Es waren Vertreter aller Völker, die sich in dem Saal versammelt hatten. Tabita ließ ihren Blick über die Gemeinschaft schweifen. So viele unterschiedliche Kulturen und Meinungen trafen hier aufeinander, Tabita würde sich nicht wundern, wenn früher oder später einer hochgehen würden. Sie verstand es nicht, wie die Völker es geschafft hatten, fünfunddreißig Jahre den Frieden zu wahren. Das, was sie trennte, waren Welten, aber das, was sie verband, war eine gemeinsame Geschichte. Tabita betrachtete ihre Eltern, Kayra und Josia. Josia sah ruhig und gelassen in die Runde, auch Kayra sah äußerlich ruhig aus, doch Tabita kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie innerlich vor Ungeduld erbebte. Dann waren da noch Kri’yan und Darl, zwei enge Vertraute ihrer Eltern. Kri’yan, die fast so etwas wie eine zweite Mutter für Tabita war, mal ruhig mal stürmisch und doch voller Traurigkeit. Darl, der wie stets lächelte und die anderen mit wachen Augen beobachtete. Marvon und ihr anderer Bruder Joshua waren ebenfalls da. Joshua trommelte ungeduldig auf seiner Stuhllehne herum. Er sah Tabita überhaupt nicht ähnlich, mit dem roten Haar und den Sommersprossen, den grauen Augen und dem kräftigen Körperbau. Neben Marvon saß Arlèn, Tabitas Schwägerin. Äußerlich ruhig und nachdenklich betrachtete sie die anderen, doch Tabita hatte sie kämpfen sehen. Natürlich waren Nichos und Teres da, König und Königin der Hersor. Lû und Naro, König und Königin der Zwerge. Lû mürrisch und Naro liebevoll und energisch. Tabitas Großtante Arzaya war mit zweien ihrer Ratgeber erschienen. Arzaya war kaum berechenbar, sie konnte sich energisch durchsetzen, aber auch schweigen, je nachdem wie es ihren Interessen diente. Und dann gab es noch die Sphinxe. Ascarna, ging ungeduldig auf und ab, aufbrausend und leidenschaftlich. Makalar ihr Generalstabschef, verteidigte Ascarna und stand vollkommen auf ihrer Seite. Ascarnas Bruder Sjavkonhkar, ähnelte Ascarna vom Charakter.
Josia stand auf.
„Ich freue mich, dass ihr alle kommen konntet. Wir sind an diesem Tag zusammen gekommen, um eine Angelegenheit zu besprechen, die – wie Nichos es berichtet hat – den Frieden zerstören kann, für den wir so mühsam gekämpft haben.“. Er sah in die Runde. In diesem Moment wurde Tabita auch bewusst, dass nicht alle von dem Bogen wussten. Josia, Marvon, sie, Rov und Nichos. Selbst Kayra wusste nicht, warum sie hier saßen. Tabitas Vater ging aus dem Raum, als er zurückkam, hielt er einen Gegenstand in den Händen. Er legte ihn auf einem Tisch ab und enthüllte ihn. Doch Tabita betrachtete nicht den Bogen, sie beobachtete die Reaktionen der anderen. Zuerst sah sie zu den Elben, Arlèn und Kri’yan. Und tatsächlich, sie sahen erschrocken aus und wechselten Blicke, dann wirkte alles wieder normal. Die Anderen sahen fragend, neugierig aus. Nur bei Darl meinte sie einen Ausdruck zu erkennen, dass sie nicht definieren konnte. War es Furcht? Doch es war so schnell wieder verschwunden, wie ein Blatt im treibenden Wind, so dass sie dachte, dass sie sich geirrt hatte.
Ascarna war die Erste, die die Stille brach.
„Das ist ein Bogen. Wieso sollte dieser Bogen einen Krieg auslösen?“, fragte sie.
„Dieser Krieg, Ascarna, existiert schon seit mehreren Jahrtausenden, nur nicht in Anthar, sondern in Sahres und Sehjoldon. Hier ist…“.
„Komm nicht mit deinen wissenschaftlichen Erklärungen, Nichos.“, knurrte die Sphinx.
„Diese wissenschaftlichen Erklärungen, Ascarna, sind notwendig, denn dieser Krieg ist die Vergangenheit der Elben und wenn wir nicht aufpassen, dann wird es auch zur Gegenwart.
Die Elben flüchteten damals aus Sahres, auf Grund des Krieges, den sie am Verlieren waren. Und hier in der Bucht kam…“.
