Tabita wurde wieder einmal bewusst, wie sehr sich Saries eigentlich von Kindern ihres eigenen Volkes unterschied. Sie zählte sechsundzwanzig Winter, zwei in der Rechnung der Hersor und Tabita war erstaunt über ihre rasche Auffassungsgabe und ihr Verständnis für schwierige Sachverhalte. Die junge Hersora stand auf einer Kiste und sah über die Reling. Tabita trat zu ihr.
„Was beobachtest du dort?“, fragte sie leise.
„Die Nixen.“.
Tabita sah in den Alaksee, doch sie konnte nichts entdecken, außer Fischen und Algen.
„Du siehst sie nicht.“, erklärte Saries leise, „Siehst du die leuchtenden Algen? Sie verblassen schon wieder.“.
Tabita beobachtete das Wasser und tatsächlich entdeckte sie Algen, die schwach leuchteten.
„Dort war vor wenigen Augenblicken noch eine Nixe. Irgendwas in den Schuppen der Nixe reagiert auf einen Bestandteil der Algen, so dass die Algen leuchten. Ich vermute zumindest, dass es an den Schuppen liegt. König Nichos weiß es bestimmt.“.
Tabita überraschte es immer wieder, wie unpersönlich Hersor über ihre Familie sprachen. Einem elbischen Kind würde es nie in den Sinn kommen ihre Eltern mit Namen oder gar dem Titel anzusprechen. Es galt sogar als Beleidigung, einen Freund mit seinem Titel anzusprechen. Doch das Wissen stand bei den Hersorn nun einmal über der Familie.
Sie seufzte. Obwohl Tabita Marsina mit ihren Bibliotheken schätzte, vermisste sie jedes Mal Tyral Rorym und ihre Familie.
Tyral Rorym…Sie sah über den See, doch der Hafen und die Stadtmauern waren noch nicht zu sehen.
Ein stetiger Wind trieb die Schiffe nach Südosten. Die Segel blähten sich und die Sonne erwärmte nach dem Winter das Land. Der Alaksee war nicht mehr gefroren, das neue Jahr hatte begonnen. Zwei Monate waren vergangen, seitdem Tabita den Brief von ihrem Bruder bekommen hatte. Zwei Monate, die ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen waren. All die Experimente, die Bücher, die sie früher so geliebt hatte, kamen ihr auf einmal unwichtig vor. So weit entfernt, denn die Wahrheit war nicht in Büchern enthalten. Bücher zeigten immer nur einen Abklatsch, eine verschwommene Wahrnehmung, dessen was wirklich war. Die Wahrheit war in der Welt. Die Wahrheit war in der Luft, in der Tiefe des Alaksees, die Wahrheit war hier. Und Bücher zeigten immer nur die Meinung eines anderen, die wahre Wahrheit musste man selbst entdecken.
Tabita sog die frische Luft ein und sah über das endlose Wasser des Alaksees. Sie lächelte, sie würde die Wahrheit herausfinden. Die Wahrheit über das, was damals geschehen war. Damals, vor vierzigtausend Jahren. Sie wusste es nicht, obwohl sie die Bibliothek Marsinas auseinander genommen hatte, wusste sie es nicht. Alles was sie herausgefunden hatte, waren Vermutungen, doch keine Gewissheit. Selbst Nichos, der soviel mehr wusste als Tabita es jemals tun würde, hatte keine Fakten, nur Vermutungen waren es. Doch Tabita wollte die Wahrheit wissen. Ein Feuer hatte sie gepackt, ein wildes, unberechenbares Feuer, von dem sie nicht wusste, wohin es sie tragen würde. Sie würde der Sache auf den Grund gehen, sie würde zum Ursprung reisen. Wenn sie tatsächlich die Wahrheit wissen wollte, musste sie nach Sahres. Sahres. Die Elben sprachen nicht gerne über dieses Land, es erinnerte sie jedes Mal an ihre Flucht. Sie vergaßen ihre Niederlagen gerne, auch wenn sie die die tapferen Krieger ehrten. Doch die wahren Begebenheiten der Niederlagen wurden gerne verschönert und heruntergespielt. Die Wahrheit wurde so leicht verraten, so leicht vergessen…
Tabita sah zu Saries herüber. Die junge Hersora beobachtete die Kapitänin der Halide. Die Halide war das Schiff der königlichen Familie, das nun Tyral Rorym ansteuerte, die Hauptstadt der Elben. Der Schrei eines Adlers glitt durch die Luft. Tabita blickte nach oben und sah das majestätische Tier davon schweben.
„Ein beeindruckender Anblick, nicht wahr?“. Königin Teres stand neben Tabita an der Reling. Tabita mochte die Königin. Man nannte sie das Herz Marsinas, das Herz des Königshofes. Sie war ruhiger als andere Hersora, doch wenn sie einmal von Leidenschaft gepackt war, dann war Teres nicht mehr zu halten. Teres war schwanger mit ihrem zweiten Kind.
