An die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und des Königreichs Schweden:
Am 24.4.1975 um 1.50 Uhr haben wir die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Stockholm besetzt und 12 Botschaftsangehörige, darunter Botschafter Dieter Stoecker, Militärattaché Andreas von Mirbach, Wirtschaftsreferent Heinz Hillegaart und Kulturreferent Anno Eifgen, gefangengenommen, um 26 politische Gefangene in der Bundesrepublik Deutschland zu befreien.
Aus der RAF-Erklärung vom 24.4.1975
24.4.1975, Lübeck
Maria spürte die sorgenvollen Blicke, die Frank ihr während der Autofahrt immer wieder zuwarf. Doch sie ignorierte es, tat so, als wäre nichts und sah aus dem Fenster, wo die Landschaft vorbeirauschte. Doch sie nahm sie nicht war, sah nichts von dem wunderschönen Frühling, der draußen in aller Farbenpracht explodierte. Ihr Blick war leer. All das, was sie für die letzten vier Jahre ignoriert, was sie hinter sich gelassen hatte, schien nun erneut auf sie einzuschlagen.
Frank erklärte etwas, doch sie nahm es noch nicht einmal wahr, gefangen in Gedanken, die sie nicht formulieren, nicht ordnen konnte.
Ihr Herz pochte wild gegen den Brustkorb, ihr Atem war ruckartig und ihr Mund trocken. Die Hände zitterten so sehr, dass ihr die Wasserflasche, aus der sie soeben hatte trinken wollen, entglitt und das Nass den Boden tränkte.
Frank sagte nicht, aber er runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf. Erst als er auf dem Parkplatz der JVA geparkt hatte, wandte er sich zu ihr um und erklärte: „Hör mal…“
Aber Maria riss schon die Tür auf, hockte auf dem Schotter und erbrach ihr karges Frühstück. Ihr Ehemann hielt ihr die Haare aus dem Gesicht und strich ihr tröstend über den Rücken.
„Maria. Sieh dich doch an. Es tut dir nicht gut. Seitdem du diesen Brief bekommen hast, isst und schläfst kaum noch, bist du so abwesend, nicht mehr du. Ich weiß, dass du dich verantwortlich für deine Schwester fühlst, aber du musst auch an dich selbst und deine Gesundheit denken. Es ist in Ordnung, Grenzen zu setzen und Verantwortung abzugeben. Deine Schwester ist erwachsen, sie…“
„Und ein Teil von mir.“ Maria richtete sich auf und straffte sich. „Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber ich muss das jetzt tun. Ich brauche es für mich selber, um mir über einige…Dinge gewiss zu werden.“
Frank schüttelte den Kopf und packte sie an den Schultern.
„Du definierst dich über deine Schwester, aber das ist nicht gut. Ich bitte dich, gib dich selbst nicht für sie auf. Dafür bist du mir viel zu kostbar und ich brauche dich, nicht eine jüngere Version deiner Schwester.“
„Und Ingrid brauch mich nicht?“
„Maria!“ Seine Stimme wurde sanft, wie immer, wenn er sie von seiner Meinung unbedingt überzeugen wollte. Aber jetzt ließ es sie nur zorniger werden. „Deine Schwester ist eine Mörderin und eine Terroristin, die überzeugt von ihren Idealen ist. Sie hat den Kontakt zu dir wann abgebrochen? Vor vier Jahren?“
„Vor vier Jahren, zehn Monaten und einundzwanzig Tagen“, antwortete Maria.
„In Ordnung, dann vier Jahre, zehn Monate und einundzwanzig Tage.“ Er blickte sie an. „Hör mir zu. Sie wurde im Februar 1973 gefasst.“
„Richtig.“ Müde nickte Maria, denn war ihr nicht klar, worauf Frank heraus wollte. Es war erstaunlich, wie lange ihre Schwester sich hatte verbergen können, nachdem schon im Juni mit Ulrike Meinhof die letzte Gründerin der RAF gefasst worden war. Letztendlich hatte die Polizei sie in Kiel mit Katja Niesel, einer anderen RAF-Terroristin, aufgestöbert. Die wilde Verfolgungsjagd durch die Straßen der Landeshauptstadt war noch Wochen danach durch die Medien gegangen. Eigentlich war es ein Wunder, dass Ingrid so gut wie unverletzt aus der Schießerei hervorgegangen war. Katja Niesel und ein Polizist waren so schwer verletzt worden, dass Ärzte noch tagelang um ihr Leben gekämpft hatten. Ein anderer Polizist war dabei ums Leben gekommen. Auch wenn sich bei Untersuchungen herausgestellt hatte, dass Katja, nicht ihre Schwester, den tödlichen Schuss abgegeben hatte, hatte diese Tatsache nicht dazu beigetragen, Marias ohnehin schon schlechtes Gewissen zu beruhigen. Doch nun war sie hier und ihre Schwester saß in dieser Justizvollzugsanstalt und hatte sie zu sich gerufen.
