Rote Armee Fraktion und Stadtguerilla sind diejenige Fraktion und Praxis, die, indem sie einen klaren Trennungsstrich zwischen sich und dem Feind ziehen, am schärfsten bekämpft werden. Das setzt politische Identität voraus, das setzt voraus, daß einige Lernprozesse schon gelaufen sind.
Aus der RAF-Erklärung „Das Konzept Stadtguerilla“, April 1971
19.6.1972, Eutin
„Also.“ Marias Vater richtete sich noch ein Stück weiter auf. „Wie können wir Ihnen behilflich sein?“
Der jüngere Polizist wechselte einen kurzen Blick mit seinem älteren Kollegen, dann räusperte er sich und erklärte: „Herr Müller, wir sind wegen ihrer älteren Tochter gekommen.“
Margot stieß einen schrillen Schrei auf. „Ist ihr etwas geschehen? Hat sie jemand angegriffen? Oh, wir hätten ihr nie erlauben dürfen, nach West-Berlin zu gehen.“
Das waren erstaunlich viele Worte für die Pastorenfrau, doch die Sorge malte in vielen Farben und ließ Margot jetzt mehr reden, als sie es gewöhnlich getan hätte. „Es ist viel zu gefährlich dort! Was haben wir uns nur dabei…“
„Frau Müller“, unterbrach der ältere Polizist sie, „Wann haben sie ihre ältere Tochter das letzte Mal gesehen?“
Marias Mutter warf einen kurzen Blick zu ihrem Ehemann, dann verkündete sie: „Das…Es war vor zwei Jahren im Mai. Wissen Sie, sie hat ja so viel zu tun mit der Universität und sie ist ein so fleißiges Mädchen, deshalb hat sie es selbst zu ihrem Geburtstag nicht geschafft. Wir sind ja so stolz auf sie, aber manchmal ist es ganz schön schwierig, wissen Sie? Es…“
„Herr Müller?“, wandte sich der ältere Polizist nun an Thomas, „Wann hatten sie das letzte Mal Kontakt mit ihrer Stieftochter?“
„Wie meine Frau gesagt hat, das letzte Mal gesehen habe ich sie vor zwei Jahren, aber sie schickt regelmäßig Briefe und wir telefonieren auch. Der letzte Brief kam Anfang des Monats und das letzte Mal telefoniert haben wir Ende Mai.
„Ist Ihnen dabei irgendetwas aufgefallen?“
Margot schüttelte wild den Kopf. „Sie hat von der Uni erzählt. Sie hat einige wichtige Prüfungen und hat sich Sorgen gemacht, dass sie nicht bestehen könnte. Alltägliche Probleme in ihrer WG, aber etwas Besonderes, nein. Was sollte uns denn aufgefallen sein?“
Maria betrachtete ihre Mutter, die die Gefahr zu spüren schien, sie jedoch scheinbar nicht in Worte fassen konnte.
„Frau Müller.“ Der Polizist schaute ihr tief in die Augen. „Unseren Nachforschungen zufolge hat ihre Tochter Ingrid das Studium schon vor zwei Jahren abgebrochen, etwa zwei Wochen nach ihrem letzten Besuch bei Ihnen.“
Fassungslos sah Margot den Polizisten an. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, während Tränen über ihre Wangen rannen. Etwas schien in ihr zu zerbrechen und Maria wünschte sich so sehr, dass sie ihrer Mutter, die schon so viel Schreckliches erlebt hatte, dieses Leid hätte ersparen können.
„Was sagen Sie da?“ Selbst die Stimme des immer so unnahbar wirkenden Thomas wirkte rau.
Der jüngere Polizist nickte. „Sie hat das Studium abgebrochen“, wiederholte er. „Und sie haben wirklich keine Ahnung, wo ihre Tochter sich aufhalten könnte?“
Thomas schüttelte den Kopf und legte ungeschickt den Arm um seine weinende Frau. Der Polizist warf einen Blick zu seinem Kollegen, der sicherlich besagte, dass sie sich die Anfahrt hätten sparen können.
