Hjorgcai hatte auf ihrer Reise fast kein Wort mit Egyran gewechselt. Es war Stille gewesen, die ihre Beziehung geprägt hatte. Nun tauchte das Lager Arygans vor ihren Augen auf. Die Yurten füllten ihr Sichtfeld und gaben ihr ein Stück Heimat zurück. Auch wenn Hjorgcai es nicht offen zugeben würde, mochte sie die wochenlange Einsamkeit nicht, die ihre Reise vom Lager ihres Vaters im Süden bis zum Lager Arygans geprägt hatte. Pferde waren längst keine so gute Gesellschaft, wie jene von Menschen. Kinderlachen strömte ihr wie ein Bach entgegen und erfühlte ihr Herz mit Freude. Sie vermisste ihre Geschwister, ihr Lachen, ihre überströmende Freude, die Hjorgcai über die Jahre verlernt hatte. Hjorgcai tätschelte ihre Stute, sie hatte ihr treu gedient und hatte sich nun Ruhe verdient. Sie sah sich im Lager um, es war größer als das ihres Vaters, doch das Leben sprudelte auch hier. Sie beobachtete ein Mädchen, das eine Stute führte, das einen Holzbalken zog, um den Wolle gewickelt war. Sie stellte Filz her, wärmender Filz, aus dem Kleidung hergestellt wurde. Auf einer Wiese übten Mädchen und Jungen nicht älter als fünf Jahre, Bogenschießen.
Egyran hielt vor einer Yurte an, die größer als die anderen war. Er sprang vom Pferd und ließ es laufen, Hjorgcai tat es ihm nach, nachdem sie ihr Gepäck abgenommen hatte. Ihre Stute würde zu der Herde Arygans finden und sich dort erholen. Mit zwei Pferden war Hjorgcai gestartet und mit einem war sie angekommen. Das Leben in der Steppe war hart und forderte viele Opfer.
Ein Mann trat aus der Yurte.
Egyran neigte den Kopf: „Vater.“.
Hjorgcai neigte ebenfalls den Kopf. „Arygan Khan.“.
„Hjorgcai. Du bist willkommen.“.
Er reichte ihr einen tönernen Becher und Hjorgcai nahm den betörenden Geruch von Airag wahr. Den süßlichen Geschmack der gegorenen Stutenmilch hatte sie schon lange nicht mehr wahrgenommen, sie trank.
Dann musterte sie Egyran. Er war alt, älter als ihr Vater, sein Bart war weiß und ein dunkelgrüner Hut besetzte sein ebenso helles Haar. Er trug Kleidung aus gelber Seide und Hjorgcais Verachtung für ihn stieg. Seide war teuer und für gewöhnliche Kleidung wurde sie normalerweise nicht genutzt, da sie aus Sahres importiert werden musste und der Handel schon seit vielen Jahrhunderten unterbrochen war. So wurde die Seide von Generation zu Generation weitergegeben, häufig waren Rüstungen, aber keine Kleidung!
„Du kannst deine Yurte neben meiner aufschlagen.“, sprach Arygan und Hjorgcai nickte, „Du kannst dich frei im Lager bewegen. Wenn du fertig bist, besprechen wir uns.“.
Arygan und Egyran gingen in die Yurte und Hjorgcai blieb zurück. Sie rieb sich die Kälte aus den Fingerspitzen und begann ihre Yurte aufzubauen, die ihr Pferd die ganze Reise über getragen hatte.
„Vater! Ich habe ihr das Leben gerettet, ich will sie nicht heiraten. Sie ist keine Kriegerin, sie ist ein eigenwilliges Kind.“. Egyran sah seinen Vater vorwurfsvoll an.
„Du hast ihr das Leben gerettet.“, erkundigte sich der Khan, während er einen Schluck Airag nahm.
„Sie steht in meiner Schuld, ja.“.
„Besser hätte es nicht laufen können, sehr gut. Du wirst sie heiraten, Egyran. Du kannst dir andere Frauen dazu nehmen, aber sie muss deinen Erben gebären.“.
