◇◇◇ Mr. Collins ◇◇◇
„Hey, Süße“, sagte Faith und stutzte dann, als sie Amys blasses Gesicht sah. G„Was ist los?“, fragte sie alarmiert. Amy lächelte sie kläglich an und winkte ab. „Nichts. Besser gesagt, das Übliche“, murmelte sie und schaute unauffällig zu Skyler hinüber. Amy war die bevorzugte Adressatin für ihren Spott, da Skyler sich an Faith die Zähne ausbiss. Die unsichere Amy war da eine viel lohnenswertere Zielscheibe, hatte Skyler herausgefunden. Außerdem konnte sie auch Faith damit treffen. Allerdings wagte Skyler es nicht, den Bogen zu weit zu überspannen, da Faith sich auch nicht scheuen würde, eine handfeste Auseinandersetzung mit ihr zu führen, um für ihre Freundin einzustehen. Außerdem hatte Skyler feststellen müssen, dass auch der immer etwas chaotisch wirkende Adam, der ständig mit den beiden abhing, nicht zu unterschätzen war.
Faith war Amys Blick gefolgt und deutete ihn falsch. „Skyler?“, fragte sie angriffslustig. „Nein, nein“, antwortete Amy schnell „Zuhause …, aber lass uns später darüber sprechen, bitte!“
Faith wollte gerade antworten, da fiel ihr Blick auf die geöffnete Klassenzimmertür, die ihnen gegenüber lag. Sie gab Amy ein Zeichen und Amy blickte ebenfalls zur Tür.
Im Gang vor der Tür waren zwei Männer stehen geblieben. Der eine war Mr. Perry, ihr Mathematiklehrer. Er deutete mit einer Hand und einem Kopfnicken in den Raum, lachte dann und gab dem anderen die Hand. Den anderen Mann hatte Amy noch nie gesehen. Von ihrem Platz aus konnte sie nur erkennen, dass er einen Anzug trug und Mr. Perry um Haupteslänge überragte.
Die Männer wechselten noch ein paar Worte, dann betrat der Mann den Klassenraum und schloss geräuschvoll die Tür hinter sich. Sofort wandten sich ihm alle Augenpaare zu.
Er war wirklich ungewöhnlich groß, was durch seine schlanke, gut gebaute Statur noch unterstrichen wurde. Er war nicht mehr ganz jung, vielleicht um die vierzig, trug eine Brille und hatte akkurat kurz geschnittenes, dunkelblondes Haar.
Mit seinem Anzug und seiner Aktentasche, dem energischen Schritt, mit dem er jetzt den Raum durchmaß und dem distanzierten Blick, den er dabei in die Klasse warf, verkörperte er so sehr das Bild des typischen Lehrers, dass er unmissverständlich ein unterdrücktes Stöhnen bei den meisten Schülern hervorrief. Aus den Augenwinkeln sah Amy, dass sich Skyler und ihre Freundinnen enttäuscht anblickten und die Augen verdrehten. Amy konnte nicht verhindern, dass sich ein Grinsen in ihr Gesicht schlich, denn sie konnte eine gewisse Schadenfreude nicht unterdrücken. Tja, Mädels, wen habt ihr erwartet? Einen zweiten Brad Pitt? Leider verloren. Schade aber auch.
Mittlerweile hatte der neue Lehrer das Lehrerpult erreicht. Auf das leise einsetzende Gemurmel reagierte er nicht.
Amy und Faith saßen direkt seitlich vorne am Lehrerpult. Faith hatte diesen Platz ausgewählt, denn sie war sehr ehrgeizig und glaubte nicht zu unrecht, auf einem der vorderen Plätze mehr Disziplin und Aufmerksamkeit aufbringen zu können. Amy wäre manchmal ein Platz in den hinteren Reihen lieber gewesen, wo sie sich hin und wieder in sich selbst hätte zurückziehen können. Vielleicht war es aber gerade deshalb gut, dass sie mit Faith vorne saß.
Noch immer hatte der neue Lehrer nichts gesagt. Er hatte seine Tasche geöffnet und kramte wortlos und mit unbewegtem Gesicht darin herum.
Faith und Amy sahen sich verstohlen an und Faith zuckte leicht mit den Schultern. Der Geräuschpegel in der Klasse wurde etwas lauter. Faith begann gelangweilt, Strichmännchen in ihren aufgeschlagenen Collegeblock zu kritzeln.
Amy konnte nicht anders, sie beobachtete mit ihren großen Augen den Mann, der da unmittelbar vor ihr herumhantierte. Sie versuchte, in diesem unbewegten Gesicht etwas zu finden, was … ja was eigentlich?