Frank fuhr fort: „Seitdem hat sie an drei Hungerstreiks teilgenommen und nie, ich wiederhole nie, irgendein Zeichen der Reue gegeben. Ich weiß, dass du dir einredest, dass sie sich geändert hat, aber das hat sie nicht. Sie hält fest an ihren Idealen, sonst hätte sie nicht an den Hungerstreiks teilgenommen. Nur jemand, der überzeugt ist, von dem, was er tut, setzt seinen eigenen Körper als Waffe gegen den Staat ein. Ich weiß nicht, warum sie ausgerechnet jetzt den Kontakt zu dir wieder aufnehmen möchte, aber ich flehe dich an, mach dir keine Hoffnungen, dass sie sich geändert hat.“
„Ich glaube, ich bin alt genug, für mich selber zu entscheiden“, fauchte Maria, aber deutlich kraftloser als sonst.
Zu ihrem Erstaunen schüttelte Frank den Kopf. „Nein. Bei allen anderen Dingen ja, aber nicht bei deiner Schwester. Was sie angeht, hörst du nicht auf die Vernunft, sondern auf dein Gefühl.“
„Sie ist meine Schwester, Frank. Meine Schwester, der ich einst ein Versprechen gab.“ Flehend blickte Maria ihn an. „Wir werden immer zusammen gehen. Ich muss das jetzt durchziehen.“ Sie nahm seine Hand, dann hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir leid.“
„Ich weiß.“ Aber es lag eine Traurigkeit in seinem Blick, vor der sie zurückschreckte und die sie fast dazu brachte, seine Hand zu nehmen und zu sagen, dass sie einsteigen und nach Hause fahren sollten. Aber nur fast. Der Gedanke an ihre Schwester war so viel stärker.
„Kommst du mit hinein?“
„Ja.“ Er nickte. „Ich lass dich nicht allein und nimm dir etwas von deiner Last ab, wenn du mich lässt.“
„Das ist eine Last, die ich nicht teilen kann.“
„Ich wusste, dass du das sagen würdest.“ Dennoch nahm er ihre Hand und gemeinsam schritten sie auf die Mauern der Justizvollzugsanstalt Lübeck zu, hinter der Marias schlimmster Albtraum, aber auch ihre tiefste Sehnsucht auf sie wartete. Alles vereint in einer Person: Ingrid.
Der junge Polizist, der im Eingang an einem langen Tisch saß, trug noch den Geruch von Unschuld an sich und schenkte ihnen ein so freundliches Lächeln, das Maria fast die triste Umgebung vergaß.
„Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Frank drückte ihre Hand, doch Maria ließ die seine los und trat zu ihm an den Tisch.
Sie räusperte sie. „I-Ich habe ein Gespräch mit…“ Ihre Stimme versagte und ihre Beine zitterten so stark, dass sie sich am Tisch abstützen musste. Doch dann war Frank da, stützte sie und meinte zu dem Polizisten: „Ingrid Engel“
Seine Stimme zitterte nicht im Geringsten, aber er verzog das Gesicht. Es war das erste Mal seit langem, dass sie diesen Namen aus seinem Mund hörte. Frank nahm Ingrids Namen nie in den Mund, sprach immer nur von ihrer Schwester.
Der junge Mann musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht deuten konnte. Was er wohl von ihr dachte? Sah er in ihr die Schwester einer Terroristin, die möglicherweise ihre Ansichten teilte und die JVA am liebsten gleich in die Luft jagen würde? Oder jemanden, der die Ereignisse genauso wenig verstand, wie er selbst und ebenso fassungslos jene Berichte über die Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz vor zwei Monaten gesehen hatte? Sah er sie überhaupt als eigenständige Persönlichkeit oder nur als Schwester jener Person, die eine Person ermordet und achtzehn weitere verletzt hatte? Vermutlich letzteres. Die Meisten, die auf der Straße vor ihr ausspuckten oder ihr begeistert auf die Schulter klopften, taten es der Taten ihrer Schwester wegen. Mittlerweile hatte Maria selbst schon aufgehört mehr zu sein, als die Schwester einer Terroristin.
Der Polizist, der bis eben in seinen Papieren geblättert hatte, sah auf: „Dann sind Sie Maria Fiedler? Können Sie sich ausweisen?“
Sie kramte ihren Ausweis hervor, auch wenn ihre Hände dabei zitterten und legte ihn vor dem Mann hin. Die Stimme ihrer Schwester kam ihr in den Sinn. Wie sie sich darüber aufregte, dass sich ein Bürger in seinem eigenen Land ausweisen musste, was viele andere Länder gar nicht erst benötigten. Wie sie erklärte, dass eine Auswahlpflicht erst bei Beginn des zweiten Weltkrieges von Hitler eingeführt worden war und dass es die Juden gewesen waren, die als Erste gezwungen worden waren, einen Vorläufer des Ausweises immer bei sich zu tragen. Für Ingrid war auch dass ein Beweis für das ihrer Meinung nach repressive System gewesen.