„Aber wieso ausgerechnet sie?“.
„Ihr Vater ist der Schwurbruder des Taidschie Hes-Argan. Ihr Vater beherrscht zwar nur einige südliche Stämme, aber er besetzt die Oasenstraßen nach Niyes. Wenn er keine männlichen Nachkommen hat, geht das Reich an seine älteste Tochter Hjorgcai, dann können wir unseren Reichtum durch den Handel nach Niyes vermehren und unsere Macht im Süden festigen. Angenommen du heiratest sie. Die Macht soll endlich wieder an den Khan gehen, nicht an den Taidschie. Es wäre ein Anfang, denn der Taidschie Hes-Argan hat keine unverheirateten Töchter.“.
„Aber Hjorgcai hat Brüder.“, warf Egyran ein.
„Dann müssen sie halt aus dem Weg.“, erklärte Arygan Khan, „Durch Hjorgcais Adern fließt auch das Blut der goldenen Erblinie, zwar über ihre Mutter, doch dies würde dein Ansehen vergrößern.“.
„Gut, ich heirate sie.“, willigte er ein, „Und du kümmerst dich um ihre Brüder.“.
„Das erledige ich schon. Hjorgcai wird auch einwilligen, wenn sie nicht will, dass ihr Ruf verloren geht.“.
„Dann gehört der Süden bald uns?“.
„Ja.“, erwiderte Arygan, „Wir werden unsere Macht festigen.“. Er lächelte.
Sie verließen Manyiè Arym zwei Tage später, als der Mast repariert worden war. Der Mast war aus einem hellem, Tabita unbekanntem Holz, und hob sich so vom übrigen Schiff ab. Linovèn und Erelion standen am Hafen und winkten ihnen zu. Und kaum, dass sie die Stadt Manyiè Arym verließen, vermisste Tabita sie auch schon. Der Frieden, die Ruhe, die dort herrschte, fehlte ihr in ihrer Heimat. Tabita hatte aufgehört die Minuten zu zählen, als die Stadt hinter dem Horizont verschwand, die Gebirgsketten Noliôns machten dem unendlichen Meer Platz.
Tabita stand an der Reling, sie drehte sich um und starrte nach vorne, denn der Weg lag vor ihnen und nicht hinter ihnen. Im Wasser leuchteten Algen auf und tatsächlich meinte sie für einen Moment einen Schatten ausgemacht zu haben. einen Schatten ausgemacht zu haben. Saries...Es schien Jahre her zu sein und nun stand sie auf der Niamey und nicht auf der Halide, wo Nichos Tochter ihr von den Nixen erzählt hatte…
Der Wind spielte mit ihren dunklen Haaren, Tabita wusste nun, dass hier ihr Platz war und dass die Reise ihren Sinn hatte.
„Tabita, Tochter.“. Unruhig wälzte sich Tabita in ihrer Koje hin und her. „Tochter!“. Wieso nahm sie auf einmal den Duft von feuchter Erde wahr, von Nüssen und von Blumen? „Tochter.“. Wieder war da diese Stimme, sanft und leise, wie ein leiser Windhauch umhüllte diese Stimme Tabitas Sinne. „Tochter. Meidet die Länder der Oteilon, denn sie dienen dem Bösen. Meidet sie. Tochter. Tochter…“. Tabita fuhr hoch. Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah sich um. Alles war ruhig, nur die Wellen schlugen gegen das Schiff und irgendwo in der Kajüte trippelte eine Maus herum. Ein Traum, mehr war es doch nicht gewesen, oder? Sie stand auf, warf sich einen Mantel über und trat aus der Kajüte in die kühle Nacht. Die Sterne funkelten über ihr und malten Bilder in die Nacht. Ein eisiger Wind ließ sie frösteln. Klagende, geheimnisvolle Töne drangen durch die Nacht. Tabita trat an die Reling und lauschte in die Nacht. Sie konnte nicht ausmachen, von wo diese Stimmen kamen. Sie schienen von überall zu kommen und dann doch wieder von nur einem Ort…
„Es sind die Nixen. Sie singen.“. Tabita drehte sich um und starrte Darl Schattenklinge an, der sich ihr unbemerkt genähert hatte. Er stellte sich neben sie und lauschte ebenso wie sie in die Finsternis.
