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Steve saß hinter dem Steuer seines SUV und fuhr auf den Highway auf, der zum Flughafen führte. Er war zeitig dran, die Maschine würde erst in einer Stunde landen und länger als 35 Minuten würde er nicht fahren.
Er beschäftigte sich eine zeitlang mit der Frage, warum er sich nicht mehr freute, seine Frau nach zweiwöchiger Abwesenheit wieder zu sehen. War da immer noch die leichte Verstimmung darüber, dass sie ausgerechnet in der Zeit hatte wegfahren müssen, in der sie umgezogen waren und er seinen neuen Job angetreten hatte? Oder setzte sich da ein Prozess fort, der schon vor längerer Zeit begonnen hatte?
Er seufzte. Der Umzug, der neue Job ... es sollte ein Neuanfang werden. Allerdings hatte er das dumpfe Gefühl, dass dies seine Ehe wohl nicht mit einschloss. Ansonsten konnte er sich wirklich nicht beschweren. Er fühlte sich wohl in seinem Haus, in dem Wohnviertel, er hatte erste Kontakte geknüpft. Sein Job lief großartig, die Kollegen waren im Großen und Ganzen alle sehr nett, so wie auch der Großteil seiner Schülerinnen und Schüler.
So - und nun konnte er seine Gedanken nicht länger wegschieben und musste sich ihnen stellen.
Was war los mit der Kleinen?
Er dachte an den heutigen Nachmittag. Wie verloren sie auf der Bank gesessen hatte. Er war eigentlich nur mal zum Sportplatz rübergeschlendert, um mal einen Blick auf das Football und Cheerleader Team zu werfen, das er bisher noch nicht kannte - als er sie dort sitzen sah.
Er konnte nicht anders, als sich zu ihr zu setzen.
Ihre Reaktion war ähnlich wie jedes Mal, wenn sie im Unterricht oder zufällig aufeinander trafen. Sie war schüchtern und scheu und wich meistens seinem Blick aus, als hätte sie Angst, mit ihm in Blickkontakt zu kommen.
Dabei war genau das das erste, woran er sich erinnerte, wenn er an Amy dachte. Ihre großen, graugrünen Augen, die seinen Blick gesucht hatten - und von denen es ihm schwer gefallen war, den Blick wieder zu lösen.
Er hatte sich bis jetzt noch nicht erlaubt, darüber nachzudenken, warum das so war. Er erlaubte es sich auch jetzt nicht.
Aber was war mit Amy los?
Bereits am ersten Tag war ihm aufgefallen, dass sie müde und blass aussah. Und dann ihre heutige Reaktion, als er ihr anbot, sie nach Hause zu bringen. Sensibel wie er war, spürte Steve, dass Amy Probleme haben musste. Zuhause, vermutlich.
Ihre Eltern? Ihre finanzielle Situation?
Er hoffte nur, dass sie nicht häuslicher Gewalt ausgesetzt war ... oder Schlimmerem. Sein Blick wurde hart.
Aber sie hatte sehr engen Kontakt zu Faith, die sich als Tochter seiner Nachbarn herausgestellt hatte.
Ganz wunderbare Leute, die ganze Familie. Er hatte Amy schon öfter flüchtig bei Faith gesehen, oder auch dass sie mit ihr nach Hause ging. Also war seine Vermutung wohl nicht so falsch. Er würde vielleicht einmal mit Faiths Eltern ein Gespräch suchen, vielleicht konnten sie ihm etwas berichten, was seine Vermutungen bestätigte.
Aber war das alles, was das Mädchen quälte?
Er konnte sich nicht helfen, aber er hatte den Eindruck, dass sie eigentlich ein fröhliches, aufgeschlossenes, vielleicht sogar humorvolles Mädchen war. Nur, sobald er in ihre Nähe kam, zog sie sich zurück wie eine Schnecke in ihr Haus ... lag es an ihm?