Arlèn sprang auf: „Noar’let dorej te manyiè, Nisoros. – Du hast ein Versprechen gegeben, Nichos.“.
„Te nor lyonèst, tymelm orl lé serl, ker karell manyiè, yé linyeès? Rocite erelèm! Tí orl karîll cìorl? – Denkst du nicht, dass es Zeit ist, dieses Versprechen zu vergessen, für den Frieden? Erzähle die Wahrheit. Was ist damals geschehen?“.
„Nor noar’les rer ûris, karîll lé – Ich besitze nicht die Erlaubnis, es zu erzählen.“.
„Und wer besitzt sie dann, Arlèn? Wenn selbst eure Königin die Wahrheit nicht kennt?“.
„Den Gesetzen von Kéros nach, besitzen Halbelben kein Recht die Wahrheit über die Geschehnisse zu kennen. Diese Geschichte ist Wahrheit und sie hat mein Volk fast ausgerottet. Dieser Bogen ist das Vermächtnis meines Volkes, es hat einen unvorstellbaren Wert.“. Arlèn sah zu Kri’yan, diese nickte fast unmerklich.
„Dieser Krieg, Nichos, begann damit, dass Kyoros, König der Elben und Großvater von Kéros ermordet wurde, von den Sehjol. Die Elben rächten sich und stahlen diesen Bogen aus dem Palast der Sehjol. Dieser Bogen war für die Sehjol ein Symbol ihrer Macht. Der Sage nach, war der älteste Sohn der Familie, dem der Bogen gehörte, unverwundbar. Immer noch sterblich, aber er konnte durch keine Waffe besiegt werden. Wir stahlen diesen Bogen, als Rache und zerstörten damit das Symbol der Unbesiegbarkeit der Sehjol. Ihr Reich zerfiel in Bürgerkriege, denn allein das Symbol dieses Bogens hatte ihr Reich zusammen halten können. Doch nach mehreren Jahrhunderten einte eine Frau namens Fiarduchwie das Reich und zog in den Krieg gegen uns, denn die Sehjol wollten diesen Bogen zurück. Was folgte, war ein unvorstellbarer, grausamer Krieg. Ein Krieg, der Sehjol und Elben fast auslöschte und der mehrere Jahrhunderte andauerte. Doch letztendlich unterlag mein Volk und wir flohen aus dem Land Sahres. Das Volk der Sehjol verfolgte uns und sie hatten Gandijol angeheuert. Seefahrer, die für Gold mordeten und brandschatzten. Die Reise dauerte, wir flohen über die Meere und kämpften in Seeschlachten. Die meisten verloren wir, doch hier in der Bucht vor Ciyen schlugen wir unsere größte Schlacht. Wir verbündeten uns mit den Jorohnen, die sich damals noch Jorosqi nannten und gemeinsam schlugen wir die Sehjol und Gandijol. Danach kämpften wir gegen die Jorohne, weil wir unsere Versprechungen ihnen gegenüber nicht halten konnten, wir schlugen auch sie. Daraus entstand der Krieg zwischen Jorohnen und Elben. Da wir das Volk der Sehjol nicht auslöschen konnten, rächten wir uns an den Jorohnen. Danach hassten sie uns. Den Bogen gaben wir den Zwergen zur Aufbewahrung, damit sie ihn für uns im Gestein verbargen. Wir webten Schutzzauber darum, damit dieser Krieg, diese Niederlage für immer vergessen wurde. Denn dieser Bogen ist unzerstörbar und die Sehjol wollten den Bogen immer wieder haben. Immer.“.
Arzaya sprang auf, Zorn glühte in ihren dunklen Augen.
„Ihr habt mein Volk ermordet, Arlèn.“.
„Und ihr das unsere, Arzaya. Die Gerechtigkeit ist wiederhergestellt.“.
„Ihr Elben mit euer Gerechtigkeit! Ihr nennt euch die Gerechten, obwohl ihr Mörder eines Volkes seid, das euch nichts getan hat, als euch zu helfen.“, fauchte Arzaya.
„Sprecht ihr nicht von Gerechtigkeit, Arzaya. Wie viele Elben habt ihr in diesen Kriegen getötet? Meine Brüder und Schwestern.“.
„Es ist über siebzigtausend Jahre her. Du warst damals noch nicht geboren.“.
„Ich fühle mit meinem Volk, den Opfern von damals. Das nennt man Solidarität, Arzaya.“.