„Weißt du worüber?“, fragte sie ihn leise, um diese Melodien nicht zu stören.
„Ja. Sie singen:
Dieser Fluss strömt von der Quelle,
das Wasser fließt, Wasser der Heilung,
Wasser um Herzen zu heilen,
Wasser von seinem Thron.
Es strömt und endet nimmer,
durch unser Reich.
Wir schützen diesen Strom,
seht ihn an Reisende aus fernen Ländern,
seht seine Schönheit und
versteht die vergessenen Wahrheiten
Wir können sie nicht verraten,
wir sind Wächter und nicht mehr,
und doch wir sind mehr.
Wir sind die Wächter der Tiefen.
Länder der Meere,
von vielen Unverstanden.
Seht ihre Schönheit,
ihr Reisende aus fernen Ländern
und versteht die Kostbarkeit des Frieden.“.
„Woher kannst du ihre Sprache, Schattenklinge?“.
„Es ist eine Geschichte, die ich nicht hier erzählen möchte. Es ist eine Geschichte für friedliche Tage.“.
„Es ist Frieden, Schattenklinge.“.
„Doch wir reisen in ein Land, in dem Krieg herrscht. Deine Mutter nannte mich auch immer Schattenklinge, nie Darl.“, wechselte er abrupt das Thema.
„Und wie nennen dich die deinen?“.
„Ich habe Männer, die mir folgen und mich bewundern, aber ich habe keine, die ich die meinen nenne. Ich habe keine Kinder und die einzige Frau, die ich je geliebt habe, ist schon lange tot.“. Es war das erste Mal, das Tabita echte Gefühle in seiner Stimme hörte und in seinen Augen las, nicht versteckt hinter einer Maske aus Freude und neckischer Verspieltheit. Hinter der Maske verbarg sich eine Welle aus Zorn und Trauer, mächtige und tiefe Gefühle, wie sie es selten erlebt hatte. Und der Zorn erschreckte sie, Zorn tiefer und älter, als sie es jemals begreifen würde. Gegen wen sich diese Wut wohl richtete?
„Wie hieß sie.“, fragte sie leise. Sie konnte ihm kein Mitleid oder Entschuldigungen geben, das passte nicht zu ihm. Sie wollte wissen, was hinter seinem Zorn stand.
Er musterte sie kurz, dann nickte er.
„Ihr Name war Nerileni Karyndo.“. Tabita hatte Namen nie als Macht empfunden, aber in diesem Namen spürte sie eine gewaltige Kraft ruhen. Sie erwartete, dass etwas geschah, doch es blieb still und ruhig. Nur die Schiffsplanken erbebten, als ob das Holz den Namen wieder erkannte. Wie konnte das sein?
Sie sah zu Schattenklinge hinüber. Wer war er? Was hatte er erlebt? Sie kannte diesen Mann kaum, obwohl sie ihn als Freund bezeichnen würde. Sie wusste, dass er ihr nichts erzählen würde, er schwieg sich über die Vergangenheit aus, genauso wie die Elben.
Auch vom Äußerlichen war er ungewöhnlich. Tabita hatte noch nie einen Menschen mit blondem Haar gesehen. Die Menschen Anthars hatten dunkles Haar, vereinzelt auch rot, aber blond kam selbst bei Halbelben nicht vor. Darl Schattenklinge war ungewöhnlich und Tabita wollte insgeheim den Grund nicht erfahren.
Der Himmel über ihnen grollte, Blitze teilten die Dunkelheit. Tabita sah zu Narichre, die am Steuer stand.
„Die Glocke.“, rief sie. Darl nickte und huschte über das Deck. Wenig später rannten die Matrosen über das Deck. Als der Himmel seine Schleusen öffnete, machte sich Tabita auf den Weg zu Narichre. Die Kapitänin sprach zu ihrem Adler Tcharon. Der Adler erhob sich in die Luft und verschwand in der Nacht.