Maria, die bisher stumm am anderen Ende des Tisches gesessen hatte, betrachtete ihre Eltern, dann räusperte sie sich. „Hamburg“, meinte sie, „Sie ist in Hamburg. Oder sie war es, als sie mir ihren letzten Brief geschickt hat.“
Sie ignorierte die fassungslosen Blicke ihrer Eltern, auch wenn ihr Herz bei den Gedanken an den Schmerz, den sie ihnen zufügte, weinte.
„Von wann ist dieser Brief?“
„Vom 10. Mai. Ich bin mir sicher, weil sie in diesem Brief auch zu mir den Kontakt abgebrochen hat und zu dieser Zeit war sie in Hamburg.“
„Können wir den Brief sehen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn verbrannt.“ Sie hatte ihn mit all den anderen Briefen ihrer Schwester und all den Dingen, die Ingrid ihr geschenkt hatte, im Garten verbrannt, als ihre Eltern für einen Tag in Lübeck gewesen waren. Es war ihre Art des Abschiedes gewesen. Wir werden immer zusammen gehen. Es war doch nur eine Lüge gewesen. Eine Lüge von jener Art, wie man sie kleinen Kindern erzählte, um zu erklären, warum das geliebte Kaninchen gestorben war oder warum es ihm jetzt so viel besser ging, obwohl sein Körper unter kalter Erde vermoderte.
Der ältere Polizist nickte nur, aber sein jüngerer Kollege fuhr fort: „Nun das deckt sich mit den Informationen und Vermutungen, die wir und die Kollegen vom BKA haben.“ Er hielt für einen Moment inne. „Haben Sie von der Schießerei in Hamburg vor sechs Tagen gehört?“
„Sicherlich.“ Thomas nickte. „Es ging durch alle Kanäle und Radios.“
„Nun. Das gefangene RAF-Mitglied heißt Hannes Schmidt und schweigt sich zur Identität seiner Begleiterin aus, so wie alle von ihnen. Doch deutet bisher alles auf ihre Tochter als Schützin hin.“
Margot schriee erneut auf und sank ohnmächtig zu Boden, doch der Polizist sprach ungerührt weiter. „Wir fanden eine Plakette am Boden, auf der ein Fingerabdruck Ingrids zu rekonstruieren war und Zeugenaussagen stimmen ebenfalls mit Ihrer Tochter überein. Ebenfalls vermuten wir ihre Mittäterschaft an einem Banküberfall am 19.9.1070 in West-Berlin und es ist eine Zeugenaussage aufgetaucht, die zudem ihre Beteiligung am Anschlag auf das Springer-Hochhaus möglich werden lässt.“
„Was für eine Zeugenaussage?“, fragte Maria mit steinerner Stimme. Sie war ein Mädchen, das kurz vor ihren Abiturprüfungen stand und das eigentlich glücklich über das bevorstehende Ende der Schule sein und erwartungsvoll in die Zukunft blicken sollte, aber alles, was zuvor gewesen war, schien auf einmal irreal zu sein. Die Schwester, die sie kannte, war nicht mehr. Zuvor hatte der Gedanke, dass ihre Schwester nur fehlgeleitet war, vom Sog der Ereignisse und der Gruppe mitgerissen wurde,… aber jetzt. Sprich es aus, flüsterte sie, Sag, dass sie eine Mörderin ist. Mörderin. Wie konnte die Schwester, mit der sie zusammen die Fünf Freunde nachgespielt hatte und durch den Wald getobt war, eine Mörderin sein. Sie verstand es nicht. Es war so einfach, Ingrid zu trennen in die Person, die sie jetzt war und die, die sie vor West-Berlin und der RAF gewesen war. Doch das war nicht möglich. Manche Dinge waren einfach unbegreiflich, unverständlich grauenhaft.
Undeutlich nahm sie war wie der Mann etwas von einer verschwundenen Praktikantin erklärte, doch eigentlich interessierte sie sich kaum dafür. Nicht für das Wie, nur für das Warum. Warum Schwester? Warum musst du Menschen töten, wo du doch ursprünglich nur Frieden wolltest? Doch sie wusste, dass sie diese Fragen nur ihrer Schwester selbst stellen konnte. Nur konnte sie ihrer Schwester jemals wieder gegenübertreten, ohne dafür ihr Selbst aufgeben zu müssen? Sie wusste es nicht.