„Ja.“, antwortete Tabita leise. Sie fragte sich immer wieder, wie die Königin einen Adler ansehen konnte, ohne Schmerzen zu fühlen. Denn Teres hatte ihren Adler vor langer Zeit verloren und die Verbindung zwischen einem Adler und einer Hersora war einmalig. Teres trauerte nicht, in ihren Augen waren nur Sanftmut und Glück zu lesen, keine Trauer, kein Schmerz. Die Hersora betrachtete ihre Tochter Saries.
„Sie ist groß geworden.“.
Tabita fand es seltsam von einem Kind zu sprechen, das kleiner war als sie selbst und trotzdem drei Jahre älter.
Teres lächelte, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.
„Ich freue mich darauf, deine Eltern wieder zusehen.“.
„Ich mich auch, ich mich auch.“, murmelte sie leise.
„Sieh.“. Teres deutete über das Wasser.
„Tyral Rorym.“, flüsterte Tabita.
Das Schiff hatte eine Bucht angesteuert und vor ihnen erhob sich die Königsstadt der Elben. In dieser Bucht begann das Land Ciyen, die Heimat der Elben. Drei gewaltige Statuen am Anfang der Bucht zeugten von der Pracht und Beständigkeit des Elbenreiches. Drei steinerne Elben, ein Elb stand links, einer rechts und einer in der Mitte.
„Andelòn. Die drei Gründerväter der Elben.“. König Nichos war neben sie getreten.
„Es ist jedes Mal wieder ein Anblick.“.
Tabita blickte zu dem linken Elben hoch. Es war das steinerne Abbild von Kéros. Das Schwert, das er hielt, war doppelt so groß wie sie selbst und ein Abbild seiner Macht. Auf seinem Schild war das Wappen des Elbenvolkes der Kéros. In der Mitte des Buchteingangs stand Livorlé. Er hielt die Hand zum Gruß erhoben und sah in die Ferne. Rechts befand sich Istrór. Sein Bogen war nach unten gerichtet, die rechte Hand streckte er dem Betrachter entgegen, als wollte er die Halide empor heben. Istrór, der Vater des Stammes, dem auch sie angehörte. Ihre Mutter Kayra gehörte dem Stamm Kéros an, ihr Vater Josia dem Stamm Istrór und sie hatte sich ebenfalls für ihre Zugehörigkeit zu dem Stamm Istrór entschieden. Es war die Wahl, die jedes elbisches Kind im Alter von fünfzehn Jahren traf, deren Eltern aus verschiedenen Stämmen kamen.
Die Kapitänin lenkte das Schiff sicher in den Hafen Tyral Roryms. Tabita sog die Luft ein. Es war der Duft Ciyens, der ihre Nasenflügel erbeben ließ. Sie war zurück. Denn auch wenn sie sich immer wieder erzählte, dass sie Marsina liebte, schlug ihr Herz für diese Stadt viel stärker. Tabita strich sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht und betrachtete den Hafen und die Stadt.
Das Schiff legte an und die hersorische Königsfamilie sowie die elbische Prinzessin gingen von Bord.
Die versammelten Elben umringten sie, begrüßten und umarmten sie. Dann sah Tabita durch die Menge ein Gesicht, das ihr bekannt vorkam. Über der Menge schwebte ein kleines Mädchen auf den Schultern eines Menschen. Ein Mädchen, das Tabita nur zu gut kannte.
„Ketylèn!“, rief sie. Das Mädchen sah auf, sie lachte. Sie sprang von den Schultern ihres Begleiters und rannte durch die Menge, die ihr respektvoll Platz machte, zu Tabita hin. Tabita wirbelte sie herum und schloss sie in die Arme.
„Tabita.“, Ketylèn lächelte glücklich und klammerte sich an ihr fest.
Tabita sah auf und betrachtete den Mann, der die Szene schmunzelt beobachtete.
„Marvon! Würdest du deiner Tochter bitte sagen, dass sie mich loslassen soll?“, fragte sie.
Doch ihr Bruder lachte nur: „Sie steht dir doch gut.“.
Tabita verdrehte die Augen.
„Sieh, Ketylèn. Mit den Hersorn ist auch eine junge Hersora angekommen. Sie heißt Saries.“.
Ketylèn ließ Tabita los und betrachtete Saries, die mit den anderen Hersorn, vor der Halide stand.
„Sie ist viel kleiner als ich.“, meinte sie abschätzend.
„Du wirst schon sehen, sie ist viel älter, als sie aussieht.“.
Ketylèn musterte Tabita skeptisch, ging dann aber doch zu den Hersorn hinüber.