„Erzähle mir nichts von Solidarität, Elbe! Wo war eure Solidarität, als Ciyen von meinem Volk besetzt war? Ihr habt euch in Bergen verkrochen und vor Angst vor uns gezittert.“.
„Wirf meinem Volk keine Angst vor.“, mischte Kri’yan sich ein.
„Aufhören!“, rief Teres. Die Königin der Hersor stand mitten im Raum und sah die Streitenden wütend an. Teres war selten wütend, aber wenn, dann war es ernst. Alle verstummten.
„Merkt ihr nicht, was hier passiert? Wir haben über ein Problem zu entscheiden, wir brauchen keinen Streit!“.
Tabita sah zu Arlèn, Kri’yan und Arzaya. Sie setzen sich langsam hin, doch der Hass war aus Arzayas Augen nicht verschwunden und auch Kri’yan und Arlèn hatten die Beleidigungen nicht vergessen.
Teres sah in die Runde. „Was sollen wir tun?“, fragte sie ruhig, als ob nichts geschehen wäre.
„Wenn tatsächlich eine Gefahr besteht.“, Kayra sah zu Nichos hinüber und als dieser nickte, fuhr sie fort, „dann sollten wir erst einmal Informationen über das Volk der Sehjol haben.“.
„Sebetjh. Sie nennen sich nun Sebetjh.“. Nichos entrollte Karten und Aufzeichnungen. Schriften, von denen sich Tabita sicher war, dass sie nicht aus den Bibliotheken Marsinas stammten.
„Die Sebetjh sind ein menschliches Volk. Woher sie kommen und mit welchem menschlichen Volk sie am nächsten verwandt sind, weiß selbst mein Volk nicht. Normalerweise sind sie zersplittert in viele Einzelreiche, doch seit drei Jahren ist das Reich der Sebetjh geeint unter einer Kaiserin namens Dioargchie. Ihre Anführer sind immer Frauen, Männer haben kein Recht zu herrschen. Sie werden sich nun zu uns wenden, weil sie seit etlichen Jahren wieder geeint sind, bevor Dioargchie aber von allen respektiert wird, muss sie den Bogen finden und als ein Symbol ihrer Herrschaft ihrem ältesten Sohn überlassen, ansonsten wird sie gestürzt. Denn ohne diesen Bogen kann ein Kaiserhaus der Sebetjh nicht bestehen, weil sie keine Dynastie aufbauen können. Wenn sie auf dem Thron bleiben will, muss sie den Bogen finden, denn eine Kaiserin darf ohne Bogen nicht länger als fünf Jahren auf dem Thron bleiben.“.
„Also braucht sie den Bogen und ausgerechnet jetzt haben wir ihn gefunden.“, meinte Lû leise. Tabita sah auf dem Bogen, er glänzte.
„Können wir ihn nicht einfach zerstören?“, warf Ascarna ein.
„Nein, Ascarna.“, erwiderte Nichos, „dieser Bogen wurde mit einem dunklen Zauber unzerstörbar gemacht. Ich kenne keine Waffe, die ihn vernichten könnte.“.
„Ein dunkler Zauber? Aber wer hat das getan?“, fragte Darl nachdenklich.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Nichos.
„Jedenfalls müssen wir etwas unternehmen. Jemand muss den Sebetjh den Bogen zurückbringen, als ein Friedensangebot.“. Kayra stand auf. Tabita musste lächeln, ihre Mutter hatte genau denselben Gedanken gehabt wie sie selbst.
„Und wer?“, fragte Naro.
„Dieser Konflikt entstand aus einem Konflikt der Elben, also sollen diese ihn auch beenden.“, Ascarna sah in die Runde.
„Aber wir sind eine Gemeinschaft!“, erklärte Marvon.
„Ich bin sowieso dafür, dass wir die Situation auf sich beruhen lassen.“.
„Eine Sphinx zieht sich vor dem Kampf zurück?“, fragte Arzaya Ascarna spöttisch.
„Nein, ich denke nur an das, was die Botin des Hüters einst zu mir gesagt hat, damals in den Isirdis-Sümpfen.“. Sie blickte zu Nichos, Teres und Kayra. „Glaube mir, eines Tages wirst du dir wünschen, dass ihr nie nach anderen Ländern gegriffen hättet. Denn noch zu deinen Lebzeiten werdet ihr Kriege mit fremden Völkern führen.“, zitierte sie.
„Wir machen ihnen doch ein Friedensangebot, Ascarna.“, erklärte Josia.
