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Die nächsten Unterrichtsstunden gingen völlig an Amy vorbei, so sehr sie auch versuchte, sich zusammen zu reißen. Faith hatte ein paar Mal versucht, sie zum Sprechen zu bewegen, doch Amy hatte immer abgeblockt. Sie hatte einfach Angst, in Tränen auszubrechen, vor Ratlosigkeit darüber, was mit ihr los war.
Endlich war der Vormittagsunterricht zu Ende und Massen von Schülerinnen und Schülern strömten auf das weitläufige Schulgelände. Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne schien warm, aber nicht zu heiß. Amy liebte solche Tage und sie liebte ihre Schule an solchen Tagen. Überall waren kleinere Wiesen und Grünflächen, auf denen jetzt überall Gruppen von jungen Menschen zu sehen waren, die auf dem Rasen saßen, sich unterhielten und lachten. Man konnte bis zu den ausgedehnten Sportflächen und den Gebäuden des angrenzenden Colleges hinüber sehen. Außerdem gab es zahlreiche Tischgruppen in der Nähe der Mensa und Cafeteria.
Flink wie sie war, hatte sich Faith Plätze an einer Tischgruppe unter einem ausladenden Baum organisiert und winkte Amy, sich zu ihr zu setzen. „Kakao?“, fragte sie dann nur. Amy nickte stumm. Seit ihrem ersten Jahr tranken sie und Faith fast täglich ihren warmen Kakao in der Mittagspause, unabhängig von Wetter und Jahreszeit, weil er hier erstaunlich gut schmeckte. Sie hatten schon öfter herumgeblödelt, dass ihre erste Erinnerung später an ihre Highschool Zeit wohl der tägliche Kakao sein würde. Faith stellte ihre Tasche auf ihren Stuhl und verschwand in Richtung Cafeteria. Amy atmete tief durch und genoss den kleinen Moment des Alleinseins. Gleich würde sie Faith Rede und Antwort stehen müssen, das war klar.
Einige Minuten später tauchte Faith wieder auf, in jeder Hand einen Becher mit dampfendem Kakao. Sie stellte einen Becher vor Amy ab und setzte sich dann. Schweigend blickte sie ihre Freundin an und wartete. Nach einigen Minuten blickte Amy Faith hilflos an. „Frag mich nicht“, sagte sie unvermittelt mit zittriger Stimme.
Faith betrachtete sie prüfend. „Amy“, sagte sie dann leise, „Mr. Collins?“
Amy nickte und blickte dann ihrer Freundin in die Augen. „Ich kann mir vorstellen, was du denkst. Oh, Faith, ich hab keine Ahnung, warum...“ Amy presste die Lippen aufeinander und blickte abwesend über das Schulgelände. Dann wandten sich ihre großen Augen wieder ihrer besten Freundin zu. „Ich hab keine Ahnung…“, wiederholte sie leise.
„Ach Amy…“, sagte Faith nur. Sie kannte ihre Freundin so gut, sie wusste, sie würde jetzt nicht mehr aus ihr herausbringen. Wie auch? Offensichtlich war Amy völlig überfordert, ihre Gefühle einzuordnen oder in Worte zu fassen. Aber Faith spürte instinktiv, dass es etwas Ernstes war, was da von Amy Besitz ergriffen hatte. Nachdenklich blickte sie in ihren Kakao und rief sich noch einmal die heutige Englischstunde in Erinnerung. Mr. Collins war nun auf den ersten Blick wirklich nicht der Typ von Lehrer, in den man sich spontan vergucken würde. Anders als Mr. Garcia, ihr Sportlehrer, zum Beispiel. Er war der heimliche oder offene Schwarm sämtlicher Schülerinnen der Schule. Aber auch ihr war heute Morgen nicht entgangen, dass Mr. Collins auf den zweiten Blick durchaus einen gewissen Charme besaß.
