Wenn seine Mutter ihn mitten in der Mittagszeit rufen ließ, dann war es ernst. Die Mittagszeit war Ruhezeit, eine fast ungebrochene Tradition. Doch als Acheving zu ihr kam, wirkte sie wie immer. Unnahbar und ernst. Nur ihre verwischte Schminke ließ erahnen, wie aufgewühlt sie war.
„Ihr Taidschie Hes-Argan steht vor Herai und belagert die Stadt.“. Acheving erkannte an der Stimme sofort, über welches Thema sie sprechen wollte. Es war die Stimme, wenn sie über die Aweynche sprach.
„Ihr Kriegsfürst Hes-Argan?“, hakte er leise nach.
„Ja!“.
Die Aweynche hatten zwar einen König, den Khan, aber die wahre Macht hatte der Taidschie, der Kriegsfürst. Der Khan war nur eine leblose Puppe, in den Händen des Taidschie. Das Einzige, was er besaß, war das Blut des Khesyaran, das durch ihre Adern floss. Khesyaran, der größte Khan, den die Aweynche je besessen hatten. Ein Khan, der die uneinen Stämme geeint hatte und ein gefährliches Volk aus Kriegern geformt hatte, das die Nachtbarländer – auch Sahres – erobert hatte und zu einem Teil seines Reiches gemacht hatte. Von der Herrlichkeit des Khesyaran war wenig geblieben und von seinen Nachkommen gab es auch nicht mehr viele, da der vorherige Taidschie Esren seine Erben ausgerottet hatte, um eine eigene Dynastie zu schaffen, was ihm missglückt war.
Acheving starrte auf eine Karte. Herai lag im Süden von Sahres im Len-Gebirge, war aber eine strategisch günstige Stadt, da sie die Straße von Ni hielt und an einem See lag.
„Du wirst nach Herai reisen.“, meinte Kaiserin Dioargchie plötzlich.
Acheving wollte protestieren. Er war schließlich kein Krieger, doch er wusste das Widerworte sinnlos waren. Es war keine Bitte, es war ein Befehl gewesen.
„Ich möchte, dass du Kommandanten Wan überwachst. Wir brauchen einen Sieg. Verstehst du, egal mit welchen Mitteln du diesen erwirkst, aber wir brauchen einen Sieg!“.
Hjorgcai trat in die Yurte den Khans Arygan, wobei sie darauf achtete, die Schwelle nicht zu betreten. Arygan betrachtete sie, dann nickte er. Seine Frau, die Khatun, reichte ihr eine Schale Milch, dann verschwand sie mit einem Blick ihres Mannes. Während sein Sohn Egyran stehen blieb.
„Nun, Hjorgcai. Was hast du zu berichten?“.
„Ich habe eine Botschaft für Arygan Khan zu überbringen.“.
„Nun. Ich bin hier.“.
„Diese Botschaft ist nur für die Ohren des Arygan Khan gedacht.“, beharrte sie.
„Gut. Noch ist er nicht dein Mann, also darfst du deine Geheimnisse noch vor den Ohren Egyrans verbergen.“. Er winkte seinem Sohn zu und Egyran ging wutschnaubend davon.
„Hast du eine Botschaft von deinem Vater?“, fragte der Khan, er schien uninteressiert und Hjorgcais Wut wuchs. Kein Wunder, dass das Geschlecht des Khans verloren ging, wenn solche Männer ihr Volk regierten!
„Nein. Ich habe eine Botschaft von einer Nalincherg zu überbringen. Sie sagte: Sage ihm, dass der Bogen gefunden worden ist und das ein Schiff unser Vorfahren ihn bringt. Sage Arygan Khan ebenfalls, dass einer der Mächtigsten meines Volkes auf dem Schiff mitreist.“.
Hjorgcai schwieg und wartete auf seine Reaktion.
Und er starrte sie an. Den Mund offen, als hätte er vergessen, wie man atmet. Schließlich schloss er ihn ruckartig wieder, dann meinte er: „Sobald dein Bruder gekommen ist, wirst du meinen Sohn heiraten und dann wirst du dich auf die Reise machen und den Bogen und die Personen, die ihn mit sich tragen, zu mir bringen.“.
„Ja, Arygan Khan.“.
„Jetzt geh.“.