Aus irgendeinem Grund übte dieser Mann eine unerklärliche Faszination auf sie aus, so dass sie den Blick nicht abwenden konnte. Plötzlich hob er den Kopf, als ob er ihren Blick gespürt hätte, und Amy blickte unmittelbar in zwei strahlend blaue Augen hinter den Brillengläsern. Dies kam so unerwartet, dass Amy den Atem anhielt. Einen Moment lang blickten sie sich in die Augen, dann verzog sich der so streng wirkende Mund plötzlich zu einem warmen Lächeln, das sich bis in seine Augen ausbreitete, die Amys Blick noch immer festhielten.
Ein bisher unbekanntes Gefühl durchfuhr Amys Körper wie ein Blitzschlag. Beinahe wäre sie zurückgezuckt. Verwirrt senkte sie den Blick. Ihr Herz klopfte wild und sie versuchte, sich wieder zu fangen. Sie wagte nicht, den Blick wieder zu heben.
„Das ist jetzt wirklich kein guter Start“, hörte sie plötzlich seine Stimme. „Kann mir eine von Ihnen vielleicht einen Kugelschreiber leihen?“ Er lächelte immer noch und blickte fragend von Amy zu Faith hinüber. Diese nahm einen Kuli aus ihrem bereits bereit liegenden Etui und reichte ihn mit verbindlichem Lächeln rüber. „Vielen Dank. Sehr lieb von Ihnen.“
Er hatte eine sehr warme, angenehme Stimme, die gar nicht so recht zu dem distanzierten Gesicht passte. Dann richtete er sich zu seiner vollen Höhe auf und wandte sich den Schülern zu.
Während er sich mit knappen Worten der Klasse vorstellte, wandte sich Faith Amy zu und wollte ihr etwas zuflüstern. Doch sie stockte. Amy schien noch blasser als zuvor. Prüfend schaute Faith sie an. Amy erwiderte ihren Blick, und aus ihren Augen sprach einfach nur Verwirrung.
„Was ist los?“, flüsterte Faith Amy verständnislos zu. Amy gab keine Antwort. „Ist dir schlecht?“, hakte Faith nach. Amy schüttelte nur stumm den Kopf. Faith betrachtete sie prüfend. Amy stand aber heute wirklich neben sich.
Der Lehrer war mittlerweile zur Tafel gegangen. ‚Steve Collins’ schrieb er an, darunter die Kursnummer und den Namen des Kurses.
„Ich bitte Sie, sich folgende Literatur anzuschaffen“, sagte er mit seiner außergewöhnlichen Stimme. „Bitte spätestens bis nächste Woche. Ich schreibe sie hier an, bitte notieren Sie es sich.“ Er drehte sich wieder zur Tafel und begann zu schreiben. Faith hatte sich ihren Collegeblock geschnappt und begann mitzuschreiben. Sie warf einen Blick zu Amy hinüber. Die saß vor ihrem Block und hatte bisher lediglich die Worte ‚Steve Collins’ abgeschrieben. Faith fühlte, wie sie langsam etwas gereizt wurde, eine Eigenschaft, zu der sie trotz ihres liebenswürdigen Wesens manchmal neigte. Dann jedoch bemerkte sie, wie die Hand ihrer Freundin leicht zitterte. Irgendetwas war da wirklich nicht in Ordnung. Sie hätte doch direkt nachhaken sollen. Doch jetzt war es zu spät. Dieser Mr. Collins sah nicht so aus, als ob er Privatgespräche während seines Unterrichts duldete – schon gar nicht unmittelbar vor seinen Augen. Das musste also bis zu Pause warten.
Amy versuchte immer noch verzweifelt, sich wieder zu fangen. Was war mit ihr passiert?
Seit dem Blick in seine Augen und seinem Lächeln schien alles in ihr seinen Platz verlassen zu haben und sich wie ein Wirbelsturm um sich selbst zu drehen. So etwas hatte sie noch nie empfunden. Sie schaute auf die Buchstaben auf ihrem Block. Steve Collins … ihr neuer Englischlehrer. Sie legte ihre Fingerspitzen gegen ihre Schläfen. Sie bekam das alles einfach nicht zusammen.
Sie spürte, dass Faith neben ihr begann, ungeduldig zu werden. Aber, mein Gott , wie anders war dies, was sie gerade fühlte, als die Situationen, wenn sie zusammenstanden und über Jungs tuschelten, oder wenn der süße Evan, in den Faith so verliebt war, irgendwo auftauchte. So anders. So verwirrend. Und doch auch irgendwie so, als hätte irgendetwas in ihr schon lange darauf gewartet. Aber worauf ? Auf dieses Gefühl? Auf … ihn?
Amy beobachtete jede Bewegung ihres Lehrers, doch sie senkte sofort den Blick, wenn er eine Frage an die Klasse stellte und seine Schülerinnen und Schüler ansah. Dabei sehnte sie sich so danach, noch einmal Blickkontakt mit ihm zu haben … noch mehr allerdings fürchtete sie sich davor. Sie seufzte leise. Inhaltlich bekam sie von dieser Stunde fast überhaupt nichts mit, da musste Faith dann wohl später wieder herhalten. Schlimmer allerdings war, dass sie sich fühlte, als habe sie den Boden unter ihren Füßen verloren und würde nun hilflos in einem Meer von verwirrenden Gefühlen schwimmen.