„Ihr Mädchenname war Müller?“
Sie nickte nur.
Auch seinen restlichen Erklärungen hörte sie nicht wirklich aufmerksam zu. Rasch verabschiedete sie sich von ihrem Mann, ließ eine Leibesvisitation über sich ergehen und wurde eine gefühlte Ewigkeit später von zwei Polizisten durch lange Gänge geführt, die alle gleich aussahen. Putz, der von den Wänden bröckelte und einst sicherlich weiß gewesen war. Vergitterte Fenster und Türen. Schon nach einer Weile fühlte Maria sich erdrückt von der Enge und der Dicke der Luft. Sie konnte es sich nicht vorstellen, hier vierundzwanzig Stunden am Tag leben zu müssen. Vermutlich gewöhnte man sich an alles. Sogar an Gefängnisse und das Ermorden von Menschen.
Endlich hielten die beiden Männer an und öffneten die Tür zu dem Raum, in dem das Gespräch stattfinden sollte.
Kahle, schmutzigweiße Wände, ein Tisch mit zwei einander gegenüber stehenden Stühlen, das war alles.
Die beiden Polizisten postierten sich an der Tür und ein wenig verunsichert ließ Maria sich auf einen der beiden Stühle sinken. Sie wusste nicht, wohin sie schauen sollte und so blickte sie nur die Hände in ihrem Schoß an und betrachtete nachdenklich den Dreck, der sich unter den Nägeln angesammelt hatte.
Erst als die Tür sich öffnete, blickte sie auf. Ihr Herz setzte für einen Moment aus, als sie ihre Schwester entdeckte, deren schmale Gestalt zwischen den breitschultrigen Polizisten zu verschwinden schien. Ohne einen Blick an ihre Schwester zu verschwenden, streckte Ingrid den Polizisten die Hände hin und ließ sich die Handschellen abnehmen. Dann ging sie mit raschen Schritten zu dem anderen Stuhl und setzte sich, während sich die beiden Polizisten in den hinteren Ecken postierten.
Ingrid hatte sich im Äußeren längst nicht so stark wie in ihren Denkweisen verändert, wie Maria es sich immer vorgestellt hatte. Ihr langes Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz zurück gebunden, was sie früher nur selten getan hatte, aber die wild gestreuten Sommersprossen und das Muttermal in ihrem Gesicht waren noch vorhanden. Das Einzige, was Maria erschreckte, war Ingrids Dürre. Sie war schon immer zierlich und relativ klein gewesen, doch jetzt war sie stark abgemagert und ihr Gesicht eingefallen. Maria hatte nie daran gezweifelt, dass ihre Schwester diese Ideologie ohne Zögern mittragen würde, doch die Auswirkungen der Hungerstreiks jetzt an der Person zu sehen, mit der sie zusammen Verstecken und Fangen gespielt hatte, war etwas ganz Anderes.
Was sagte man zueinander nach Jahren des Kontaktabbruchs? Was sagte man zu einer Mörderin, die noch nicht einmal bereute, was sie getan hatte, sondern es wieder tun würde? Es gab keine perfekten Worte, es konnte sie gar nicht geben, nur jene, die Maria in diesem Moment für richtig hielt.
„Ingrid.“ Sie nickte ihr nur zu. Der Schwester, die eine Fremde war.
Ingrid legte die Hände auf den Tisch und lehnte sich im Stuhl zurück, soweit es ihr möglich war. Ohne Zweifel wollte sie Entspanntheit vermitteln, aber noch kannte Maria ihre Schwester gut genug, um auch ihre Anspannung zu erkennen. Und der Gedanke, dass Ingrid dieses Gespräch nicht egal war, gab ihr Hoffnung. Wir werden immer zusammen gehen. Sie hatte ein Versprechen gegeben und sich geschworen, es zu halten.
Schweigen. Dann deutete Ingrid auf den Ehering, der an Marias Hand glitzerte.
„Du hast geheiratet“, stellte sie fest.
„Ja“, entgegnete Maria und hob den Blick, um ihrer Schwester in die Augen zu sehen. Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen, flüsterte sie sich selbst zu.
„Wir haben letztes Jahr geheiratet, Frank und ich. Begegnet sind wir uns auf einem Ostermarsch in Lübeck.“
Sie erwartete, dass Ingrid einen Kommentar zu Pazifismus bringen würde, aber stattdessen fragte sie: „Wusstest du, dass Frank vom althochdeutschen franko abstammt? Es ist der Stammesname der Franken, bedeutet, aber auch frei und tapfer.“ Einmal die Germanistin, immer Germanistin. Einmal ihre Schwester, immer ihre Schwester.
