Auch dies ist eine Kurzgeschichte aus dem Universum Anthar meiner ersten Fantasy-Trilogie, spielend nach dem zweiten Band, bei dem Joshua eine der Protagonisten war.
Zum Verständnis: Tabita, auch Erendi, ist Joshuas Schwester und kurz zuvor von Doeron Tiarev, einem Freund ihrer Eltern, ermordet worden.
Zuerst war nur ein ferner Schimmer zu sehen. Es war die winzige Ahnung des hereinbrechenden Tages. Dann zogen sich helle Streifen über den Himmel und die Dunkelheit entschwand allmählich. Blau, rot, orange, die Farben mischten sich zu einem leuchtenden Spektakel, als sich die Sonne auf den Weg machte, ihren Tag zu beginnen. Eine Flut von Gold und Rot ergoss sich über den Horizont und spiegelte sich in der glänzenden Wasserfläche.
Leise rauschten die Wellen, regelmäßig in der Kulisse des neuen Morgen. Weiße Schaumkronen tanzten vor den Füßen der einsamen Gestalt und eine Welle erreichte seine Stiefel, doch wich Joshua nicht zurück. Die Kälte drang durch das Futter, nur war die Kälte seines Herzens stärker, als dass er seine nassen Füße auch nur bemerken würde.
Es war ein schöner Tag und eigentlich sollte es für ganz Anthar ein Tag der Freude sein. Allein Joshua vermochte es nicht, solche Gefühle wie Glück oder Freude in sein Herz zu lassen. Erfroren war sein Herz in der Trauer über den kürzlich erlittenen Verlust.
„Tabita.“, flüsterte er leise. Immer hatte er seine Schwester Tabita genannt, seitdem sie Kinder gewesen hatten und in den Wäldern des Ryt Lytrèm Verstecken und Haschen gespielt hatten. Nie war sie für ihn Erendi gewesen, immer Tabita.
„Tabita.“. Seine Stimme hallte laut über das Wasser, doch kam keine Antwort, die ihn hätte trösten können. Es blieb alleine das Rauschen der Wellen, die Joshua schier zu verhöhnen schienen.
„Tabita.“. Er schrie, bis seine Stimme versagte. Er tobte, schlug auf den Sand und das Wasser ein, ignorierte den Schmerz und das Blut, das ihm von den Fingerkuppen rann, wenn er auf Steine traf.
Dann rannten heiße Tränen über sein Gesicht, zu tief war die Trauer, als dass er noch die Kraft gehabt hätte, sich ihrer zu schämen.
Auch um Hjorgcai, seine verlorene Liebe, hatte er getrauert, doch blieb bei ihr die Hoffnung auf ein Wiedersehen, während Tabita unwiderruflich für ihn verloren war. Auch hatte er damals, als er Hjorgcai verloren hatte einen Antrieb gehabt, etwas, für dass es sich zu kämpfen lohnte. Doch was blieb ihm nun? Der Krieg war vorbei, der Frieden unterzeichnet und die Sebetjh waren vor wenigen Tagen in ihre Heimat zurückgesegelt. Jetzt blieb nur die Trauer und es gab niemanden, der sie mit ihm teilen konnte.
Acheving hätte es vermocht, doch war sein, mit ihm durch viele Gefahren und Kämpfe verbundener, Freund mit seinem Volk gesegelt und hatte ein Reich wiederherzustellen. Hjorgcai hätte ihn mit ihrer Lebensfreude, ihrer Unbändigkeit und ihrem Selbstbewusstsein abgelenkt und vielleicht hätte die Liebe, die immer noch in ihm brannte, die Trauer besiegen können. Nur hatte er seine Liebe verloren – an ein Volk und ein Kind, das sie zu ihrem Mann machen würde.
Seine Eltern und sein Bruder dagegen hatten ein Volk zu regieren und überdeckten ihre Trauer mit Arbeit und Verantwortung.
Doch Joshua konnte nicht vergessen. Er sah ihr Lachen, hörte ihre Stimme, sah ihr schwarzes Haar, das der Wind ihr ins Gesicht blies. Und er sah auch den Dolch, der ihre Seite durchbohrt hatte und ihr bleiches, vom Schnee bedecktes Gesicht. Nur gab es niemanden gegen den er seine Wut und seinen Zorn richten konnte. Doeron Tiarav mochte Tabita getötet haben, doch war auch er tot und somit für Joshua unerreichbar. Selbst die Kaiserin Nian, deren Volk diesen Krieg heraufbeschworen hatte, war gefallen, getötet durch denselben Mann, der auch seine Schwester auf dem Gewissen hatte.
Ja, Doeron Tiarev hasste er. Er hasste den Gedanken, dass dieser Mann, der einer seiner ersten Lehrer im Schwertkampf gewesen war und an der Tafel seiner Eltern gespeist hatte, sie verraten hatte, um einer toten Liebe und seiner Rache willen. Der Hass loderte ebenso stark in ihm wie die Trauer und es gab für ihn keine Möglichkeit, diesem zu entrinnen.
Doch dann kam der Moment, in dem er merkte, dass er nicht länger alleine war. Sein Toben versiegte urplötzlich wie ein Wirbelsturm. Mit einer Spur vom Trotz im Gesicht wandte er sich um und erblickte seine Nichte Ketylèn, ihre Gestalt schimmerte im Sonnenlicht. Sie stand dar, starr wie eine Statue, stützte sich auf ein Holzbrett – und sah aus wie seine Schwester in jungen Jahren.
