Ungewollt Verloren
„Alexander, ich bitte dich. Rede doch mit uns“, fleht Lee mich an, doch ich blocke wieder einmal ab. Ich möchte mit niemanden reden, besonders nicht, wenn die Leute mich zum Sprechen zwingen wollen. Die kapieren einfach nicht, das es meine Sache ist, was ich mache. Und es geht niemandem etwas an, wie ich mich fühle.
Während ich die Richtung zu meinen geheimem Zufluchtsort, nämlich das Schuldach gehe, folgen mir meine zwei besten Freunde. Ben Buchmann und Kevin Klein.
„Was ist nur mit dir passiert?“, fragt Kevin besorgt und wieder gebe ich ihm keine Antwort.
„Früher warst du viel fröhlicher und man konnte dich vom Reden kaum unterbrechen. Aber jetzt bist du nur noch still und verschlossen“, meint Ben.
Ja, früher war ich so, denn das war mein altes Ich. Aber das ist gestorben. Dieses Ich haben meine Eltern mit in ihr Grab genommen.
Alles ist genau vor einem Jahr geschehen. Vor einem Jahr habe ich sie verloren. Und das nur, weil ich unbedingt wollte, dass sie auf das Schulfest kommen. Aber wären sie zu Hause geblieben, würden sie heute noch leben. Es ist meine Schuld, das sie Tod sind.
„Es ist nicht deine Schuld, Alexander. Keiner konnte ahnen, das deine Eltern in einen Verkehrsunfall verwickelt wurden“, versucht Kevin mich aufzuheitern. Komischerweise errät er immer, wann ich an meine Eltern denke. Jeden Tag wünsche ich mir, dass sie mich mitgenommen hätten. Dann wäre ich jetzt nicht so alleine. Alleine in dieser einsamen Welt.
Nach einigen Minuten klingelt es und meine beiden Freunde gehen in den nächsten Unterricht, während ich eine Freistunde habe. Eigentlich müsste ich auch zum Unterricht, doch die Direktorin dieser Schule, nämlich meine Tante Marie Geißler, hat mich von diesem Fach freigestellt. Auch hat sie seit fast einem Jahr die Vormundschaft für mich.
Als ich am Dach ankomme, setze ich mich an meinen Lieblingsplatz hin. Die Aussicht von hieraus liebe ich, denn von diesem Platz aus kann ich die ganze Stadt betrachten.
„Alexander“, höre ich die Stimme meiner Tante und sehe zur Tür, wo sie steht. Sie kommt auf mich zu und setzt sich neben mir hin, während ich mich wieder der Stadt widme.
Minutenlang schweigt sie, bis sie die Stille unterbricht.
„Alexander, ich will dich nicht zwingen, dass du mit mir redest. Ich kann dich verstehen, wieso du nicht sprichst“, beginnt sie und ich schaue sie überrascht an.
„Ich habe beschlossen, dass du eine Therapie machst. Der Psychologe kann dir mit Sicherheit helfen“, sagt sie. Fragend sehe ich sie an. Damit hätte ich nicht gerechnet. Aber vielleicht hat sie recht und der Psychologe kann mir helfen, mit meiner Trauer fertig zu werden.
„Du weißt ja, dass du mir sehr wichtig bist. Du bist mein Neffe, obwohl wir nicht blutsverwandt sind. Und mein innigster Wunsch ist es, das du wieder lachst. Ich möchte dich wieder lachen sehen, dass du fröhlich bist und dein Leben genießt. Denn in dir kann ich deine Eltern und meinen Mann wiedererkennen.“
Einige Minuten sagt sie nichts, bis ich ihr mit einem Nicken verständlich mache, das ich mit zu diesem Psychologen gehen werde. Meine Tante seufzt erleichtert auf.
„Ich wusste, dass du zustimmst. Denn ich habe dir schon für heute einen Termin gemacht. Und das nur beim Besten. Ich denke, du hast schon von ihm gehört. Seron Schattan“, plappert sie munter drauf los, während sie mich an der Hand durch das Schulhaus zieht.