„Nun, das passt auf jedem Fall zu ihm.“
„Wirklich?“ Wieso verletzte der Zweifel in der Stimme ihrer Schwester sie nur so tief?
„Ja, er ist tapfer und liebt seine Unabhängigkeit.“ Hör auf dich zu rechtfertigen, Maria!
Ihre Schwester räusperte sich und hob die Stimme. „Ich frage mich nur, wie er frei und unabhängig in seiner bürgerlichen Existenz unter Herrschaft des Staates leben kann?“
Wie hatte sie nur glauben können, dass ihre Schwester sich geändert hatte?
„Franks Existenz ist auch die meine.“ Unter dem Tisch ballte sie die Hände zu Fäusten.
„Versteh mich nicht falsch, ich will nur, dass du glücklich bist, aber…“
„Wenn du willst, dass ich glücklich bin, warum bist du dann gegangen?“, unterbrach Maria sie.
„Weil wir manchmal Dinge über unser persönliches Glück stellen müssen.“
„Ach ja?“ Zum ersten Mal seit langem erhob Maria die Stimme gegen ihre Schwester. „Ich hätte, aber dich gebraucht, Ingrid! Dich! Oder weißt du, wie es ist, wenn alle dich nur noch nach deiner Schwester und ihren Taten beurteilen? Ich weiß immer noch nicht, was schlimmer ist: Die Menschen, die dich bespucken und in den See stoßen oder die, die dir auf die Schulter klopfen und dir zu den großartigen Taten deiner Schwester gratulieren.“
„Es tut mir leid, dass dir das passiert ist“, meinte Ingrid und dieses ungewöhnliche Eingeständnis überraschte Maria. „Aber ich denke nicht, dass dies vergleichbar ist mit dem, was ich erlebt hat. Die Bull…“
„Du hast es dir frei ausgewählt, während ich…“
„Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, im Krieg zu sein, oder?“, schrie Ingrid, „Die Bullen mit ihrem Schießbefehl. Die Angst, dass sie dich hier ermorden. Kameraden, die du verlierst. Verdammt! Sie haben sie ermordet.“
Maria warf einen Blick auf die Polizisten, aber diese schienen sich noch nicht einzumischen wollen.
„Es ist ja nicht so, als ob sie es nicht darauf angelegt hätten!“ Inzwischen kochte der Zorn in Maria, aber sie zwang ihn zurück. „Hat eigentlich irgendjemand von euch mal darüber nachgedacht, was für eine idiotische Idee es ist, hier in der BRD Revolution spielen zu wollen? Es ist einfach nur verrückt!“
„Der Revolutionär macht das Unmögliche zur Realität.“
Fassungslos schüttelte Maria den Kopf. Seltsamerweise fühlte sie sich an ihre Kindheit erinnert, wo sie und Ingrid stundenlange Diskussionen darüber geführt hatten, ob nun grüne oder gelbe Gummibärchen besser schmeckten. Nur war diese Diskussion ihrer Kindheit subjektiv aus beiden Richtungen richtig, während Ingrids Ansichten objektiv betrachtet so dermaßen falsch waren, dass Maria sich fragte, wie überhaupt jemand daran glauben konnte.
„Du hast einen Menschen ermordet“, schleuderte sie Ingrid entgegen, „Einen Mann mit Kindern, Träumen und Zielen.“
Ingrid zuckte noch nicht einmal zusammen und ihr Gesicht blieb die kalte, abweisende Maske.
Und dann schloss sie die Augen und zitierte: „Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch, und so haben wir uns mit ihm auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“
„Ich dachte, dass diese Aufnahme nicht authentisch sei? Das schrieb doch zumindest Ulrike Meinhof in einem Konzept.“
Ingrid zog eine Augenbraue hoch.
„Du hast die Konzepte gelesen?“
Maria schnaubte. „Um zu verstehen, warum aus meiner Schwester eine Mörderin wurde? Ja.“
Ihre Schwester ging nicht darauf ein. „In den damaligen Umständen mag sie das gewesen sein, aber heute ist diese Sichtweise vollkommen richtig. Die Bullen haben zuerst auf uns geschossen. Wir haben uns nur gewehrt.“
„Ist das dein Ernst?“
Ingrid musterte sie, dann schüttelte sie wie ein Spiegelbild ihrer Schwester den Kopf.