„Ihr versteht mich nicht. Ich habe das Gefühl, dass es ein Fehler ist.“.
„Was haben wir denn für eine Wahl, Ascarna? Entweder machen wir den ersten Schritt oder sie. Mir ist es lieber, wenn wir es tun.“, erwiderte Kayra, „Wir werden also Boten nach Sahres schicken, die den Bogen überbringen. Wer ist dafür?“.
Kayra und Josia hoben ihre Hände, ebenso Arzaya, Lû, Naro und Nichos. Ascarna stimmte dagegen und Teres enthielt sich, die anderen waren nicht stimmberechtigt.
„Und wer wird gehen?“, fragte Kri’yan.
„Jemand aus dem Volk der Elben muss gehen, da sie diesen Konflikt ausgelöst haben und nur sie den Bogen als Friedensangebot überbringen können.“, antwortete Arzaya und starrte Kri’yan an.
Tabitas Bruder Joshua sprang auf.
„Ich werde gehen. Kommt schon, ich bin elbischer Prinz. Wer ist würdiger, als ein Sohn des Königspaares? Ich kann kämpfen, ich kann in der Wildnis überleben.“.
„Das wäre tatsächlich eine gute Option.“, stimmte Ascarna zu.
Tabita sah ihren Bruder stirnrunzelnd an. Joshua war impulsiv und unvorsichtig, dennoch ein guter Krieger. Alleine würde er zu viele Probleme machen. Sie wusste selbst nicht, warum sie aufstand. Sie wusste nur, dass sie ihren Bruder nicht alleine gehen lassen konnte.
„Wenn du gehst, komme ich mit.“.
„Danke, Schwester. Heul dich aber nicht bei mir aus, wenn dir etwas passiert.“.
Tabita verdrehte die Augen. Sie sah zu Marvon. Er beobachtete Arlèn. Auch er würde gehen, dessen war sie sich gewiss. Doch er hatte eine Frau, eine Tochter, die ihn hier brauchten. Kayra und Josia brauchten jemanden hier, dem sie vertrauen konnten. Langsam schüttelte sie den Kopf und er blieb sitzen. Dann blickte sie zu ihren Eltern. Sie erkannte die Furcht in Kayras Augen und die Liebe und Ruhe in Josias. Ihre Eltern konnten nicht gehen, sie wurden hier gebraucht. Sie hatten ein Volk, das sie regieren mussten. Stattdessen stand Darl auf, den man immer noch Schattenklinge nannte. Er führte in der Zwischenzeit die Stadtwache an.
„Ich werde euch begleiten, wenn ihr ein Messer mehr gebrauchen könnt.“. Tabita nickte, sie mochte und schätzte Darl, es wäre ein gutes Gefühl, ihn dabei zu haben.
„Wir brauchen einen Hersor.“, erhob Tabita ihre Stimme, „Einen Hersor, der sich mit den Sebetjh und dem Land Sahres auskennt.“.
Nichos nickte: „Ich kenne eine Hersora, die das machen könnte.“.
„Gut.“. Sie sah zu Ascarna, „Wird ein Sphinx uns begleiten?“.
Ascarna schnaubte: „Wenn du einen Sphinx findest, der freiwillig ein Schiff besteigt, meinetwegen. Ich werde dich nicht daran hindern, jemanden aus meinem Volk mitzunehmen.“.
Sjavkonhkar, Ascarnas Bruder, nickte.
„Ich werde euer Unternehmen begleiten, Tabita und Marvon.“. Tabita betrachtete Sjavkonhkar nachdenklich. Sie kannte ihn kaum, doch einen Sphinx an Bord zu haben, würde nicht schaden.
Sie sah Lû und Naro an. Diese schüttelten die Köpfe.
„Ein Zwerg besteigt kein Schiff, Tabita. Übers Land würde dich jemand meines Volkes begleiten, doch das Meer ist uns fremd und unnatürlich.“.
Auch Arzaya erklärte: „Keiner meines Volkes wird mit einem Elb auf ein Schiff steigen, auch nicht wenn diese Elben die Kinder meiner Schwester sind. Ein Schiff aus meinen Häfen könnt ihr haben, solange ihr selbst die Mannschaft stellt.“.
„Und wir.“, meinte Teres mit einem Blick zu Nichos, „werden uns, um die Bewaffnung des Schiffes kümmern.“.
Joshua grinste: „Also, Schwester, auf nach Sahres, in ein weiteres Abenteuer.“.