„Und wegen der Bezahlung mach dir keine Sorgen, die Kosten übernehme ich“, meint sie und bleibt auf einmal stehen. Zwei Sekunden später klingelt es und die Schüler strömen auf den Gang. Einige Grüßen die Direktorin, während andere Schüler sie ignorieren.
„Alexander“, höre ich die Stimme von Ben und schon stehen er und Kevin vor uns.
„Euer Freund ist für den Rest des Tages freigestellt. Herr Fischer weiß Bescheid“, sagt sie den beiden und die Jungs nicken. Dann geht es weiter in Richtung Lehrer Parkplatz. Die meisten Schüler in dieser Schule mögen mich nicht. Sie meinen, ich hätte bei der Direktorin eine Sonderstellung. Aufgrund, das ich noch nie bestraft wurde und somit kein einziges Mal Nachsitzen hatte. Natürlich musste ich noch nie zum Nachsitzen, was hätten die Lehrer mir auch anhängen können. Ich schreibe gute Noten, mache meine Hausaufgaben und falle mit meinem Verhalten nicht im Unterricht auf. Aber besonders schlimm sind meine Klassenkameraden. Denn ich bin das Nesthäkchen, oder wie andere Leute sagen würden, Nestküken. Während ich mit meinen achtzehn Jahren der Jüngste in der Klasse bin, sind alle anderen ein bis zwei Jahre älter.
Seit etwa elf Monaten lebe ich bei meiner Tante Marie. Nach dem Tod meiner Eltern die Leute vom Jugendamt mich in ein Heim schicken. Angeblich wegen meiner Größe und das ich, wie sechzehn aussehe, obwohl ich schon volljährig bin. Damals war ich am Verzweifeln. Ich hatte Angst, wirklich ins Heim zu müssen. Doch meine Tante setzte sich für mich ein. Einen Monat lang hat sie gekämpft, das ich zu ihr ziehen kann und der Kampf hat sich gelohnt. Und der Grund, weshalb ich große Angst hatte, ins Heim zu müssen, ist einfach.
Als ich etwa sieben Jahre alt war, setzte jemand in unserer damaligen Nachbarschaft das Gerücht in die Welt, dass ich von meinen Eltern vernachlässigt werden würde. Als das Jugendamt damals davon erfahren hat, haben zwei Mitarbeiter des Amtes mich von meinen Eltern abgeholt und in ein Kinderheim gesteckt. Und diese Zeit war die schlimmste in meinem bisherigen Leben. Das Heim konnte man mit einer Müllheide vergleichen, denn so ähnlich sah es dort aus. Im ganzen Gebäude waren Berge von Müll. Wir Kinder lebten in größeren Gruppen in kleinen Zimmer und zu essen haben wir nur bekommen, wenn wir unsere Arbeit ordnungsgemäß verrichtet haben. Das Jugendamt hat damals nichts von den Zuständen des Heimes gewusst. Denn die zuständigen Mitarbeiter haben sich nur den ´Vorzeigeraum´, wie wir diesen Raum immer nannten, angesehen. Und dieses Zimmer durften wir nur betreten, wenn einer der Mitarbeiter des Jugendamtes oder jemand, der eines der Kinder adoptierten wollten, betreten. Sonst war der Raum für uns tabu.
Meine Eltern haben Klage gegen das Jugendamt gestellt und das Gericht entschied nach etwa einem halben Jahr, das meine Eltern wieder die Vormundschaft bekommen sollten. Und so ging ein halbes Jahr Hölle auf Erden für mich zu Ende.
Ich weiß noch, wie entsetzt sie waren, als sie mich damals wieder sahen. Ich war abgemagert und dreckig. Und doch haben sie mich in den Arm genommen. Sie waren glücklich, mich wieder bei sich zu wissen. In Sicherheit.
Nach den Geschehnissen sind wir umgezogen. Denn mittlerweile haben wir auch erfahren, wer meine Eltern beim Jugendamt angeschwärzt hatte. Nämlich eine Nachbarin von uns, die unsterblich in meinen Vater verliebt war.