„Mir war es noch nie ernster. Sie haben Ohnesorg niedergeschossen, als dieser hilflos am Boden lag. Sie haben Petra erschossen. Dann Georg, Thomas und Hermann. Und Holger haben sie zu Tode gehungert. Gehungert! Das ist nicht eine sehr unauffällige Todesart, doch niemand hat eingegriffen. Ich sag dir, das waren Befehle von ganz oben. Die liquidieren uns einen nach den anderen.“
„Und warum haben sie dann nicht gleich die Todesstrafe über euch verhängt?“ Selbst für Maria war die Nachricht vom Tode Holger Meins schrecklich gewesen. Immerhin war der Mann in einem westdeutschen Gefängnis, das eigentlich rund um die Uhr bewacht werden sollte, umgekommen. Natürlich hatte er es durch den Hungerstreik selbst darauf angelegt, aber dass ein bewachter Gefangener in einem westdeutschen Gefängnis einfach verhungern konnte, war schier unbegreiflich. Für die RAF war Holger Meins’ Tod ohne Zweifel von Vorteil, denn war ein Mythos entstanden, dessen Ruf immer mehr junge Menschen sich anschlossen.
„Um die Augen der Menschen weiterhin mit der Illusion zu verschließen, dass der Staat nur das Beste für sie will“, entgegnete Ingrid mit einer Endgültigkeit in der Stimme, die Maria einen Schauer über den Rücken jagen ließ.
„Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt jemals jemanden geliebt hast, so wie ich Frank liebe.“ Es war eine rhetorische Frage, Ausdruck jenes tiefen Zorns und Trauer über das Unverständnis ihrer Schwester. Sie erwartete nicht, dass Ingrid eine Antwort geben würde und war umso überraschter, als sie es doch tat.
„Ja.“ Ihre Stimme war fest, doch lag eine tiefe Trauer darin.
„Ein Student? Jemand aus Westberlin?“ Vielleicht war es ihr ja möglich, darüber einen Zugang zu ihrer Schwester zu erhalten. Es war immerhin ein anderes Thema, fernab der RAF.
„Ja, ich habe geliebt.“ Für einen winzigen Moment ging Ingrids Blick ins Leere. Es war nur eine Sekunde, aber es war eines Schwäche hinter der undurchbrechbaren Maske, mit der ihre Schwester sich umgab.
„Sein Name war Hermann Schulte und er wurde von den Schweinen ermordet, weil er es wagte, für die Gerechtigkeit und die Freiheit zu kämpfen. Auch er wurde liquidiert. So wie sie auch mich und die anderen in den Gefängnissen ermorden werden, wenn wir nichts dagegen tun.“
Wie hatte sie eigentlich glauben können, Privates ihrer Schwester und die RAF voneinander trennen zu können?
Schweigen.
Dann fragte Maria: „Wenn das deine Meinung ist und du in mir sowieso nur eine bürgerliche Sau siehst, warum hast du dann ein Treffen mit mir gewollt?“
Es war das erste Mal, dass Ingrid vor einer Antwort kurz zögerte. Und es war auch das erste Mal in diesem Gespräch, das Maria das Gefühl hatte, dass Ingrid sie wirklich ansah und ihr in die Augen blickte.
„Ingrid…“ Ihre Stimme versagte und damit verstummte auch das Überbleibsel jenes kleinen Mädchens, das ihrer Schwester die Hände entgegen streckte und rief: „Lass mich nicht allein. Du hast es doch versprochen. Wir werden immer zusammen gehen!“ Sie konnte es nicht. Vermochte es nicht, Schwäche vor ihrer Schwester zuzugeben. Stattdessen legte sie die Hände auf den Tisch und fokussierte sich auf den Dreck unter den Fingernägeln. Es war soviel einfacher, als ihrer Schwester in die Augen zu blicken und sich an all das zu erinnern, was sie verloren hatte. Mörderin. Vergiss es nicht.
„Maria. Ich wollte dich sehen, um dir Lebewohl zu sagen. Denn ich glaube nicht, dass wir uns wieder sehen werden.“
Sie saß wieder in ihrer Küche, als ihre Schwester sagte, dass sie nach Westberlin gehen würde. Lag in ihrem Bett, als ihre Schwester ihr erklärte, dass sie in den Untergrund gehen würde. Saß an ihrem Schreibtisch und las den Brief, mit dem Ingrid den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte.
Es lag etwas in der Stimme ihrer Schwester, das ihr verriet, dass diese wirklich glaubte, was sie da sagte und hundertprozentig dahinter stand. So, als ob sie etwas wusste, was Maria nicht bekannt war, etwas, was geschehen würde…Diese Bestimmtheit und Radikalität jagte ihr Angst ein und ließ sie leer zurück, denn wusste sie nicht, wie sie dagegen vorgehen sollte.
„Darf ich dich etwas fragen?“ Ihre Worte waren leise, denn drückte dies am Besten die Art aus, wie Maria sich fühlte. Sie konnte selbst nicht beschreiben, wie sie sich dieses Gespräch vorgestellt hatte, aber sicherlich nicht so!
Ingrid nickte.
„Warum hast du mich nie gefragt, ob ich mit dir in den Untergrund komme?“
Es war das zweite Mal, dass ihre Schwester zögerte, denn mit dieser Frage hatte sie offenbar nicht gerechnet.