Sie schreckte auf, als Mr. Collins an das Lehrerpult trat, doch er nahm sich nur eine Liste vom Tisch und wandte sich wieder der Klasse zu, ohne den Mädchen einen Blick zuzuwerfen.
„Ich werde nun die Anwesenheitsliste überprüfen. Bitte geben Sie mir ein kurzes Handzeichen.“ Er begann die Namen der Schülerinnen und Schüler vorzulesen. „Faith Smith?“ Faith hob die Hand. Mr. Collins sah zu ihr hinüber, lächelte und hob kurz die Augenbrauen. Dann wackelte er einmal kurz mit dem Kugelschreiber, den er sich von ihr ausgeliehen hatte, machte sein Häkchen an ihren Namen und las weiter vor.
„Streberin“, zischte es aus Skylers Ecke. „Sich direkt einschleimen …“
Steve Collins’ Gesicht wurde, sofern das möglich war, noch eine Spur ausdrucksloser. Er trat wie beiläufig an den Tisch der lästernden Mädchen und fragte plötzlich mit eiskaltem Lächeln: „Wie bitte?“
Mit großen Augen beobachtete Amy die Szene. Wie anders hatte er vorhin gelächelt ... sie angelächelt … das konnte sie sich doch nicht eingebildet haben? Auch Faith war aufmerksam geworden. Skyler und Deborah blickten irritiert zu ihm auf. „Nichts“, nuschelte Skyler und wollte sich wegdrehen. „Seien Sie doch bitte so liebenswürdig und stehen Sie einmal auf“, sagte Collins mit seiner weichen Stimme, aber seine Augen blickten eiskalt. Skyler lachte nervös auf, doch Mr. Collins rührte sich nicht von der Stelle und sah sie erwartungsvoll und unmissverständlich an. In der Klasse war es still geworden. Alle blickten gespannt auf diese Szene. Skylers Lächeln gefror auf ihrem Gesicht. Schließlich erhob sie sich nervös, wobei sie nicht gerade sehr anmutig aussah. Als sie vor ihm stand, sah man erst richtig, wie groß Steve Collins war. Trotz ihrer Absatzschuhe reichte ihm Skyler nur knapp bis zu den kräftigen Schultern. „Sie wollten etwas sagen? Bitte sehr“, sagte Mr. Collins liebenswürdig, aber mit nach wie vor eisigem Blick.
„Geil!“ entfuhr es Adam, der die Szene sichtlich genoss. Skyler war ihr gewohnt höhnisches Grinsen komplett vergangen. Sekunden verstrichen. „Doch nicht? Ah, Entschuldigung. Ich hatte den Eindruck“, sagte der Lehrer, drehte sich um und ließ Skyler stehen. Als wäre nichts gewesen, las er die nächsten Namen der Anwesenheitsliste vor. Skyler sank nicht eben eindrucksvoll auf ihren Stuhl zurück. Aus verschiedenen Ecken der Klasse hörte man ein Kichern. Vor allem Adam machte keinen Hehl daraus, dass er die Aktion genossen hatte.
Steve Collins war zwischenzeitlich beim letzten Namen auf seiner Liste angekommen. „Amy Walker?“ Amys Herz klopfte und sie hob schüchtern die Hand. Vorsichtig blickte sie zu ihm auf … und sein Blick fand wieder den ihren. Sekunden verstrichen, in denen sie einander in die Augen blickten. Und da war es auch wieder, dieses Lächeln.
Die meisten Schülerinnen und Schüler waren längst dabei, ihre Sachen zu packen und sich zu unterhalten. Auch Faith schlug ihren Collegeblock zu und wandte sich Amy zu. Dann stutzte sie, verfolgte ihren Blick und blickte überrascht in Steve Collins Gesicht, als sie bemerkte, dass er Amys Blick erwiderte. Ihr war nun schlagartig alles klar. Mr. Collins bemerkte Faiths Blick und wandte die Augen ab. Das Lächeln in seinem Gesicht blieb jedoch, als er auf die Mädchen zutrat und Faith ihren Kugelschreiber zurückgab. „Vielen Dank noch mal“, sagte er liebenswürdig. Faith konnte nicht umhin, zuzugeben, dass er einen ganz eigenen Charme besaß. Mr. Collins ergriff seine Aktentasche, nickte noch einmal grüßend und verließ den Raum. Faith blickte ihrer Freundin offen ins Gesicht und ihr Blick sprach Bände. Amy konnte nichts weiter tun, als ihren Blick hilflos zu erwidern.
Doch nicht nur Faith hatte diesen außergewöhnlichen Moment zwischen Amy und Steve Collins beobachtet. Noch jemand hatte sich diesen Blick nicht entgehen lassen. Und das war Skyler.