Die Polizisten standen auf, verabschiedeten sich und ohne zu wissen, was genau sie tat, sprang Maria auf und hielt den jüngeren Polizisten zurück.
„Ich habe noch eine Frage“, bat sie.
Er nickte und warf dabei seinem Kollegen einen Blick zu, der schon zum Wagen ging.
„Der tote Polizist..h…hatte er Kinder?“
„Drei“, entgegnete der Mann nach kurzem Zögern, „Drei Kinder und eine Frau, die ihn abgöttisch liebte.“ Was hast du nur getan, große Schwester? Musstest du um deiner Ziele willen wirklich eine glückliche Familie zerstören? Verzweiflung erfüllte sie. Verzweiflung, gefüllt mit dem Gedanken, an die Tränen in den Augen der Ehefrau, dem Unverständnis und Hass der Kinder gegenüber denjenigen, die ihnen ihren Vater genommen hatten, das Leiden des toten Mannes, dem Ingrid seine Menschlichkeit abgesprochen hatte.
Sie sah den Schmerz in den Augen des Polizisten und wünschte sich so sehr, die Zeit zurück drehen zu können, um Ingrids Pfad irgendwie zu stoppen, in eine andere Richtung zu lenken, es ungeschehen zu machen.
„Kannten Sie ihn?“
„Ja. Zu Beginn meiner Ausbildung habe ich mit ihm zusammengearbeitet. Er war ein guter, pflichtbewusster Kollege, auf den man sich immer verlassen konnte. Ihm war der Feierabend so wichtig, dass er nie mit uns anderen noch ein Bier trinken gegangen ist, sondern nach Hause, um bei seiner Familie zu sein. Wenn man Hilfe brauchte, ist er selbst mitten in der Nacht aufgestanden. Er war ein guter Freund.“
„Es…es tut mir so Leid. Ich wünschte, ich wünschte, dass ich es ungeschehen machen könnte.“
Ein bitteres, mit Trauer angefülltes, Lächeln huschte um seine Mundwinkel.
„Das ist das Leid der Überlebenden. Sich zu fragen, was man hätte anders tun müssen.“
„Ja“, flüsterte sie, überraschend, dass er sie verstand und nicht verurteilte.
„Mein Vater hat in Hitlers Namen schreckliche Verbrechen begangen. Ich erinnere mich kaum an ihn, aber ich habe mich immer gefragt, ob ich seine Meinung hätte ändern können, wenn ich nur ein lieberer, ein besserer Sohn gewesen wäre. Trotz allem ist er mein Vater, ich kann es nicht ändern, auch wenn ich ihn für das verurteile, was er getan hat.“
Sie konnte nur nicken, nur an die Wahrheit denken, die er ausgesprochen hatte, während sie sich an den Türrahmen klammerte. Ingrid war ihre Schwester. Wir werden immer zusammen gehen. Eine Lüge? Oder jene unausweichliche Wahrheit, dass sie durch ihr gemeinsames Blut und ihre gemeinsame Vergangenheit untrennbar aneinander gebunden waren? Schwester. Sie hatte doch nur die eine. Was sollte sie nur tun?
Unwirklich nahm sie wahr, wie der Polizist sich verabschiedete und zu seinem Kollegen ins Auto stieg. Ihr Vater trat zu ihr, wollte etwas sagen, doch ging, als sie nicht reagierte, zu ihrer Mutter zurück. Was sollte sie nur tun?
Dann fiel ihr ein, wer helfen konnte, ihren Gedanken Klarheit zu bringen. So plötzlich wie sie in die Starre gefallen war, so schnell erhob sie sich wieder und eilte in den oberen Flur, wo das Telefon stand. Hastig wählte sie und hob den Hörer ans Ohr. Telefone waren noch lange nicht in allen Haushalten verbreitet, aber Franks Eltern, bei denen er noch wohnte, besaßen eins, wofür Maria sehr dankbar war.
„Maria?“ Noch nie war sie glücklicher gewesen, die Stimme ihres Freundes zu vernehmen.