Schließlich antwortete sie mit erstaunlich leiser Stimme: „Du sahst Petra so ähnlich.“
Maria erinnerte sich. Petra Schelm war 1971 als erstes Todesopfer bei einer Schießerei mit der Polizei in Hamburg ums Leben gekommen. Bekannt war ihr Fall dadurch geworden, dass man zuerst Ulrike Meinhofs Tod gemeldet hatte, doch letztendlich war es die nur zwanzig Jahre alte Petra gewesen.
„Ursprünglich hatte ich es vorgehabt, dich mit in meinen Kampf zu nehmen. In den nahen Osten bin ich unter anderem mit Petra geflogen. Wir saßen nebeneinander und haben uns relativ gut verstanden, da wir bei einigen grundlegenden Themen dieselbe Meinung hatten. Im Juli 1971 war ich kurz davor, dich einzuweihen und an meine Seite zu nehmen. Aber dann wurde Petra erschossen und es war das erste Mal, das mir wirklich bewusst wurde, dass Krieg herrscht. Krieg zwischen uns und dem Staat.“
Maria ließ ihre Schwester reden, weil sie vorher noch nie über ihre Zeit bei der RAF geredet hatte. Auch wenn es bisher wenige Gelegenheiten dafür gegeben hatte, so sagte ihr etwas, dass Ingrid nicht oft so frei reden würde.
„Es war kein Ort für meine kleine Schwester. Ich wollte dich nie in Gefahr bringen.“
Ein schales Lächeln zog sich über ihr Gesicht, das nur Maria galt.
„Deshalb musste ich auch den Kontakt abbrechen. Es hätte dich und mich zu sehr gefährdet.“
„Aber wenn du mich in diesem Staat in meiner bürgerlichen Existenz zurückgelassen hast“, schlussfolgerte sie und ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser, „dann musst du dennoch gewusst haben, dass mir nichts passieren kann. Das wiederum bedeutet, dass der Staat kein Polizeistaat sein kann.“
Ingrid erwiderte nichts, sondern blickte auf den Tisch und jetzt bemerkte auch Maria es. Ihre Hände, die auf den Tisch lagen und nun kurz davor waren, sich zu berühren. Zögernd und unendlich langsam reckte sich Maria noch ein Stück weiter vor, damit ihre Hände aufeinander zu krochen. Ihr Atem stockte, als sie daran dachte, was gleich passieren mochte. Berührung. Berührung mit ihrer Schwester. Ihrer Schwester, vor der sie früher keinerlei Schamgefühl gehabt hatte und die ihr jetzt eine Fremde war. Berührung. Nach fünf Jahren Schweigen und Stille plötzlich Leben. Maria hob den Blick und sah in die Augen ihrer Schwester. Auch sie schien diesen Moment, der nur noch Sekunden entfernt zu sein schien, begierig, gespannt zu erwarten. Vielleicht.
„Wir werden imm…“, flüsterte Maria, doch dann, als ihre Fingerspitzen nur noch Millimeter voneinander entfernt waren, wurde die Tür aufgerissen.
Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr wie Polizisten hereinstürmten. Das Lächeln auf dem Gesicht ihrer Schwester, angefüllt mit Spott und bitterer Zufriedenheit, hielt sie dennoch nicht davon ab, sich nach vorne zu recken und die Hand ihrer Schwester zu umfassen. Fleisch auf Fleisch. Erinnerungen, die wachgerufen wurden. Ihre Schwester, die ihr morgens, wenn sie verschlafen am Frühstückstisch gesessen hatte, ihre ewig kalten Finger an den Nacken gelegt hatte. Und ihre beiden Hände ineinander verschlungen beim gemeinsamen Spaziergang oder beim Spielen im Wald. Als Kind hatten ihr die Hände ihrer Schwester immer Sicherheit versprochen und nie hatte Ingrid sie losgelassen, nie. Doch jetzt…Wenn sie sich vorstellte, dass dies dieselben Hände waren, die den Abzug gedrückt und das Leben eines Menschen ausgelöscht hatten…Und dennoch…Schwester. In Ewigkeit.
Dann wurden sie auseinander gerissen. Polizisten, die Ingrid gegen die Wand pressten, ihr gewaltsam die Arme auf den Rücken legten und ihr Handschellen anlegten. Das schmale Gesicht ihrer Schwester dazwischen, immer noch ein Lächeln um die Mundwinkel.
Maria wusste nicht wieso, doch dieses stille Lächeln machte ihr mehr Angst, als jedes Wort, jede Drohung ihrer Schwester zuvor.
Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke erneut und in ihrer Verzweiflung schrie die Jüngere: „Wir werden immer zusammen gehen!“
Später sollte sie sich nicht mehr ganz so sicher sein, doch in diesem einem, kostbaren letzten Moment sah sie eindeutig, dass Ingrid nickte.