Sie hat jede Möglichkeit versucht, meine Eltern auseinander zu bringen. Doch hat das nichts gebracht. Und als sie dann bemerkt hat, dass mein Vater kein Interesse an ihr hat, hat sie den allerletzten Schritt getan. Nämlich dass das Jugendamt mich mitnimmt. Denn ich war ihre Konstanze in ihrem Leben. Ihr Ein und Alles.
„Wir sind da, Alexander“, reißt mich Tante Marie aus meinen Gedanken. Aus dem Fenster kann ich nur die pure Natur sehen.
„Herr Schattan lebt in einem Landhaus hier. Auch seine Praxis befindet sich hier“, erklärt sie mir.
Sie parkt den Wagen an einen kleinen Parkplatz, und nachdem wir ausgestiegen sind, folgen wir einem mit Kies bedeckten Weg. Nach ein paar Metern kann ich ein kleines Anwesen erkennen.
Die Fassade ist weiß und an den Fensterbrettern stehen in großen Blumenkästen blühende Blumen. Im ganzen Garten kann ich die verschiedensten Blumenarten entdecken. Darunter sind verschiedene Arten von Stauden. Mit dabei Stauden mit Blattschmuck. Stauden, die völlig im Schatten wachsen. Posterstauden. Bodendecker. Auch Heil- und Küchenkräuter kann ich entdecken. Dann sind da noch Rosen und an der Hausfront wachsen Kletterrosen. Durch den Garten fließt ein kleiner Bach und der Verlauf des Baches geht unter einer kleinen Brücke hindurch.
Der ganze Garten wirkt sehr beruhigend und ich fühle mich hier wohl. Und das ist erschreckend. Seit dem Tod meiner Eltern habe ich mich an keinen einzigen Ort so wohl gefühlt.
„Alexander“, spricht mich meine Tante an und reißt mich aus den Gedanken.
„Wir stehen schon länger an der Haustür und du bist schon seit Minuten in Gedanken versunken“, lächelt sie mich an und klingelt anschließen. Nicht einmal eine halbe Minute vergeht und schon öffnet sich die Tür.
„Sie wünschen?“, fragt eine junge Frau. Sie hat lange, blonde Haare und blaue Augen.
„Wir möchten zu Herrn Schattan“, sagt meine Tante freundlich.
„Folgen Sie mir bitte“, wispert die junge Frau. Sie führt uns durch eine kleine Eingangshalle und durch eine schwarze Tür. In diesem Raum steht ein Schreibtisch mit Computer, Telefon und Drucker. Am anderen Ende steht ein gemütliches, schwarzes Sofa und daneben ein kleines Tischchen mit Zeitschriften. Die junge Frau klopft an einer weiteren Tür, die ich erst jetzt bemerke.
„Herr Schattan, ihr Besuch ist da“, sagt sie und führt uns anschließend in den Raum. Hinter einem großen, dunklen Schreibtisch sitzt er. Seron Schattan. Vor dem Schreibtisch stehen zwei bequem aussehende schwarze Stühle, von mir aus an der linken Wand ein schwarzes Sofa mit einer hellen Decke überzogen und an der anderen Wand eine beige Liege.
„Danke Sakura“, bedankt er sich. Seine Stimme klingt warm.
„Guten Tag. Sie müssen Frau Geißler sein und der junge Mann an Ihrer Seite ist dann sicherlich Alexander“, begrüßt er uns.
„Ja“, antwortet meine Tante knapp.
„Frau Geißler, ich möchte Sie bitten, im Nebenraum zu warten. Ich möchte mit Alexander alleine reden“, bittet er meine Tante.
„Sicherlich“, meint sie nur. Komisch. Erst hat sie ihn angepriesen und jetzt scheint sie ihn zu misstrauen.
„Hallo Alexander, ich bin Seron Schattan, aber du kannst mich Seron nennen“, begrüßt er mich, als wir alleine sind. Ich setze mich in einen der beiden Stühle und sehe ihn an. Er kommt mir ziemlich jung vor.
„Ich kann deine erste Fragen schon in deinem Gesicht sehen und ja, ich sehe nicht nur sehr jung aus, bin es auch. Erst 25, wenn man so genau nimmt“, erklärt er mir lächelnd und dieses Lächeln gefällt mir.
