Es war wie immer kühl. Der Wind brauste in Richtung der See. Eine Ansammlung vieler Wasserkräfte trieb eine gewaltige Masse H2O an, die sich nun in Richtung Land aufmachte, wenn man es fachmännisch beschreiben will. Möwen schwirrten angriffslustig umher, allem Anschein nach auf ein Mittagessen bedacht. Stillschweigend warf ich ihnen von den hohen Felsen aus ein paar Würmer zu und während ich ein kleines Mädchen unten am Strand fokussierte, ließ ich entspannt meine Beine die niedrige Klippe herunterhängen.
Wie Krümel hatte sie Sommersprossen im Gesicht und lockige, goldfischfarbene Haare und wie sie da im Sand saß und voller Sehnsucht das Wasser begutachtete, musste ich einfach grinsen. Die angenehme Hitze des feinen Sandes war aber auch wirklich unverzichtbar, wenn man jeden Tag die Möglichkeit hatte, den Strand zu besuchen. Erst seit Kurzem war die junge, meist in rotblau gekleidete Halbrussin hier wohnhaft und es war das erste Mal, Olga zwischen Land und Wasser zu sehen. Nicht mehr weit entfernt konnte ich die Flut erkennen, die im hohen Galopp auf den Strand zuraste. Voller Neugierde machte sich das Mädchen auf in das noch flache, glasklare Wasser, womöglich, um jedes Wasserbläschen zählen, jedes Salzkorn spüren und jeden Fußabdruck identifizieren zu können. Nun nicht mehr nur ihre kurzen Beine, welche sie durch das ebbende Meer getragen hatten, auch ihr gesamter Körper war abgetaucht, um zu verstehen, was sie seither verpasst zu haben schien. Denn wie sahen die hübschen Fische, Muscheln und Algen unter Wasser aus? Ein kurzer Test genügte, und ihr Lachen wurde mit ihr eingesogen, nicht imstande, sich zu wehren. Das Talent zu schwimmen war leider auch nicht jedem gegönnt worden und wer hätte die kleine Olga darüber belehren sollen, dass nicht alles, was leblos war, keine Macht hatte? Es half uns allen nicht, dass die Angst vor dem Meer über die Sorge um das Mädchen siegte. Es half uns auch nicht, zuzusehen, wie sie in die Tiefen sank und dass niemand es verhinderte. Aber es war nunmal so gekommen und wir konnten nichts mehr tun.
Da scheint es wohl allseits noch gefährlicher geworden zu sein, sich am Meer aufzuhalten, sodass man es unausgesprochen verbietet, den Strand zu betreten. Aber es bringt uns nichts und Olgas Geist erst recht nichts, sich vom Meer fernzuhalten. Selbst, wenn ich mich jetzt für mehrere Wochen am neuerdings wie leergefegten Strand verstecken oder lauthals nach Hilfe rufen würde, niemand würde nah genug kommen, um mich dort zu finden, geschweige denn zu suchen. Wie als wäre es eine abstoßende Person, meidet man allgemein die Ansprache Olgas Tod, wie nach dem Motto "Wenn ich mir die Augen zuhalte, dann ist da doch gar nichts Böses!". Ein Kinderlachen hallt jedoch noch immer in unser aller Ohren. Ein Lachen, so unschuldig, so wehrlos und doch so durchdringend.
Wie prachtvolle Seelöwen ragen die hohen Felsen aus dem Wasser, welche ich immer öfter allein besuche. Den besagten majestätischen Wächtern der Meere scheint ein Ansturm an Ebben zu folgen, der den Frieden der Meere zurückbringt. Doch was hatte man dem Meer eigentlich angetan, dass es uns derartig zu bekämpfen versuchte? Ein unverstandener Krieg. Eine Botschaft, die das wunderschöne Meer in tiefe Dunkelheit rückte. Menschen, die es verstehen mussten. Ich kannte viele Leute, die hier jahrelang lebten, doch ich bin einer von wenigen, der der Küste vertraute und hier wohnenblieb, auch nach Olgas Tod.
Auf den Felsen der Bucht ist die Aussicht auf das tiefe Blau, das Untergehen der Sonne und die streitenden Möwen so unbeschreiblich schön, wie ich zum ersten Mal richtig feststelle. Und jedem, der es vorzog, wegzuziehen, bleibt dieser Anblick fortan unvergönnt, was ich niemandem ehrlich verzeihe. Glatt fühlt sich der dunkle Felsen an, ungewohnt mit nackten Füßen berühre ich Moos und Algen. Wie ein guter Freund behütet der Stein mich vor der Wellenpracht, die es dort unten kaum erwarten kann, den Rückschlag endgültig zu vergessen. Aber niemand, außer mir und den anderen noch hier am Meer Wohnenden, spürt den Frieden, diese Ruhe und den Segen, der in letzter Zeit über die Küste einkehrte und uns nicht losließ.
Ein rotes Jäckchen und russisch traditionelle, blaue Gewänder liegen verlassen am Felsenrand, der Richtung Meer führt. Bin ich also doch nicht allein? Ein Sprung vom Rand des Felsens ins Meer wäre möglich. Vorsichtig erkundige ich mich nach der anderen Person. Unten im Wasser entdecke ich ein nacktes, hellrotgelocktes Kind plantschen, während die Strömung es zurück an Land treibt...