Hjorgcai ging, noch verwirrter und wütender als zuvor.
Kommandant Wan empfing Acheving in Herai freundlich. Acheving achtete und bewunderte den schon etwas älteren Kommandanten, auch wenn er das niemals zugeben würde. Von Norden her war es nicht schwer, die Stadt zu erreichen. Doch das gewaltige Heer, das an dem See Heru lagerte, versperrte den Weg nach Süden. Nicht einmal eine Maus würde es wagen, diese Mauer zu durchqueren. Acheving ließ sich durch die Stadt führen, die Mauer und die Tore zeigen. Und Wan klärte ihn über die Stärke der eigenen Männer und den Männern von Hes-Argan auf.
„In einer offenen Schlacht haben wir keine Chance gegen sie. Unsere Hoffnung ist die Festung, doch die Aweynche haben Waffen entwickelt, um Mauern zu durchbrechen, die wir nicht kennen und einschätzen können.“.
„Ich brauche einen Sieg, Wan. Egal wie, einen Sieg. Nur diesen Sieg verlange ich, Kommandant.“.
„Ein Sieg ist leichter gesagt als getan.“, meinte der Soldat leise.
„Einen Sieg, Wan! Ist das zu viel verlangt, soll jemand anderes Euren Platz einnehmen?“.
„Nein, mein Prinz. Nein, ihr bekommt euren Sieg.“.
„Das will ich doch hoffen.“.
„Habt ihr einen Plan?“.
„Ich habe einen, auch wenn ich wünschte, dass ich eine Wahl habe.“.
„Das habt ihr nicht.“, knurrte Acheving.
„Aber Ihr kommt mit mir, damit ihr versteht.“.
„Solange ich einen Sieg bekomme.“.
Er...seine Mutter brauchte einen Sieg. Einen Sieg, um die Menschen zu beruhigen. Ihnen zu zeigen, dass sie die Lage in der Hand hatte, dass die Rebellen unwichtig waren.
In der Nacht führte Wan seine Männer an den Aweynche vor den Toren vorbei und in das Lager. Es war ein großes Lager, in denen Frauen, Kinder und Verwundete lebten. Wie konnten die Aweynche es wagen, ihre Yurten auf dem Land seines Volkes aufzustellen? Acheving verstand dieses Volk nicht, wieso zogen sie überhaupt ein Wanderleben einer Stadt vor? Und so störte es ihn auch nicht sonderlich, dass Wan die Frauen und Kinder töten ließ. Er ließ sie alle töten, doch für Acheving waren sie keine Menschen, es waren Barbaren. Barbaren, die man ausrotten musste, damit sie sich nicht wie Ungeziefer vermehrten. Er blieb auf dem Hügel stehen, der sich über dem Lager erhob und beachtete das Morden nachdenklich. Er sah zu, ohne Mitleid zu empfinden. Er dachte nur daran, dass der Sieg erbracht war und seine Mutter ihn endlich als würdigen Sohn akzeptieren würde. Er dachte an die Herden, die nun ohne Herren waren. Er dachte an Frieden, während um ihn herum gemordet wurde.
Und als im Lager kein lebender Feind mehr war, wandte er sich um und ritt zurück in die Festung. Am nächsten Tag verschwanden die Aweynche aus seinem Land und kehrten zurück, um ihre Toten zu bestatten und Hes-Argan musste seine Macht weiter festigen.
Acheving kehrte zurück nach Cesing, um seiner Mutter die Nachricht vom Sieg zu überbringen. Ein Sieg. Sie hatten einen Sieg!