„Er ist schon irgendwie besonders“, sagte sie, mehr um überhaupt irgendwas zu sagen. Amy hob den Kopf und ihre Augen leuchteten auf. „Ja, nicht wahr?“ Dankbar sah sie ihre Freundin an, als hätte sie deren Bestätigung gebraucht. Wahrscheinlich war es auch so. Ihre Bindung war so fest, dass sie ihre Gefühle einfach mit Faith teilen musste.
„Ja“, sagte Faith noch einmal fest und lächelte ihre Freundin liebevoll an. „Und jetzt erzähl mir, was bei euch zuhause wieder los war, OK? Du siehst aus wie ein Gespenst.“ Sie gab Amy einen freundschaftlichen Nasenstüber.
Amy atmete durch und sah sich um. Es war so ein schöner Tag. Und sie hatte eine beste Freundin, mit der sie über alles sprechen konnte.
Sie erzählte Faith von der nächtlichen Schreierei ihrer Eltern. Oh Gott, sie war so froh, dass sie Faith hatte – und deren Familie. Sie wussten Bescheid und Amy war ihnen jederzeit willkommen – und dies so aufrichtig, dass sie sich bei ihnen fast wie zuhause fühlte. Auch jetzt machten die Mädchen aus, dass Amy heute nach dem Training erst mal mit zu Faith gehen würde.
Doch als Amy jetzt von den Geschehnissen der vergangenen Nacht berichtete, kam es ihr vor, als lägen diese mindestens hundert Jahre zurück, oder als hätten sie sich in einer anderen Welt ereignet. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Etwas so … Unbegreifliches war heute mit ihr geschehen. Amy war immer noch so verwirrt. Unvermittelt sah sie seine blauen Augen vor ihrem inneren Auge…sein warmes Lächeln…
Faith beobachtete ihre Freundin prüfend. Es tat ihr sichtlich gut, sich aussprechen zu können. Doch sie sah auch, wie Amys Gesicht zwischendurch seinen Ausdruck veränderte, ihre Augen aufleuchteten, ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht huschte und sich dann plötzlich wieder Ratlosigkeit über ihr Gesicht legte. Und eine Traurigkeit, die ihre großen Augen noch größer wirken ließ. Schließlich hörte Amy auf zu sprechen und sah Faith an. Die nahm die Hände ihrer Freundin. Sie waren kalt. „Mensch, Süße“, flüsterte sie, „dich hat’s aber wirklich ganz schön erwischt.“
Amy nickte stumm. Dann blickte sie auf und lächelte kläglich. „Ich habe es mir nicht ausgesucht… und ich kann es nicht erklären. Oh Faith … und es ist so absolut aussichtslos.“ Sehnsüchtig blickte sie hinauf in das Geäst des Baumes, unter dem sie saßen. Dann schaute sie wieder Faith an. „Aber ich kann es nicht ändern.“ Ihre Stimme klang hilflos.
Faith konnte darauf nichts erwidern. Immer mehr wurde ihr die Ernsthaftigkeit von Amys Gefühlen bewusst – und sie tat ihr leid. Denn natürlich hatte Amy Recht. Wie aussichtslos war diese Liebe. Mr. Collins war kein geringerer als ihr Lehrer und wahrscheinlich auch noch verheiratet. Damit waren alle weiterführenden Gedanken sozusagen von vorneherein ausgeschlossen. Nun war Amy einmal verliebt – endlich einmal – und es musste ausgerechnet Mr. Collins sein. Aber irgendetwas musste Amy in ihm gesehen haben, das sie total gefesselt und in seinen Bann gezogen hatte – sicherlich ohne dass er es gewollt hatte. Aber dieser Blickwechsel zwischen ihnen…
Faith seufzte. Wie oft hatte sie ihre Freundin schon getröstet, ihr Mut gemacht. Ihr war fast immer etwas eingefallen. Und ausgerechnet jetzt, wo Amy offensichtlich wirklich ihr Herz verloren hatte, konnte sie ihr nicht helfen. Diese Sache war wirklich aussichtslos. Oder?
Faith hielt immer noch die Hände ihrer Freundin und grübelte vor sich hin. Dann schaute sie auf, schien einen Augenblick zu überlegen und gab dann doch Amy ein Zeichen, sich umzudrehen.