Irgendetwas in seinem Kopf schalt ihn, sich nicht dumm zu stellen und die Dinge beim Namen zu nennen.
Ja ... und das genau waren die Gedanken, die er bisher von sich geschoben hatte. Waren die Signale, die er empfing, nicht eindeutig? Hatte er es nicht bei ihrem ersten Blickkontakt gespürt?
Am Nachmittag, als sie sich im Haus näher gekommen waren?
Ihr Herzschlag war fast hörbar gewesen, ihre Verlegenheit greifbar. Ihr ganzes Verhalten ... er sollte vielleicht nicht so tun, als hätte er nicht verstanden, was passiert war.
Er war ein Mann ... und er war lange genug Lehrer. Dies war nichts, was er nicht hätte einordnen können - aus beiderlei Positionen heraus.
Gerade erst vor wenigen Tagen hatte Skyler ja ganz offensichtliche Versuche gestartet, mit ihm zu flirten oder ihn ‚anzubaggern’, wie es auch gerne genannt wurde. Solche Verhaltensweisen waren in seiner Lehrerlaufbahn nichts Neues, wenn sie auch eher in seinen jüngeren Jahren häufiger aufgetreten waren.
Hierauf wusste Steve auch zu reagieren, es hatte ihm noch nie Probleme bereitet, mit solchen Situationen umzugehen und auch den betreffenden Schülerinnen eindeutig zu signalisieren, dass dies nicht ging.
Aber bei Amy war es irgendwie anders ... bis jetzt hatte er ja sogar vermieden, die Signale, die er empfangen hatte, als das zu erkennen und zu deuten, was sie zweifelsohne waren.
Aber sie agierte auch völlig anders. Sie flirtete nicht, schmachtete nicht, suchte nicht seine Nähe, um einen Blick auf ihn zu erhaschen, spielte sich nicht in den Vordergrund ... dies alles kannte er.
Doch ihr Verhalten war so völlig anders und machte es ihm schwer, auf sie zu reagieren. Konnte es sein, dass ihre Gefühle tatsächlich eine ganz andere Tiefe und Intensität besaßen, dass sie sich so anders verhielt?
Oder lag es vielleicht an ihm?
Nach den Momenten, die sie am Einzugstag in seinem Haus erlebt hatten, hatte er ganz bewusst in den nächsten Tagen vermieden, in Blickkontakt mit ihr zu treten oder sie mehr als nötig außerhalb des Unterrichts zu sehen ... bis zum heutigen Nachmittag.
Hatte er das getan, um sie zu schützen, oder um sich zu schützen?
Verdammt!
Um ein Haar hätte er die Ausfahrt zum Flughafen verpasst.
Steve verließ den Highway und musste sich nun mehr auf den Verkehr konzentrieren. Ein guter Grund, um alle weiteren Gedanken, die nun zwangsläufig folgen mussten, wenn er ehrlich zu sich sein wollte, erst einmal beiseite zu schieben.
Was aber nichts daran ändern konnte, dass leise ein lange entbehrtes Gefühl in ihm zu erwachen begann und er ein bestimmtes Bild zwar zurück drängen, aber nicht mehr aus den Kopf bekommen konnte.
Kaum stand der Wagen, öffnete sie energisch die Tür und stieg mit einem eleganten Schwung aus. Steve stieg ebenfalls aus und öffnete die Heckklappe.
Mit einem Satz sprang Jack heraus - und lief schwanzwedelnd und schnurstracks in den Garten der Familie Smith.
Es war ein sehr milder Abend und der Duft von Barbecue lag in der Luft. Kopfschüttelnd sah Ashley Jack hinterher.
„Ruf mal deinen Hund zurück, Steve“, sagte sie mit leicht vorwurfsvoller Stimme. Steve stieß einen durchdringenden Pfiff aus.
„Seit wann ist es nur mein Hund?“, fragte er sie etwas befremdet, aber Ashley war schon zur Haustür voraus gegangen und wartete darauf, dass Steve aufschloss.