Dann war sie fort, hinaus in den Gang und bald verhallte selbst das Echo ihrer Schritte, so wie sie einst aus Maria Leben getreten war. Doch nur aus Ingrids Sicht. Maria hatte ihre Schwester für immer zu einem Teil ihres Lebens, eines Teils ihrer Identität gemacht.
Wie erstarrt saß sie da, dachte daran, dass ihre Schwester sich für immer von ihr verabschiedet hatte, bis sich ein Polizist zu ihr stellte.
Mit harscher Stimme erklärte er: „Frau Fichtner? Wir werden sie jetzt zum Ausgang geleiten“
Ohne Widerstand zu leisten, stand Maria auf und folgte den beiden Polizisten, die sie auch hergeleitet hatten, zum Ausgang.
Auf dem Hinweg hatte Ruhe geherrscht, aber jetzt rannten Polizisten durch die Gänge und aufgeregte Stimmen erschallten.
„Was ist geschehen?“, fragte Maria den älteren ihrer beiden Begleiter.
Der Mann entgegnete nichts, sondern legte ihr nur die Hand auf die Schulter und beschleunigte seine Schritte. „Was ist passiert?“
Erneut keine Antwort, stattdessen seine Hand, die sie vorwärts schob. Erst als sie den Ausgang erreicht hatten, löste sich der schraubstockartige Griff. Wieder wurde sie durchsucht, dann händigte eine Polizistin ihr ihre Sachen aus.
Maria ging an dem Polizisten am Empfang vorbei, der in ein Gespräch mit zwei älteren Berufsgenossen verstrickt war, dann war sie draußen.
Frank wartete nicht auf sie, was angesichts der Tatsache, dass das Gespräch eigentlich länger hatte dauern sollen, kaum verwunderlich war. Während sie über den Parkplatz der JVA Lübeck ging, ließ sie die Geschehnisse Revue passieren. Irgendetwas Schreckliches musste geschehen sein, das zwar Einfluss auf die JVA hatte, jedoch nicht in ihr passiert hatte. Bei Letzterem hätten die Polizisten die Schusswaffen gezogen und es wäre deutlich mehr Chaos los gewesen. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es irgendwas mit der RAF und ihrer Schwester zu tun hatte. Warum hatte sich ihre Schwester ausgerechnet jetzt mit ihr treffen wollen, um sich zu verabschieden? Ingrid war wegen Mordes, Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, versuchten Mordes, wegen dem Anschlag auf das Springer-Hochhaus in Hamburg, Banküberfällen und Urkundenfälschung zu zweiundzwanzig Jahren Haft verurteilt worden. Damit würde sie erst 1995 freikommen. Es durfte eigentlich keinen Grund für einen Abschied geben, oder? Maria hielt ihre Schwester für zu stolz, um Suizid zu begehen und selbst wenn sie so einen Plan hätte, würde das nicht das Verhalten der Polizisten erklären…
Die Angst um ihre Schwester erdrückte sie schier, ließ sie keuchen und die Luft aus ihren Lungen weichen. Dennoch zwang sie sich vorwärts bis zu ihrem Auto, dann stieß sie die Beifahrertür auf und ließ sich neben ihren Ehemann sinken. Frank warf ihr einen kurzen Blick zu und drehte das Radio leiser.
„Was ist passiert?“, fragte Maria.
Mit ernstem Gesicht wandte er sich zu ihr um und blickte ihr tief in die Augen. Überrascht bemerkte sie, dass Tränen in seinen Augen glänzten.
„Die deutsche Botschaft in Stockholm wurde gestürmt, höchstwahrscheinlich von der RAF“, erklärte er.
„W-Was?“
Frank schüttelte den Kopf. „Mehr weiß ich auch nicht. Mehr scheint niemand zu wissen. Die Nachricht ist noch ganz frisch.“
Maria sah erneut auf ihre Fingernägel. „Es stimmt“, meinte sie leise, „Es muss die RAF sein, sonst hätten sie das Gespräch nicht so abrupt unterbrochen. Und meine Schwester, sie…sie hat so etwas angedeutet.“
„Lass uns fahren“, bat Frank und ließ den Motor an.
Seine Frau nickte. Auch sie wollte diesen Ort, der schlechte Erinnerungen in ihr geweckt hatte, so schnell wie möglich verlassen – und zugleich wieder nicht. Die Angst ihre Schwester zu verlieren, war allzu gegenwärtig. Wir werden immer zusammen gehen, beruhigte sie sich selbst, Egal wie viele Kilometer uns trennen.
Dann verschwand die JVA hinter ihnen und es blieb allein der Weg nach vorne.
Die Fahrt nach Kiel, wo sie beide inzwischen lebten, würde etwa zwei Stunden dauern, so dass sie die Botschaftsbesetzung nur über das Radio mitverfolgen konnten.
Das, was sie hörten, war schlimm genug.