Mr. Collins bahnte sich, seine Tasche unter dem Arm, einen Weg durch die herumstehenden Schülergruppen. Hin und wieder nickte er mit einem knappen Lächeln. Einige neugierige Blicke folgten ihm. Er schien das Schulgelände zu verlassen. Offensichtlich hatte er Feierabend für heute.
Amy wandte sich wieder Faith zu, doch bevor sie das Gespräch mit ihrer Freundin wieder aufnehmen konnte, kam Adam zu ihnen an den Tisch geschlendert.
„Hey.“ Er setzte sich zu ihnen und begann, ein Butterbrot auszupacken. Doch dann stutzte er plötzlich und sah die beiden Mädchen an. “Was ist los mit euch? Ärger gehabt? Hab ich was verpasst?“ Er biss in sein Brot. Die Mädchen mussten lächeln. Wenn Adam in der Nähe war, herrschte selten gedrückte Stimmung.
„Habt ihr heute Cheerleader Training?“, wollte er dann wissen.
„Jepp“, sagte Faith. „Heute Nachmittag.“
Amy sah plötzlich etwas erschrocken aus. „Aaah… ich weiß nicht, ob ich mich heute konzentrieren kann“, meinte sie kläglich. Adam wurde hellhörig. „Was ist los?“, wollte er wissen. „Ärger zuhause“, sagte Faith schnell und sah Adam vielsagend an. Dann wandte sie sich Amy zu. „Ich glaube, gerade Training tut dir heute ganz gut, Süße.“
Amy gab sofort jeden Widerstand auf. Es war sowieso zwecklos, wenn Faith sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Außerdem hatte sie vermutlich auch Recht. Sie seufzte und Faith sah sie aufmunternd an.
„Also ihr seid irgendwie komisch heute“, murmelte Adam. „Ach ja, das wollte ich noch sagen. Wenn’s euch recht ist, geh ich heute mit euch zusammen.“ Adam wohnte ganz in der Nähe im gleichen Viertel wie Faith. „Nach eurem Training, mein ich. Wir haben heute nämlich eine Sonder -Bandprobe. Besser gesagt, ’ne Krisensitzung.“
Adam verzog das Gesicht.
„Wir sind doch zur Zeit ohne Bandleader. Und jetzt sieht’s so aus, als ob Julia auch noch das Handtuch wirft.“ Adam biss grimmig in sein Brot. Er spielte zusammen mit Faiths Bruder Cole in der Schulband, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreute.
„Echt? Warum das denn?“
„Sie hat dieses Jahr ihre College Abschlussprüfungen … da wird ihr das alles zu viel. Kann’s ja auch verstehen, aber das ist jetzt mal so richtig sch… bescheiden.“ Adam seufzte. „Mal sehen, was dabei heraus kommt… und das wollte ich Cole dann berichten.“
„Dann musst du allerdings mit bei uns vorbei kommen, Adam. Cole hat heute kein Training, er ist schon früher zuhause.“
„Äh… warum kommt er denn dann nicht zu unserer Bandprobe?“
Faith zuckte die Achseln. „Hast du ihm denn Bescheid gesagt?“
„Nö. Dachte ja, er hat heute Training.“
Faith und Amy mussten lachen. „Wie soll er denn dann kommen, Adam, wenn er von nichts weiß… typisch du!“ kicherte Amy.
„Na ja…OK… is ja auch kein Ding. – Ey, wir sind die letzten hier. Ich muss in meinen Chemiekurs. Wartet ihr dann nachher?“
„Ja klar!“
Adam sprang auf und hätte um ein Haar Amys Becher Kakao vom Tisch gefegt. „Bis später dann!“ Die Mädchen sahen sich an und lachten. Faith stellte fest, dass Amy etwas entspannter aussah.
„Na komm, gehen wir auch rein.“ Sie standen auf und gingen auf das Schulgebäude zu. Auf dem Weg dahin zog Faith Amy kurz liebevoll an sich. „Wird schon, hm?“, sagte sie und lächelte Amy zu. Amy lächelte dankbar zurück.