Der pfiff noch einmal, und kurz darauf kam Jack mit großen Sprüngen aus dem Nachbargarten heran. Steve schloss die Tür auf und ließ Ashley eintreten. Dann ging er zurück zum Wagen, öffnete die hintere Seitentür und holte Ashleys Koffer heraus. Aus dem Nachbargarten hörte man Stimmen und Lachen.
Steve blickte einen Augenblick lang hinüber und stellte sich vor, wie angenehm es jetzt wäre, mit Bill ein kühles Bier zu trinken und ein bisschen zu plaudern. Dann hob er die Koffer auf und trug sie ins Haus.
Ashley hatte ihr Beauty Case auf dem Wohnzimmertisch abgestellt, stand mitten im Wohnzimmer und sah sich um. Sie war eine gut aussehende, elegante Frau Anfang vierzig. Sie trug ein Designer Kostüm, einen großen Ring und passende Ohrringe. Ihre brünetten Haare waren perfekt gestylt, genauso ihr Make-up.
Sie sah gut aus und sie wusste es. Selbstbewusstsein war in ihrer Branche enorm wichtig und mit den Jahren hatte sich Ashley dies erarbeitet. Der Erfolg, den sie hatte, unterstützte diesen Prozess und gab ihr Recht. Jedoch war auch ihre Natürlichkeit immer mehr geschwunden.
Vielleicht war dies einer der Gründe, warum ihre Beziehung zu ihrem Mann auch schon lange nicht mehr so harmonisch war wie in den ersten Ehejahren. Jedoch fühlte sich Ashley so befriedigt und ausgefüllt von ihrer Arbeit, dass sie diesen Umstand kaum zur Kenntnis nahm - oder einfach hinten anstellte.
Steve folgte ihren Blicken. Natürlich war noch nicht alles fertig und er hatte ganz bewusst damit gewartet, Ashleys Bilder und Leinwände anzubringen.
„So...“, sagte sie. „Na, sieht doch schon alles ganz nett aus. Wer, sagtest du, hat dir jetzt noch mal beim Einzug geholfen? Entschuldige bitte, aber ich war etwas im Stress ...“
„Unsere Nachbarn hier drüben. Unheimlich sympathische Leute. Genauer gesagt allerdings ihre beiden Kinder, beide auf meiner Schule. Dazu dann noch 5 oder 6 Schüler, teilweise aus meinem Englischkurs...“
Ashley lachte amüsiert auf.
„Ach tatsächlich? Wie niedlich. Schneewittchen und die 7 Zwerge haben also unser Haus eingerichtet.“
Wieder lachte sie etwas albern.
Steves Blick wurde hart. Er erinnerte sich, wie jeder der jungen Leute über Stunden hinweg geschleppt und getragen hatte, rein und raus, treppauf und treppab, wie Jacky sich schmerzhaft die Finger geklemmt hatte und Faith sich abends immer wieder verstohlen den Rücken gerieben hatte. Wie er, Evan und Cole mit größter Mühe die schweren Schlafzimmerschränke über die Treppe nach oben geschleppt hatten...
Und hier stand Ashley in ihrem Designer Kostüm, mit lackierten Fingernägeln und amüsierte sich darüber. Er wollte etwas sagen, ließ es dann aber. Prüfend sah Ashley ihn an.
„He, kannst Du keinen Spaß mehr verstehen? Komm, schmoll nicht ...“
Sie ging zu ihm hinüber und legte ihm die Arme um den Hals. „Ich finde es natürlich großartig. Und weißt du was? Ich hab’ eine Idee ...“ Steve sah sie fragend an.