„Frank“, erklärte sie nachdrücklich, „Ich brauche dich!“
„Ich komme“, meinte er und legte auf.
Sie war so dankbar, dass er nicht nachfragte, sondern sofort sein Einverständnis erklärte.
„Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll“, erklärte Maria eine Stunde später am Eutiner See, während sie Steine über das Wasser springen ließ, „Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ich verliere mich selbst. Ich vergesse mich über meine Schwester.“
Beruhigend strich Frank ihr über den Rücken.
„Beginn von Anfang an“, bat er.
Maria schluckte, dann nickte sie.
„Wir hatten heute Besuch“, begann sie, „Die Polizei war da. Man hat Ingrid als die Schützin identifiziert, die letzte Woche die beiden Polizisten in Hamburg niedergeschossen hat.“
„Scheiße.“ Mehr sagte er nicht, aber sie spürte, dass seine Gedanken sich im Moment überschlugen.
Verzweifelt blickte Maria ihn an und sprach das aus, was sie die ganze Zeit nicht gewagt hatte, in Worte zu fassen: „Meine Schwester ist eine Mörderin. Sie…“ Die Stimme versagte ihr und ihre Hand zitterte so sehr, dass der Stein, den sie eben hatte werfen wollen, schon in Ufernähe mit einem lauten Platschen ins Wasser sank. Sie sah hinab und fühlte sich im Moment genau wie dieses Wasser. Herumgewirbelt, das klare Bild verloren, verdreckt. Diese kostbare Zeit des Erwachsenwerdens, der Pläne schmieden, der Zukunft bauen; all das hatte sie an ihre Schwester verloren. Sie fühlte sich nicht länger rein, so als wäre durch die Tat ihrer Schwester auch sie selbst mit Schuld befleckt worden und es schien, als ob jeder es ihr anmerken müsse.
Maria ließ ihren Kopf auf die Knie sinken und begann sich weinend hin und her zu wiegen. Nach einer Weile wandte sie sich ihrem Freund zu und flüsterte, immer noch fassungslos: „Sie hat einen Menschen getötet, Frank. Einen Mann mit einer Ehefrau, drei Kindern und Träumen“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe es einfach nicht, wie sie so etwas tun kann. Es ist einfach so, dass ich nicht mehr weiß, was ich denken soll, auf welcher Seite ich stehen soll. Es ist…“
„Hey!“ Sanft umfasste Frank ihre Schultern und drückte sie auf den Boden zurück. „Fang nicht damit an. Die RAF hat den Fehler gemacht, Menschen aufzuspalten, sie zu richten, in Gut und Böse aufzuteilen, in Feinde und Freunde. Aber so ist es nicht. Es gibt viele Stufen von grau.“
„Willst du sagen, dass meine Schwester auch gute Seiten hat?“
Sie sah, dass er eigentlich eine andere Antwort geben wollte, doch er nickte, so dass Maria sich auch von ihm nicht verstanden fühlte.
Sie sprang auf und begann hin und her zu gehen.
„Verstehst du nicht? Soll ich etwa hoffen, dass ein Polizist sie erschießt, bevor sie noch mehr Menschen ermordet?“
„Maria. Ich bin sicher, dass die Polizisten sie nicht…“
Sie hob den Zeigefinger. „Oh. Du kennst meine Schwester nicht. Sie ist stur und wird nicht zugeben, dass sie einen Fehler gemacht hat, kein aus Prinzip. Deshalb sind mein Vater und sie immer aneinander geraten.“
„Maria“, versuchte Frank es noch einmal. „Ich weiß, dass die RAF es behauptet, aber ich bin mir sicher, dass es keinen Schießbefehl der Polizisten gibt. Beruhige dich erst einmal!“
„Und wieso gibt es dann so viele Tote?“, fauchte Maria, auch wenn es nicht so meinte. Sie glaubte nicht an einen Schießbefehl, aber es war die Sorge um ihre Schwester, die sie so werden ließ.