„Taktik, Marvon. Taktik geht immer.“. Sie umarmte ihren Bruder freudig.
„Du hast dich überhaupt nicht verändert.“, erklärte er.
Sie betrachtete ihn. „Du auch nicht.“.
Sie sah Marvon ähnlich, mit dem dunklen Haar, der hellen Haut und den Gesichtszügen. Er war einen halben Kopf größer als sie, kräftiger und seine Augen waren grau anstatt blau. Dennoch war die Ähnlichkeit unübersehbar. Marvon ging zu den Hersorn herüber und begrüßte die Königsfamilie und ihre Begleiter. Gemeinsam gingen sie durch die Stadt Tyral Rorym. Es war Brauch geworden einen hersorischen Gast erst durch den Wohnort zu führen, bevor man sie nach Hause brachte. Wenn man dies nicht tat, galt es für einen Hersor als Beleidigung.
Tabita genoss es durch die Stadt zu wandern. Es tat gut, wieder elbische Bauwerke zu sehen, nachdem sie so lange in hersorischen gelebt hatte. Die weißen Marmorbauten mit den hellen Steinhäusern Tyral Roryms waren so anders als die dunklen Holzhäuser und die prächtigen, goldenen Kuppeldächer Marsinas. Die Elben in der Stadt grüßten das Königspaar der Hersor ehrfürchtig und umarmten Tabita freudig.
„Sind die Anderen schon da?“, fragte Teres Marvon.
„Ja.“, antwortete dieser, „Lû und Naro sind in Palast, Arzaya ebenfalls, und Ascarna campiert mit ihren Söhnen außerhalb der Stadt. Sie wird aber in die Stadt kommen, sobald die Beratung anfängt. Sie sagt, dass sie ihren Söhnen die schlechte Kultur nicht näher als möglich bringen will.“.
„Schlechte Kultur?“, empörte sich Tabita.
„Du weißt doch, wie Sphinxe sind. Und unsere Kulturen sich sehr unterschiedlich.“.
„Da hast du auch wieder Recht.“, seufzte sie.
Tabita sah zu Ketylèn und Saries, die sich lebhaft unterhielten.
Nichos blieb stehen und starrte eine Statue an. Sie zeigte eine Hersora, die ein Schwert in der Hand hielt, das sie nach unten richtete. Sie sah nach oben und schien etwas zu sagen. Die Hersora besaß eine Ausstrahlung, dass Tabita sich nicht wundern würde, wenn sie plötzlich anfangen würde zu reden. Kleine, steinerne Tränen rannen der Hersora über die Wangen und ihr Haar war mit solcher Feinheit gearbeitet, als ob es echt wäre.
„Wir nennen diesen Platz den Platz von Naì Tiral.“, erklärte Marvon leise, „Die Statuen sind noch neu. Da vorne stehen Keret und Ascarna.“. Sie deutete auf zwei Löwen, auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, die sich zum Sprung bereit machen schienen.
„Da stehen Kayra und Josia, meine Eltern.“. Eine junge Frau, das Schwert erhoben, den Mund zum Kampfschrei geöffnet und ein junger Mann, den Bogen gespannt.
„Da vorne sind Lû, König der Zwerge und Rov, der Anführer der Zwerge im Kampf um Naì Tiral.“. Zwei kleinere Statuen mit erhobenen Äxten.
„Das sind Alrion, der Anführer der Elben, seine Tochter Kri’yan und Arlèn, die das Heer der Elben in der Schlacht von Alonyi rettete.“. Ein Elb auf einem steigenden Pferd, ernst und unnahbar. Zwei junge Elbinnen, die Waffen erhoben.
Ketylèn deutete auf eine der Elben und meinte zu Saries: „Das ist meine Mama.“. Sie rümpfte die Nase, „In Echt sieht sie viel hübscher aus.“.
Marvon fuhr mit seiner Erklärung fort: „Da vorne ist Darl Schattenklinge, Anführer der Menschen im Kampf gegen Naì Tiral. Da neben Arzaya, die Königin der Jorohne.“. Ein Mann, lächelnd, hielt zwei Messer in den Händen, daneben ein junges Mädchen.
„Da vorne seid ihr beide, König und Königin der Hersor.“. Nichos lächelte als er seine Statue sah. „Und das hier vorne“, Marvon deutete auf die Statue der Hersora, „ist Halide, Erretterin aller Völker.“.
„Die meisten von ihnen sind heute bei dem Treffen dabei.“, erklärte Tabita leise.
„Aber nicht alle, Halide, meine Schwester, fiel in der Schlacht um Naì Tiral, ebenso Keret und Alrion starb in der Schlacht um Arym T’harill.“, meinte Nichos.
„Ja.“, erwiderte Tabita, „aber das Leben geht weiter, auch ohne sie.“.