Sie verließen die Niamey am Mittag. Tabita genoss es wieder Boden unter ihren Füßen zu spüren, sie war eine Tochter des Landes. Es war ein Anderes Land als Ciyen. Der steinige Boden und die rötliche Erde, das Gras fehlte fast völlig und ein paar knorrige Bäume waren das Einzige, was an die Wälder ihrer Heimat erinnerten. Auch die Pferde genossen es, wieder Boden unter ihren Füßen zu spüren. Narichre hatte sich entschlossen, zu den Festungen der Hersor zu reisen, um Neuigkeiten zu erfahren und den Sturm abzuwarten, der außerhalb der kleinen Bucht immer noch vorhanden war. Es würden nicht alle der insgesamt neunzehn Personen der Besatzung mitkommen, sondern nur sie, Joshua, Narichre, Sjavkonhkar und Darl Schattenklinge. Tabita besaß eine neue Partisane, die sie nun mit sich führte. Joshua trug seinen Anderthalbhänder auf dem Rücken, Narichre ihr Kurzschwert und Sjavkonhkar besaß Klauen und Zähne. Es würde zwei Stunden dauern, bis sie die Festungen erreicht haben würden. Tabita hatte sich für eine ruhige Schimmelstute entschieden, ihre Abneigung gegen Pferde war in den letzten Wochen deutlich geringer geworden. Schließlich setzen sich die Pferde in Bewegung und Sjavkonhkar rannte in seiner Löwengestalt vorne weg. Die Sonne flimmerte und Tabita sah zu der Bergkette, die sich gegen den Horizont abhob. Wenn dies die Heimat der Jorohne war, dann verstand sie, warum ihr Leben so hart gewesen war. Auf diesem Land gab es nichts. Tabita hatte noch keine Quelle entdeckt, die wenigen Bäume spendeten nur wenig Schatten und Mäuse waren die einzigen Tiere, die über die Steine huschten.
„Es erinnert mich an meine Heimat.“, erklärte der Sphinx Sjavkonhkar und unterbrach so die Stimme.
Tabita verspürte eine solche Sehnsucht nach ihrer Heimat und ihrer Familie, wie noch nie zuvor. In Marsina hatte sie immer noch die Gewissheit gehabt, zurück zu kommen. Aber hier? In den Wüsten von einem fremden Land schien ihre Heimat weit entfernt und unerreichbar. Ob sie jemals zurückkehren würde? Sehen würde wie Ketylèn den Bund einging? So viele Ungewissheiten lagen auf ihrem Weg und doch verspürte Tabita Ruhe. Tiefer Frieden, der ihr Geborgenheit schenkte und die Sehnsucht linderte.
„Was denkst du über deine Schwester.“, fragte Joshua plötzlich.
„Ascarna? Sie hat es nie leicht gehabt, mit all ihren älteren Brüdern. Doch sie konnte sich durchschlagen, bevor ich mich dem Heer von Ariv anschloss, war ich derjenige, der unter ihr am Boden lag. Und ich ließ sie zurück. Ich bin der Einzige von unseren Brüdern, der zurückkehrte. Die anderen fünf sind tot und...“.
Er hielt inne, als sie eine Hügelkette überquert hatten und die Festungen sich unter ihnen erhoben, oder, das, was von ihnen übrig war. Es waren nicht mehr als Ruinen, die sich gegen den blauen Himmel abhoben. Tabita sah zu Narichre, fassungslos starrte diese die Steine an, als könnte sie an diesen ablesen, was hier geschehen war. Natürlich konnte sie es nicht und die Geschehnisse waren längst im Wüstensand vergraben wurden, ein Ort der namenlosen Gräber. Tabita beobachte die anderen. Joshua hatte sein Schwert gezogen und sah sich wachsam um, ebenso wie Sjavkonhkar, Narichre war fassungslos und Darl schien nachdenklich, betroffen. Uns sie selbst. Was empfand sie? Sie wusste es nicht, wie sollte sie Narichre auch erzählen, dass sie es von vorne rein geahnt, gewusst hatte. Gewusst, dass dies eine Falle war. Tief in ihrem Inneren war sie sich dessen bewusst gewesen. Und doch hatte sie gezweifelt und war mitgegangen, in eine Falle. Denn dies war eine Falle.
„Bleibt zusammen und steigt auf die Pferde.“, das war das Einzige, was sie sagte.
„Nein.“, Narichre stolperte den Hügel herab.
„Narichre! Das ist Wahnsinn.“.
„Mein Bruder. Mein Bruder war hier, ich habe ihn seit fünfzig Jahren nicht mehr gesehen.“. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich zu ihr um. Bei den Hersorn galt der Verlust von Tränen als etwas Besonderes, die man nur nahe stehenden gewehrte.
„Du kannst dennoch nicht hinunter.“, erklärte Darl Schattenklinge sanft.
„Es riecht nach Gefahr.“. Sjavkonhkar sah sich um.
„Oteilon?“, fragte Narichre leise.
„Ja.“, bestätigte der Sphinx.
