◇◇◇ Amy ◇◇◇
Amy saß auf ihrem Platz im bereits zu dieser frühen Stunde sonnendurchfluteten Klassenraum, in welchem in wenigen Minuten der Englischkurs beginnen würde. Er startete eine Woche später in diesem Schuljahr an der Monterey High School als die anderen Kurse, was wohl mit dem neuen Englischlehrer zusammenhängen sollte, der für Mr. Devany gekommen war. Dieser wiederum war an eine andere High School versetz worden – warum konnte niemand sagen. Sie hatte Mr. Devany gemocht, aber so war es ja dann meistens. Amy verstand die ganze Schulpolitik nicht, und sie wollte es auch nicht. Sie hatte weiß Gott andere Probleme.
Müde drehte sie eine ihrer kastanienroten, leicht gelockten Haarsträhnen um ihren Finger, während sie darauf wartete, dass Faith, ihre beste Freundin schon seit der Vorschule, auftauchen würde. Es war allerdings noch ziemlich früh heute Morgen. Doch Amy war dankbar gewesen, ihr Elternhaus verlassen zu können, nachdem bereits in den frühen Morgenstunden die Schreierei zwischen ihren Eltern angefangen hatte. Genau genommen war es die Fortsetzung der Schreierei der letzten Nacht gewesen.
Amy seufzte bei der Erinnerung daran. Ihre Mutter befand sich im Moment wieder einmal in der Phase, in der sie versuchte, sich gegen die eingefahrenen Verhältnisse zuhause und in ihrer Ehe aufzulehnen. Grundsätzlich war dagegen ja nichts einzuwenden, jedoch wählte sie mit absoluter Regelmäßigkeit ständig die falsche Methode. Mal zerfloss sie in Selbstmitleid, mal verschwand sie einfach tagelang. Im Moment versuchte sie es wieder einmal damit, ihre Wut und ihren Frust herauszubrüllen, was natürlich bei ihrem Vater die entsprechende Gegenreaktion hervor rief. Gebracht hatte bisher keine dieser Varianten etwas und Amy wusste, dass auf diese Phase dann wieder die gewohnte Phase der Resignation folgen würde, die sich durch völlige Gleichgültigkeit und Desinteresse allem und jedem gegenüber ausdrückte.
Amy hätte nicht sagen können, was sie als schlimmer empfand. Tatsache war jedoch, dass sie selbst in diesem Drama nur eine absolut nebensächliche Rolle spielte. Es schien, als wären sowohl ihre Mutter, als auch ihr Vater völlig mit ihrer bloßen Existenz überfordert. Sie hatte ihr Zimmer, bekam zu essen und zu trinken, was nichts anderes bedeutete, als dass sie sich selbst verköstigen und kochen musste, wenn sie eine warme Mahlzeit wollte. Hin und wieder bekam sie widerwillig etwas Geld zugesteckt, wenn sie etwas zum Anziehen oder für die Schule benötigte. Und damit hatte sich die elterliche Liebe und Fürsorge auch schon erschöpft.
Wenn man Amy danach gefragt hätte, so hätte sie nicht beantworten können, seit wann sie schon so lebte. Einige vage, schwache Erinnerungen an frühe Kindheitstage, als sie im Leben ihrer Eltern noch eine Rolle gespielt hatte, hätten ihr wohl kommen können, aber ansonsten kannte sie ihr Leben eigentlich nicht anders, als wie sie es führte. Und nur ganz selten gab es Augenblicke, in denen sie ihr Leben hinterfragte oder es zuließ, sich selbst zu bedauern.
Diese sicherlich erstaunliche Tatsache hing jedoch damit zusammen, dass sie seit ihren Kindheitstagen Faith – und auch deren Familie – an ihrer Seite hatte. Faith und sie hatten sich vom ersten Tag ihres Kennenlernens an gut verstanden und mittlerweile bedeuteten sie einander mehr als Schwestern. Fast alles in Faiths Leben war so ungefähr das Gegenteil zu ihrem. Faith und ihr zwei Jahre älterer Bruder Cole, der das der High School angeschlossene College besuchte, wohnten in einem beschaulichen Viertel in der Nähe des Monterey Veteran’s Memorial Parks in einem wunderschönen Haus. Faiths Vater Bill arbeitete in einem großen, erfolgreichen Architekturbüro und führte eine harmonische Ehe mit Faiths liebenswerter Mutter Lindsay. Schon wenige Wochen, nachdem Amy und Faith sich kennen gelernt hatten und wie die Kletten aneinander hingen, war den beiden aufmerksamen Eheleuten nicht entgangen, dass es Amy in ihrer Familie nicht eben sonderlich gut ging. Sie hatten fortan immer ein aufmerksames Auge auf sie gehabt und stellten mit der Zeit fest, dass Amy glücklicherweise zumindest keiner häuslichen Gewalt, dafür jedoch scheinbar völliger Gleichgültigkeit ausgesetzt war. Besonders Faiths warmherziger Mutter ging dieser Umstand sehr zu Herzen und mit den Jahren hatte es sich so eingespielt, dass Amy mehr und mehr Zeit mit Faith und auch in ihrem Hause verbrachte. Sie nahmen sie mit zu Ausflügen, ins Kino, ins Schwimmbad, ans Meer oder zu Kurzurlauben, so dass sich Amy bald wie zu Hause bei ihnen fühlte. Auch Bill und Lindsay hatten Amy vollständig in ihr Herz geschlossen. Wenn also Amy, was sehr selten vorkam, da sie von Natur aus und dank ihrer Freundin ein positiv denkender, aufgeschlossener und humorvoller Mensch war, doch einmal von Momenten überrascht wurde, in denen sie über sich und die Welt nachgrübelte, so zeigte sich bei ihr kaum Verbitterung über ihre eigenen Lebensumstände. Vielmehr überwog immer wieder das Gefühl von Verwunderung und Dankbarkeit dafür, dass sie an einem so wundervollen Ort leben durfte und vor allem, dass sie Faith gefunden hatte und von deren Familie geliebt wurde.