„Sie sucht nach den Klippen. Harchos übernehme das Steuer.“. Ein Hersor rannte herbei und übernahm das Steuer. Narichre stellte sich an die Reling, wo der Wind die Wellen aufpeitschte.
„Ich muss mich konzentrieren. Halte mich fest, Tabita.“. Sie nicke und schlang ein Seil um die Hüften der Hersora. Sie konnte sich die Anstrengung, durch die Augen eines Adlers zu sehen, sich nur ansatzweise vorstellen – aber das reichte ihr. Wie eine Eissäule stand Narichre an der Reling, das Beben der Planken und das Schaukeln des Schiffes behinderten ihren Stand nicht im Geringsten, Wasser, das ihr ins Gesicht schlug, ignorierte sie. Als Narichre wieder durch ihre eigenen Augen sah, merkte Tabita es durch das Beben, das durch den Körper der Hersora lief und durch die Wärme, die zurückkehrte.
Sie schrie hersorische Schimpfworte, dann meinte sie: „Wir kommen bei dem Wetter nicht durch die Straße von Alnon! Wir treiben zu weit nach Norden zu den Klippen. Harchos! Wir müssen die Passage von Severon nehmen, ansonsten zerschellen wir, die Strömungen sind im Norden zu stark. An die Ruder!“.
Dann rannte sie davon, schrie weitere Befehle. „Geht unter Deck, Prinzessin.“, schrie ein elbischer Matrose ihr zu. Sie folgte seinem Rat, sie verstand, dass sie hier nur im Weg war. Unter Deck war nur alles viel schlimmer. Nur mühsam schaffte sie es, die Übelkeit zu unterdrücken. Langsam ging sie weiter nach unten, am Kanonendeck vorbei – die Waffen wurden nun nicht gebraucht – und zu den Tieren. In den letzten Tagen hatte sich Tabita häufig hier aufgehalten. Früher hatte sie Pferde verachtet und gemieden, doch jetzt war diese Stelle ihr Zufluchtsort vor dem lärmenden Schiff geworden. Es waren Pferde, Hühner, Schafe, sowie zwei Katzen, die hier untergebracht waren. Die Hühner flatterten in ihrem Verschlag hin und her und die Schafe blökten nervös, was ihr Sorgen machte, waren die Pferde. Es waren acht gewaltige Tiere, die stiegen und in deren Auge das Weiße zu sehen war. Tabita wagte es nicht, die Verschläge zu betreten. Stattdessen setzte sie sich an ein Fass und begann zu erzählen, mit ruhiger Stimme auf die Pferde einzureden, obwohl sie selbst vor Angst fast geweint hätte.
Als Tabita aufwachte, war es ruhig. Jemand hatte ihr Decken hingelegt. Tabita sprang auf und ließ die Pferde zurück, die zufrieden ihr Heu mampften. Als Tabita das Deck betrat, blendete sie die Sonne.
„Wo sind wir?“, fragte sie denjenigen, der am nächsten stand. Sjavkonhkar wandte sich um.
„Das ist Land, das dem meinen ähnlich ist. Wüste!“. Er grinste.
Narichre antwortete dagegen: „Das war früher Bocrov, das Land der Jorohne, heute heißt es Akrondjev.“.
Bocrov. Das Land der Jorohne…Ein Land von Vulkanen übersäht, von Felswüsten geprägt.
„Aber keine Sorge hier sind hersorische Festungen, ansonsten ist das Land hier unbewohnt. Weiter im Süden lebt das Volk der Oteilon, aber hier können wir uns ausruhen.“.
Die Unruhe blieb, nagend wie eine Schlange, konnten auch Narichres Worte sie nicht vertreiben. Sie wünschte sich so sehr, dass sie den Frieden leben könnte. Doch es klebte Blut an ihren Händen und die Worte der Schuld, die Linovèn geweckt hatte, blieben. Frieden, wie ein kostbarer Schatz, der längst unerreichbar war.
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