehmen, war dann doch bisweilen doch zu viel. Und wir selbst waren ja durch die Substanzen leider auch nicht immer ganz bei Verstand.
Ja, ich kann es leider nicht anders sagen.
Auf jeden Fall habe ich daraus gelernt und so etwas wird nicht wieder vorkommen.
Weiter werden Sie mich fragen, woher dann diese Geschichten über Dracula kommen, und wie die Wandlung tatsächlich von statten geht?
Dieser unselige Graf, der bei euch Menschen als Urvampir gilt, gab es tatsächlich. Und ja, er war einer der unsrigen, wie ich zu meiner Schande gestehen muss.
Und einfach ein wenig verrückt. Manche von uns vermuteten, dass er das schon vor seiner Geburt als Untoter war. Möglicherweise ist auch an dem Gerücht etwas dran, dass er zu viel Tierblut trank, da er es liebte. In unseren Bibliotheken sind ganze Abhandlungen davon.
Tatsache ist, er war weder der einzige noch der erste meiner Art. Leider war damals keiner von uns in der Nähe, so dass es eine Weile ging, bis wir von seinen Gräueltaten erfuhren und dem Treiben ein Ende setzen konnten. Helsing versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen und vernichtete ihn schließlich, als das nicht gelang. Es fiel ihm unheimlich schwer, Dracula war ja ein Vampir. Aber es war leider notwendig, um unsere Existenz zu schützen. Leider stellte sich Helsing nicht gerade besonders geschickt an und so kam es zu mündlichen Überlieferungen und einigen Einträgen in der Ortschronik, aus denen schließlich der Roman entstand, der mit der Wahrheit jedoch wenig gemein hatte.
Aber ich komme wieder vom Thema ab – ich wollte Ihnen ja die Wandlung erklären. Wie ich schon zuvor schrieb, wird man durch Leersaugen nicht einfach zum Vampir.
Unser Speichel enthält ein Gift welches, einmal in den menschlichen Organismus gelangt, die Verwandlung bewirken kann, sofern gewisse Voraussetzungen vorliegen.
Zunächst einmal muss man sagen, dass eine gewisse Menge vorhanden sein muss, da das Gift sonst vom menschlichen Immunsystem ausgeschaltet wird. Daher ist es wichtig, eine größere Menge oder regelmäßig in mittleren Mengen zu trinken, damit genug Speichel in die Blutbahn des Auserwählten gelangt. Dosiert man das geschickt, so kann eine einzelne Mahlzeit genügen, um den gewünschten Effekt auszulösen. Ist das Gift ausreichend vorhanden, so kann es nicht vollständig bekämpft werden, wird resistent und nistet sich im ganzen Körper ein.
Es entfaltet seine Wirkung jedoch nur sehr langsam – eben deshalb ist es wichtig, dass der Mensch bei diesem Aderlass nicht sofort stirbt.
Das interessante daran ist, dass durch den Giftabbau der menschlichen Antikörper Abfallprodukte entstehen, die nicht bekämpft werden, im Organismus bleiben und bei etwas jedem zweiten Menschen ebenfalls dauerhafte Effekte haben, solange der Mensch noch ein Mensch ist.
Haben Sie sich schon mal gewundert, warum manche Ihrer Art sich seltsam verändern? Auf einmal vom Bösen fasziniert sind oder verrückt werden? Zu Mördern werden? Nicht immer, aber oft sind das gerade die Langzeitwirkungen dieser Stoffe.
Die für Sie übrigens nicht nachweisbar sind.
Wir Vampire können schon vorher riechen, ob unser Opfer immun sein wird oder nicht. Das hätten Sie jetzt sicher auch nicht gedacht, oder? Auch das hilft uns ungemein, denn so können wir uns gezielt unsere Nahrungsquellen entsprechend aussuchen. Wir nähren uns regelmäßig und solange wir nicht zu viel trinken und es nicht zu viel Menschen mit Wesensveränderungen gibt, werden Sie uns nicht auf die Schliche kommen und uns weiterhin für Märchengestalten handeln.
Aber ich sehe schon, ich laufe wieder Gefahr, zu sehr abzuschweifen. Es gibt noch etwas, was Sie wissen sollten.
Ein weiteres, nicht unwichtiges Detail ist nämlich, dass ich bei meiner ersten Blutmahlzeit mein Opfer an mich binde. Und das gilt für alle, hier gibt es keine Immunität.
Kein weiterer Vampir wird sich in Zukunft an diesen Blutspender heranmachen. Ein weiteres, ungeschriebenes Gesetz. Wenn ich genug Blut beim ersten Mal abnehme, ist der Mensch mir hörig – er kann gar nicht anders, sein Herz und seine Seele gehören mir und er wird alles tun, was ich verlange, ohne einen eigenen Willen zu haben. Das bleibt auch bestehen, wenn er schließlich gewandelt wird.
Solche Vampire nennen wir Vampire dritter Klasse und es ist eigentlich nicht erwünscht, sie zu zeugen. Offiziell verboten ist es jedoch auch nicht und manche scheinen darauf zu stehen.
Die zweite, und weitaus bessere Lösung ist es, beim ersten Mal nur sehr wenig Blut zu trinken.
Die Natur hat es gut mit uns gemeint. Wir verschließen die Einstichlöcher mit unserem Speichel. Weiter vermeiden wir durch die Zusammensetzung unseres Speichels Infektionen und Narben. Sofern wir weniger als einen halben Liter trinken, ist die Wunde noch klein genug und es werden am nächsten Morgen keine Spuren unseres Bisses mehr zu sehen sein. Ist das nicht genial?
Wenig zu trinken, hat aber noch weitere Vorteile. Die nahrungsspendende Person hat dadurch nach der Blutmahlzeit weniger Nebenwirkungen, wird jedoch bereits unwiderruflich und ausschließlich an den Vampir gebunden.
Sie bleibt ein Mensch mit neuen Gedanken, die sich langsam in ihr Wesen schleichen. Es sei denn, sie ist immun – ich hatte ja oben schon erwähnt, dass nur etwa die Hälfte auf die Abfallprodukte reagieren.
Das Interesse an „ihren“ Blutsauger wird sich aber in jedem Fall langsam steigern; wie schnell oder langsam, hängt von der Blutmenge ab. So wird sie sich wirklich verlieben und trotzdem ihren Willen behalten.
Erfährt sie dann die Wahrheit nicht zu früh, wird sie unsere Art nicht mehr ängstigen und sie wird darum betteln, selbst Teil unserer Gemeinschaft zu werden.
Ich habe vergessen zu erwähnen, dass wir diesen Effekt auch vermeiden können, indem wir vorher in die Köpfe unserer Spender eindringen und ihre Gedanken steuern oder sie in eine Art Trance oder Schlaf versetzen. Denn diese Verbundenheit ist natürlich nicht immer erwünscht.
Dadurch können wir diese Auswirkung, die sonst ja bei jedem unserer Spender unweigerlich auftreten würde, verhindern.
Die Bindung ist jedoch das ideale Mittel, wenn wir einen Menschen gefunden haben, den wir als unseren Seelengefährten auserwählt haben.
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