Frank erwiderte nichts und so fuhr sie fort: „Petra Schelm, Georg von Rauch, Thomas Weisbecker, Hermann Schulte. Das sind vier erschossene RAF-Mitglieder und ich soll ruhig bleiben, wo meine schießwütige Schwester da draußen rum läuft?“
Er schien beeindruckt, dass sie sich die Namen merken konnte, aber das war keine große Kunst. Immerhin ging es um ihre Schwester.
„Und dafür wurden wie viele verhaftet? Hör mir zu, nein ich bitte dich…“
Doch sie hörte nicht auf ihn, war zu viel geladen von Emotionen, die sich wild in ihr mischten und jegliche innere Ruhe unmöglich machten.
„Siebzehn“, zählte sie.
„Hör mal! Vor vier Tagen wurde Ulrike Meinhof in Hannover gefasst. Mit ihr, Baader und Ensslin sind die Anführer im Gefängnis und die ganze Organisation wird in sich zusammen fallen. Ich denke, dass der Spuk bald ein Ende haben wird.“
„Nein.“ Maria hielt inne und blieb über ihm stehen. „Das glaube ich nicht. Bei irgendwelchen hirnlosen Schießwütigen mag dies der Fall sein, aber das ist die RAF nicht. Das sind Studenten, die an etwas glauben. Sie haben Ziele und diese Ziele werden sie doch nicht aufgeben, nur weil ihre Gründer hinter Gittern sind. Ich glaube vielmehr, dass jetzt, wo ihre Anführer im Gefängnis sitzen, es erst richtig anfängt. Denn jetzt können sie das Feindbild des Polizeistaates noch mehr ausbauen und durch die Gefangenen noch mehr Mitleid haschen und damit auch noch mehr Mitglieder anwerben. Nein. Die RAF ist noch lange nicht geschlagen.“
„Also ich glaube jetzt…“
„Hör auf. Ich kenne meine Schwester. Sie mag impulsiv sein, aber sie handelt nie ohne Überzeugung. Sie ist aus Überzeugung Mitglied der RAF, nicht, weil sie gerne Polizisten erschießt und Bomben legt.“
„Wenn du deine Schwester so gut kanntest, warum bist du dann jetzt so erschüttert, dass sie einen Polizisten erschossen und einen zweiten verkrüppelt hat?“
„Sie…ich“, fassungslos sah sie ihn an. Nur ein winziger Teil von ihr, den sie jetzt ignorierte, verstand, dass er sie damit aus ihrem Gedankenchaos reißen wollte.
„Sorry“, ruderte er zurück, „Das war nicht so gemeint.“
Sie nickte nur.
„Lass uns lieber überlegen, wie du weiter vorgehen möchtest“, fügte Frank rasch hinzu.
„Wie bitte?“ Sie blickte von dem Wasser auf, das sich in der Zwischenzeit wieder beruhigt hatte.
„Komm!“ Er klopfte neben sich auf das Gras, das genauso tot und vertrocknet aussah, wie sie sich fühlte. „Setz dich neben mich.“
Sie ließ sich neben ihn sinken, streifte die Sandalen von den Füßen und ließ sie ins Wasser hängen.
„Was ist?“, fragte sie und sah ihn an.
„Nun, Früher oder später wird deine Schwester gefasst werden, denn was auch immer die RAF denken mag, eine Ewigkeitsperspektive hat sie nicht. Und du musst überlegen, wie du ihr gegenüber treten willst, wenn überhaupt. Denn was auch geschehen mag, sie bleibt deine Schwester.“
„Ja“, flüsterte sie, tief berührt von seinem letzten Satz. Wir werden immer zusammen gehen. Ingrid hatte geglaubt, das zurück lassen können, ihre Schwester, sie, verlassen zu können. Doch dieses Versprechen war mehr als nur ein Versprechen. Es war fleischgewordene Wirklichkeit, solange sie beide lebten und vielleicht sogar noch darüber hinaus. Nichts, wirklich nichts, was Ingrid oder auch sie selbst tun mochte, konnte etwas daran ändern, dass sie Schwestern waren. Und das war eine handfeste Tatsache, auf dass sie aufbauen konnte.
„Sie ist meine Schwester“, wiederholte sie.