Schon um zwei, zehn Minuten nach der Besetzung, gab es den ersten Toten. Militärattaché Andreas von Mirbach, der von den Terroristen zur Verhandlung mit der schwedischen Polizei verpflichtet worden war, wurde nach der Verstreichung eines Ultimatums erschossen.
Maria weinte, als sie die Nachricht vernahm. Und auch wenn ihre Schwester nicht direkt daran beteiligt war, wusste sie, dass Ingrid diese Tat unterstützen würde und fühlte sich dadurch schuldig.
Dann wurden die Forderungen der Terroristen vorgelesen und noch mehr Tränen flossen über Marias Gesicht, als sie erfuhr, wofür das Blut von Mirbachs geflossen war.
Die Terroristen forderten die Freilassung von siebenundzwanzig gefangenen RAF-Mitgliedern, darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof – die Anführer der RAF.
Dann wurde der Name Ingrid Engel vorgelesen.
Das Auto geriet ins Schleudern und erst im letzten Moment gelang es Frank, das Gefährt zurück auf die Fahrbahn zu bringen, bevor der Gegenverkehr in sie krachte. Das Hupen des Gegenverkehrs begleitete sie, aber Frank blickte nur sie an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er besorgt.
Maria zitterte wie Espenlaub, nicht nur wegen der vorigen Gefahr, sondern wegen dem Namen ihrer Schwester.
Erneut blickte sie auf ihre Hände, als ob das Blut, das in Stockholm die deutsche Botschaft tränkte, auch sie befleckte.
Sie nickte nur und konzentrierte sich auf das Ende der RAF-Erklärung, das soeben vorgelesen wurde.
„Wir werden Menschen sein - Freiheit durch bewaffneten antiimperialistischen Kampf!
Die Verantwortung für die Erschießung des Militärattachés Andreas von Mirbach trägt die Polizei, trotz verlängertem Ultimatum hat sie das Botschaftsgebäude nicht verlassen!
Kommando Holger Meins“
Menschen. Hatte die RAF ihre Menschlichkeit nicht dadurch verloren, dass sie anderen ihre Menschlichkeit absprach? Eigentlich taten sie doch genau das, was Hitler getan hatte: Eine Gruppe, die Polizisten und „Systemträger“ bezeichneten sie als Schweine und nannten ihr Leben wertlos, während sie sich selbst zur Quelle des alleinigen Rechts erhoben. Alle, die ihnen widersprachen, machten sie nieder.
Und Freiheit. Hatten sie die Arbeiter, die sie befreien wollten, überhaupt einmal nach deren Meinung gefragt? Natürlich war nicht alles gut an ihrer jetzigen Situation, aber war denn eine mit Blut erkaufte Freiheit besser?
„Was wirst du jetzt tun?“ Franks Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
„Hoffen, dass die Polizei dem Wahnsinn ein Ende bereitet und keiner zu Schaden kommt. Hoffen, dass Ingrid wieder Vernunft annimmt. Hoffen, dass die RAF-Mitglieder den Wert eines Lebens verstehen.“ Am Anfang war ihre Stimme noch leise und zögerlich gewesen, doch wurde sie fester, je weiter sie sprach. Sie ballte die Rechte zur Faust. „Aber ich werde Ingrid nicht aufgeben, niemals.“
„In Ordnung. Solange du mir versprichst, dass du dir immer wieder Ruhezeiten nur für dich nimmst und auch deine eigenen Träume lebst.“
„Keine Sorge.“ Maria sah aus dem Fenster, wo der Frühling vorbeizog. „Ingrid hat sich dazu entschieden, Leben zu nehmen und ich habe mich dafür entschieden, Leben zu bewahren. Diese Entscheidung werde ich nicht rückgängig machen.“
Leben. Sie sah zwei Kinder, die lachend auf einer Wiese spielten. Kühe, die gemächlich grasten. Vögel, die in der Luft tanzten. Leben. So viel mehr, so viel mächtiger, als der Tod.
Und ihre Schwester? Sie hatte genickt.
Wir werden immer zusammen gehen. Es war Maria nicht egal, wie die Besetzung der Botschaft in Stockholm ausging und sie bangte um die Geiseln, aber der Ausgang hatte keine Auswirkung auf die Tatsache, dass sie und Ingrid Schwestern waren. Wir werden immer zusammen gehen. Leben und Tod so eng miteinander verzahnt und doch so verschieden. Maria hatte sich für das Leben entschieden und sie würde alles dafür tun, damit auch Ingrid sich so entschied. Aber es war keine bloße Hoffnung, sondern das tiefe Wissen über etwas, was sie noch nicht in ihrer ganzen Bedeutung fassen konnte. Und das Versprechen, gegeben vor so vielen Jahren, als sie Schmerz noch nicht gekannt hatte, war die Basis. Wir werden immer zusammen gehen. Und zugleich der Beginn von etwas ganz Neuem, was Maria bauen würde.
Leben.