„Wir werden eine Einweihungsparty geben. Wenn der Rest hier fertig ist. Für alle deine jungen Helfer, deine nettesten Kollegen an der Schule, unsere Nachbarn und so ... was hältst du davon?“
Steve lächelte und die Gefühle für seine Frau erwärmten sich wieder etwas. „Klingt nicht schlecht. Ein bisschen wie in alten Zeiten ...“
Ashley ließ ihn los und begann hin und her zu gehen.
„Ich werde direkt in den nächsten Tagen darüber nachdenken. Ein Catering - Service, einen DJ ...“
Steve hob erschrocken beide Hände. „Oh, Ashley, bitte übertreib nicht! Das soll keine deiner üblichen Partys oder Empfänge werden, die du gewohnt bist ...“
„Was soll das denn heißen?“
„Gar nichts, versteh mich nicht falsch. Ich meine nur, hier ist nicht Rom oder Paris und...“
„Dann eben nicht!“
„Ashley, bitte ... ich möchte nur, dass wir da noch einmal gemeinsam drüber sprechen und den Rahmen abstecken. OK?“
Seine Stimme klang fest. Der Lehrer in ihm kam zum Vorschein und tatsächlich stimmte Ashley zu. Dann sah sie sich weiter um. Ihr Blick fiel auf die E- Gitarre und den Verstärker, die in einer Ecke des Wohnzimmers standen.
„Ach herrje, den Kram hast du auch mitgeschleppt ... na ja. Es gibt hier ja sicherlich einen Dachboden, oder? Wenn du die Sachen gut verpackst...“
Steves Blick wurde wieder ein paar Grad kälter.
„Gibt es. Aber da kommt die Gitarre nicht hin.“ Ashley hob die Augenbrauen und lachte wieder auf. „Was willst du damit sagen?“
„Dass ich morgen probeweise in der Schulband mitspielen werde ... und wahrscheinlich auch dabei bleibe, wenn alles soweit klappt.“ Ashley verschränkte die Arme. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“
„Wieso nicht?“
Wieder lachte Ashley auf. Steve spürte, wie langsam Ärger in ihm aufstieg. Der kurze Moment der Wärme und Zuneigung war endgültig verflogen.
„Hast du vielleicht so etwas wie eine Midlife Crisis?“, fragte sie spöttisch.
Steve sah sie an und versuchte sich zu erklären, was los war. Hatte er sich so verändert? Sie? Sie beide? Er fand einfach keinen Zugang mehr zu ihr.
Sie standen sich gegenüber und starrten sich an. Doch bevor noch einer von ihnen das Gespräch wieder aufnehmen konnte, hörten sie Geräusche an der Tür und kurz darauf eine Stimme.
Jack, der unter dem Wohnzimmertisch gelegen und von einem zum anderen geblickt hatte, sprang auf und rannte schwanzwedelnd zur Tür.
Faith kam zögernd herein. „Entschuldigen Sie, Mr. Collins, Ihre Tür war offen ... guten Abend, Mrs. Collins. Meine Eltern lassen fragen, ob Sie beide nicht vielleicht Lust hätten, noch ein bisschen rüber zu kommen ... Wir machen ein BBQ und haben noch jede Menge zu Essen...“ Sie schenkte ihnen ihr zauberhaftes Lächeln. „Und meine Eltern würden sehr gerne Ihre Frau kennen lernen“, ergänzte sie und lächelte Ashley zu.
Steve und Ashley hatten sich gut genug in der Gewalt, um sich nichts von ihrem kleinen Disput anmerken zu lassen.
„Hast du Lust?“, wandte Steve sich mit einem Lächeln an seine Frau. „Oh ja gerne“, sagte sie, „ich ziehe mir nur schnell etwas anderes an.“
Faith strahlte. „Das ist toll. Meine Eltern werden sich freuen“, sagte sie und ging wieder hinaus.
Ashley sah ihr neugierig hinterher. „Und wer war das jetzt?“, fragte sie.
Steve blickte Faith ebenfalls hinterher und hob mit ironischem Blick die Augenbrauen.
„Schneewittchen!“