„So beginnen wir mal. Doch vorerst will ich dir sagen, dass ich dich zu nichts zwingen möchte. Wenn du nicht reden willst, musst du es auch nicht“, sagt er.
„Mit vollem Namen heißt du Alexander Athill und bist achtzehn Jahre alt...“, als er alle Angaben gesagt hat, nicke ich bestätigend.
Ein halbes Jahr ist mittlerweile vergangen und seit genau sechs Monaten bin ich bei Seron Schattan in der Therapie. Obwohl ich auch in diesem Zeitraum kein einziges Wort gesprochen habe, hat Seron viel von mir erfahren. Und ja, ich darf ihn immer noch beim Vornamen nennen.
Schon ganz am Anfang habe ich mich bei Seron wohlgefühlt. Aber jetzt ist es so, als würde ich hier wohnen.
„Ihnen macht es wirklich nichts aus, wenn Alexander einige Wochen bei Ihnen lebt?“, fragt meine Tante Herrn Schattan.
„Überhaupt nicht. Ich möchte, dass Ihr Neffe mir gänzlich vertraut und am besten geht das, wenn er für einige Wochen hier wohnt“, antwortet Seron ihr.
„Zudem sind ja sowieso momentan Ferien, und wenn die Schule wieder beginnt, fahre ich ihn in die Schule“, meint Seron.
Mittlerweile wohne schon etwas länger als eine Woche bei ihm und möchte nicht mehr woanders leben.
Mit Seron verbringe ich so viel Zeit wie möglich. Als ob wir ein Paar wären, was wir aber leider nicht sind. Es stimmt, ich liebe ihn. Aber er wird niemals meine Gefühle erwidern. Also genieße ich die Zeit, die ich bei ihm verbringen kann.
„Alexander“, ich sehe auf und kann sehen, das Seron auf mich zu kommt. Als er bei mir ist, stehe ich auf und wieder einmal bemerke ich, dass er etwas mehr als einen Kopf größer ist.
„Hast du mir zugehört?“, fragt er mich, während wir einen Weg mit Kies bedeckt zum See entlang gehen. Ich schüttle den Kopf und sehe ihn entschuldigend an.
„Macht nichts“, sagt er und zeiht mich an seinen warmen Körper. Irritiert blicke ich zu Seron.
„Du bist süß“, er knuddelt mich durch und hält mich weiterhin fest. Ich wehre mich nicht und stattdessen genieße ich die Umarmung. Am Ufer angekommen, setzt er sich hin und zieht mich auf seinen Schoß.
„Weißt du Alexander“, beginnt Seron, „schon als du zum ersten Mal mein Arbeitszimmer betreten hast, hast du mich interessiert. Ich wollte dich näher kennenlernen und irgendwann haben die Termine nicht mehr ausgereicht. Also habe ich deiner Tante vorgeschlagen, dass du hier für eine Weile wohnst. Normalerweise ist das nicht meine übliche Vorgehensweise, aber es musste einfach sein. Ich will dir helfen und für dich da sein.“
Seron macht eine Verschnaufpause und ich habe das Gefühl, das er für seine nächsten Worte Mut sammelt.
„Alexander, schon an diesem ersten Tag, als wir uns kennengelernt haben, habe ich mich in dich verliebt“, lässt er die Bombe platzen. Was? Er liebt mich? Ausgerechnet mich? Dieses Geständnis macht mich Glücklich. Sehr Glücklich. Er schaut mir in die Augen und im nächsten Augenblick küsst er mich. Ich reiße meine Augen auf, doch schon in der nächsten Sekunde schließe ich sie und erwidere den Kuss.
„Seron“, spreche ich leise seinen Namen aus. Ich bemerke, dass ich schon seit über einem Jahr nicht mehr gesprochen habe.
„Du sprichst“, sagt er erstaunt.
„Ja, aber nur für dich“, erwidere ich.
„Denn ich liebe dich auch.“
„Seron?“
„Ja?“
„Hast du eine Familie?“
„Ja.“
„Lebst du hier alleine?“
„Ja.“
„Bist du glücklich?“
„Ja.“
„Auch mit mir?“
„Ja.“