Und obwohl ihr Freund aussah, als wolle er es nicht zugeben, meinte er: „Ja, das ist sie.“
„Denk an deine Zukunft, an dein Glück“, beschwor er sie und sie wusste, dass er hören wollte, dass sie den Kontakt abbrechen und ihre Schwester vergessen würde. Ohne Zweifel wäre es einfacher, weniger komplizierter. Ein klarer Weg, gekennzeichnet von einem Leben an Franks Seite, als Ehefrau und Mutter seiner Kinder und vielleicht noch mit einem Beruf. Es wäre so einfach, das auszusprechen, ja zu dieser Zukunft zu sagen. Eine Zukunft, vielleicht nicht ohne Sorgen, aber sicherlich glücklich, zufrieden. Doch immer mit der Frage im Hinterkopf, was geschehen wäre, wenn sie den anderen, dunkleren Pfad gewählt hätte. Jenen gewundenen, nicht einsehbaren Weg, der zu ihrer Schwester führte.
„Ich kann es nicht“, wisperte sie und war froh, als sie es endlich aussprach. „Es wäre einfacher, aber es wäre nicht ich.“
Er sah enttäuscht aus, aber er nickte.
„An meinem sechsten Geburtstag haben wir beide uns etwas geschworen: Wir werden immer zusammen gehen.“
„Sie hat dieses Versprechen dir gegenüber gelöst, als sie das Blut dieses Mannes vergossen hat“, entgegnete er und es war die Wahrheit. Ingrid hatte sie zurückgelassen, verraten und aufgegeben.
„Ich weiß. Das hat sie“, meinte Maria und ließ erneut einen Stein über das Wasser tanzen. Sie beide sahen ihm nach, bis er nach einer Reihe von Hüpfern unterging und dabei Kreise auf die Oberfläche des Sees malte. Für einen Moment verwischte das Bild auf dem Wasser, doch dann kehrte es klar zurück und die umliegenden Bäume spiegelten sich erneut darin. Hoffnung. Das war es, was ihrer Schwester fehlte und was Maria ihr zurückgeben musste.
„In Ordnung.“ Frank nickte, auch wenn sie sah, wie sehr es ihm missfiel. „Es ist deine Entscheidung und ich werde sie akzeptieren.“
„Danke“, flüsterte sie und legte in dieses eine Wort all die Liebe, die sie für ihn empfand. Sie nahm seine Hand und zog sie an ihr Herz. So an ihn gelehnt, starrten sie beide stumm ins Wasser.
„Wir werden immer zusammen gehen!“ Sie schriee die Worte über das Wasser und ignorierte die Enten, die panisch davon stoben. Sie drückte erneut Franks Hand und hoffte, dass er verstand, dass sie auch ihn in diese Worte mit einbezog.
„Wir werden immer zusammen gehen!“ Sie wartete, bis das Echo sie zu ihr zurücktrug, dann rief sie sie wieder über das Wasser.
Ingrid hatte versucht, sie zu verlassen, doch sie würde das nicht zulassen. Sie würde nicht zulassen, dass all das Blut, was in den Straßen Hamburgs geflossen war, sie von ihrer Schwester trennte. Es machte die schrecklichen Dinge nicht ungeschehen, die Ingrid Menschen angetan hatte und Maria wollte sie auch nicht rechtfertigen oder entschuldigen, doch hatte sie das Gefühl, durch ihren Entschluss, ihre Schwester nicht aufzugeben, sie retten zu können. Damals, als sie dieses Versprechen zum ersten Mal geleistet hatte, war Ingrid diejenige gewesen, die sie hatte beschützen wollen, jetzt war es andersherum. Maria würde Ingrid vor dem schlimmsten Feind beschützten, den sie hatte: Sich selbst.
„Wir werden immer zusammen gehen!“ Sie schrie es aus, bis sie heiser war. Dann sank sie lachend und weinend zugleich auf das Gras zurück, umarmte Frank und lachte und weinte erneut. Sie würde dafür sorgen, dass dieses Versprechen eine Wahrheit ihres Lebens blieb. Das schwor sie bei allem, was sie war und hatte.
Nichts war Maria je wichtiger gewesen.