„Dann wird meinem Bruder kein Grab gewährt.“.
Sie sah über die Ruinen und hob die Hand, dann sprach sie Worte in Lernai, die Tabita als Segensspruch erkannte.
Dann stieg Narichre auf ihr Pferd.
„Verflucht!“. Darl deutete auf die Gestalten, die aus den Ruinen auf sie zukamen.
Tabita wandte sich um, auch aus der Richtung, von der sie gekommen waren, kamen welche von diesen Gestalten.
„Sie sehen ja nicht besonders groß aus.“, wandte sie ein.
„Dies, Tabita.“, meinte Sjavkonhkar, „ist das mächtigste Volk dieser Welt, gegen selbst mein Volk wenig ausrichten kann, denn sie beherrschen das Feuer.“.
„Und warum breiten sie sich dann nicht in Anthar aus?“.
„Weil sie dazu Feuer bräuchten, Vulkane.“.
„Kommt. Wir müssen reiten, solange sich der Kreis nicht geschlossen hat.“, rief Joshua. Er hatte sein Schwert gezogen und der Stahl schimmerte bedrohlich. Tabita betrachtete ihre Partisane. Würde sie gegen Feuer etwas ausrichten können? Aber wie konnte man Feuer beherrschen?
Joshua trieb seine Stute an und Tabita folgte seinem Beispiel. Als die Gestalten näher kamen, konnte Tabita Einzelheiten erkennen. Es waren kleine gebeugte Kreaturen, in schwarze Mäntel gekleidet. Waren es Menschen? Tabita wusste es nicht, sie wusste nur, dass Angst von ihnen ausging. Angst, kalt und flüssig wie Öl. Angst wie eine schwarze Decke, die all die Hoffnung, all die Freude auslöschen wollte, die sie bis eben noch besessen hatten. Doch da war dieser winzige Funke, an den sie sich klammerte. Du hast mich gewarnt und ich bin dennoch gegangen. Bitte, hilf uns, flüsterte sie in Gedenken an den Hüter. Und da war diese Liebe, die sie überströmte. Als sie sich umdrehte, standen die Wächter da. Wächter, wie sie im Alaksee standen, am Tor des Hüters. Sie trugen keine Waffen, aber sie waren Wächter und von ihnen ging ein so starkes Licht aus, dass Tabita nicht daran zweifelte, dass die Oteilon in ihrem Licht verbrennen würden. Sie erinnerte an die Worte, die ihre Mutter an sie gerichtet hatte, bevor sie Tyral Rorym verlassen hatten: Glaube an dich selbst und an seine Kraft, dann ist dir alles möglich!
Alles möglich. Wie konnte das sein? Wo sie sich selbst, so schwach fühlte. Doch die Stärke, seine Stärke, durchströmte ihre Adern und es war ihre Kraft.
Und sie fing an zu singen, trotz der Feuerkugeln, die aus den Händen der Oteilon hervor krochen, wie gefräßige Tiere.
„
Hört die Blätter rascheln,
sie erzählen sich,
von einem mächtigen König,
der diese Welt regiert.
Einem König der Liebe und Gnade,
vor dem seine Feinde erzittern.
Seht die Söhne und Töchter,
die vor seinem Thron stehen,
in Macht und Herrlichkeit.
Und lauscht auf das Lied der Liebe,
das jede Sprache spricht
und das jeder in seinem Herzen,
zu sprechen vermag.
Erinnert euch an dieses Lied,
das Lied, das seinen Namen preist
Das Lied der Liebe“.
Auch ihr Vater hatte gemeint: „Musik ist eine Waffe, denn in ihr drückst du deine tiefsten Gefühle und Sehnsüchte aus, du zeigst dein Herz. Und das ist es, was das Böse fürchtet, das eine Tochter oder ein Sohn seine Identität erkennt und diese ausspricht.“.
Ja, sie fürchteten seine Macht. Die Oteilon fürchteten den Hüter und seine Macht – und seine Kinder.
Und dieses Lied war wie eine Waffe, wie eine gewaltige Wand aus Feuer, die die Flammen der Oteilon erstickte und vernichtete. Doch dieses Feuer tötete die Oteilon nicht, aber sie liefen davon – vertrieben durch diese Macht. Die Macht des Hüters.