Ihr Vater, Joshuas Bruder Marvon, und Tabita hatten sich sehr ähnlich gesehen und so verinnerlichte Ketylèn etwas von Tabitas Eleganz, ihrer Schönheit und ihrer Neugier.
Erneut schossen ihm Tränen in die Augen, denn war seine Schwester ihm entrissen worden.
Ihre nackten Füße sanken beim Gehen im feuchten Sand ein und dann stand sie hinter ihm. Kein Wort sagte sie, sondern reichte ihm nur das Holzbrett. Es schien von einem der Schiffe zu stammen, die in der Seeschlacht gesunken waren. Immer wieder wurden in letzter Zeit Holz, Fässer und auch aufgeschwemmte Leichen an die Küste Madruks angeschwemmt.
Vorsichtig drehte Ketylèn die Planke in seiner Hand um und dort auf dem Holz leuchteten die Messingbuchstaben, die einst den Namen eines stolzen Schiffes mit weißen Segeln angezeigt hatten. Salzwasser hatte das Holz zernagt und ein Buchstabe war fortgerissen worden, doch war immer noch „Ni mey“ zu lesen.
Erneute Erinnerungen, grausam und kalt. Seine Schwester und er kämpfend auf dem Dach der Niamey, über ihnen das Kreischen der Möwen und die salzige Gischt.
„Sie hätte nicht gewollt, dass du allein in der Vergangenheit lebst.“, sprach das Mädchen elbischen Blutes leise. „Sie hat ihr Leben dafür gegeben, dass wir die Möglichkeit haben, dieses Leben zu genießen.“.
Am liebsten hätte Joshua das Mädchen angeschrieen, doch fehlte ihm die Kraft dafür und er spürte zugleich tief in seinem Inneren, dass sie Recht hatte.
Und so schwiegen sie eine ganze Weile, während der Tag mit aller Macht heranwuchs und um sie herum das Leben begann.
„Ich kann nicht zurück“, erklärte er leise und lies Sand durch seine Hand rieseln, „Diese Reise und Tabitas Tod haben mich verändert und Tyral Rorym war mir nie die Heimat, wie sie für meine Eltern und Geschwister war.“
„Ich weiß", antwortete sie ruhig. „Du hast das Abenteuer gesucht.“
Es stimmte. Er war ständig auf Reisen gewesen, war von Varyny bis in die Tiefen Nors gewandert und war einer der wenigen Menschen, der im Rudel der Sphinxe akzeptiert worden war. Doch hatte diese letzte Reise ihn unsicher und zerbrochen zurückgelassen. Es war, als ob er nicht mehr wüsste, wo Norden war und er somit seinen Weg verloren hätte.
„Meine Schwester hat versucht die Wunder der Natur zu ergründen, mein Bruder wollte den Menschen und seine Entscheidungen verstehen. Ich dagegen wollte alles verstehen.“
Ketylèn legte ihre Hand auf seinen Arm und die Wärme ihres Körpers durchströmte ihn.
„Tabita hat nach einem Heilmittel für die Windseuche geforscht und sie hat es gefunden. Jetzt musst du deinen Weg finden, so wie jeder ihn finden muss.“
Joshua ballte die Hand zur Faust und er verstand, dass sie die Wahrheit sprach. Und nun kannte er auch den Weg und die Richtung, in die er sich wenden musste. Es war nicht der vollständige Weg, denn lag dieser ihm verborgen, doch erkannte er den nächsten Schritt, den er gehen musste.
Langsam stand er auf, in der Hand die Planke, auf der der Name des Schiffes geschrieben war, dass sein schönstes und schrecklichstes Abenteuer begleitet hatte. Mit unsicheren Schritten trat er zum Meer, das sich einer endlosen Fläche gleich, vor ihm ausbreitete. Die Wellen ergossen sich über seine Füße und einen Moment stand er an den Ufern des Meeres, wo sein Abenteuer begonnen hatte und hob die Hände gen Himmel. Die Planke traf mit einem lauten Platschen ins Wasser und wurde von den Wellen davon gerissen. Doch vergessen würde Joshua dieses Schiff nicht, denn es war ein Teil seiner Geschichte. Und jetzt schon wusste er, dass in einem Jahr, vielleicht auch in zweien, ein neues Schiff stechen würde, dass, wenn es auch nicht den Namen der Niamey trug, ihr doch ähnlich sein würde.
Ketylèn trat neben ihn.
„Neue Welten, neue Wege.“, flüsterte sie und er erkannte, dass sie seine Entscheidung von Anfang an gekannt hatte.
„Ja, fern über die Meere in unerforschte Länder.“ Er hob den Kopf und zum ersten Mal seit Langem konnte man den alten Stolz wieder erkennen und den zögernden Schatten eines Lächelns erblicken.
Es war ihm nicht möglich, seine Schwester zurückholen, doch konnte er ihren Namen in Ehren und die Erinnerung an sie lebendig halten und das Leben zu leben, das sie ihm geschenkt hatte, als sie unter dem Dolch des Doeron Tiarev gestorben war.
Das Meer rauschte, als ob die Naturgewalt seine Entscheidung anerkennen würde und ihm das Versprechen abnehmen würde, dass er in Zukunft wieder die Planken unter seinen Füßen spüren würde, den Wind in seinen Haaren und die salzige Gischt in seinem Gesicht.
Und Joshua lächelte.