Und doch konnten Faith und ihre Familie mit all ihrer Liebenswürdigkeit und Großherzigkeit nicht verhindern, dass in Amy etwas zerbrochen war, nämlich das Gefühl, einen Wert zu besitzen und es wert zu sein, geliebt zu werden, wie es eigentlich jedes Kind dieser Erde von seinen Eltern verdient hätte.
Folglich hatte sich Amy zu einem eher schüchternen jungen Mädchen entwickelt. Es fehlte ihr an Selbstwertgefühl und infolgedessen auch an Selbstbewusstsein. Faith versuchte zwar ständig gegenzusteuern, aber nur wenn Amy sich absolut sicher fühlte, kam sie ganz aus sich heraus und konnte fröhlich und humorvoll sein. Doch tief in ihrem Inneren suchte Amy nach etwas, was ihr bisher verwehrt geblieben war: Geborgenheit, Liebe, ein Zuhause, etwas, was ihr ganz allein gehörte. Doch sie war sich dessen nicht bewusst und hätte es auch nicht in Worte fassen können. Sie spürte nur oft ein Sehnen, nach etwas Unbekanntem, Namenlosem…
Amy hielt sich den Kopf. Sie spürte eine bleierne Müdigkeit. Kein Wunder, sie hatte die halbe Nacht nicht geschlafen und ihr Spiegel hatte ihr heute Morgen mitgeteilt, dass sie auch genau so aussah. Scheiße. Aber zu versuchen, noch etwas an ihrem Äußeren zu retten, nein, dazu hatte sie heute Morgen keinen Nerv gehabt. Nur raus!
Faith würde zwar sanft mahnend den Kopf schütteln, wenn sie sie gleich mit ihren Augenringen sah, aber sie würde auch verstehen. Sie müsste gleich kommen. Faith war nie unpünktlich.
Langsam füllte sich der Klassenraum. Adam schlenderte herein und hob grüßend zwei Finger in Amys Richtung. Dann warf er seine Tasche mit Schwung auf seinen Tisch. Besser gesagt sollte sie dort landen, doch leider hatte Adam etwas zu viel Schwung genommen, und die Tasche flog im hohen Bogen über den Tisch und auf der anderen Seite wieder hinunter. Amy musste lachen.
Adam, das Genie in Physik und Mathematik, dafür aber im Alltag oft so hilflos komisch. Und ein wahrer Freund.
Eine Parfumwolke und das Klackern von Absätzen kündigten schon Skyler und ihre Clique an, bevor sie überhaupt im Türrahmen sichtbar wurden. Dann kamen sie hereinstolziert. Amy wurde für einen Moment aus ihrer Müdigkeit gerissen. Warum in aller Welt hatten sich Skyler, Deborah und Valentine so aufgestylt? Leider musste Amy zugeben, dass sie nicht schlecht aussahen, dagegen wirkte sie wie ein Aschenputtel. Aber warum …?
Dann dämmerte es ihr. Es konnte nur mit dem neuen Englischlehrer zu tun haben. Da er neu an ihre High School gekommen war, kannte ihn noch niemand, und offenbar hatten sich die drei da etwas vorgenommen … na dann bitte.
Adam hatte Amys entgeisterten Blick aufgefangen, verdrehte die Augen und imitierte einen Augenaufschlag. Amy musste wieder lachen. Adam war wirklich der Beste.
Da, endlich sah Amy die vertraute Gestalt ihrer Freundin den Klassenraum betreten. Selbstbewusst und mit einem herzlichen Lächeln für Amy ging Faith auf ihren Platz zu und ignorierte völlig die abfälligen Blicke von Skyler und ihrer Clique.
Augenblicklich korrigierte Amy sich selbst. Hatte sie sich vorhin tatsächlich dazu hinreißen lassen, zu denken, Skyler, Deborah und Valentine sähen gut aus? Nun – wenn, dann nur auf den ersten Blick. Liebevoll betrachtete Amy ihre Freundin. Faith war bildhübsch, chic angezogen und selbstbewusst, dabei aber von einer solchen Natürlichkeit, dass es kein Wunder war, dass ihr fast alles, was sie sich vornahm, auch gelang. Und Skyler betrachtete sie daher natürlich als ihre größte Konkurrenz.
Anmutig ließ Faith sich auf ihren Platz neben Amy gleiten und begrüßte ihre Freundin herzlich.