Naichie ließ fünf Männer auf der Brücke zurück, die restlichen neun würden mit ihm kommen. Einen Mann schickte er zurück in das Lager, damit von dort Verstärkung kam, denn die Brücke musste auf jeden Fall gehalten werden. Zwei Stunden würden ihnen bleiben, bis die Wachablösung für die Brücke kam. Also blieben ihnen zwei Stunden, um in die Stadt zu kommen.
Von der Brücke führte eine Straße, die von zwei hohen Mauern eingegrenzt war zu dem nördlichen Stadttor. Wenn sie eine Möglichkeit hatten, die Stadt zu erobern, dann am nördlichen Tor. Die Soldaten dort waren an streitende Händler gewöhnt, aber nicht an Soldaten, die sie überfielen. Folglich waren sie weniger wachsam.
Naichie rannte im Schatten der Mauer mit seinen Männern dahin, vorsichtig, dass die Wächter auf der Mauer sie nicht entdeckten. Naichie legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Sie mussten über die Mauer und so in die Stadt. Er blicke zu einem seiner Männer namens Liu, der sein bester Werfer war. Es waren Yion, Enterhaken ähnlich wie sie auf Schiffen verwendet wurden, nur das sie kleiner waren, die über die Zinnen flogen und sich dort verhakten. Jetzt musste es schnell gehen, bevor die Wächter ihren Rundgang begannen, mussten sie oben sein. Bogenschützen wären jetzt sinnvoll gewesen, aber diese fehlten ihnen nun einmal. Naichie zog sich an dem Seil hoch und erkletterte die Mauer. Er sprang hinauf und duckte sich in den Schatten der Zinnen. Wenige Minuten blieben ihnen, um in die Stadt zu gelangen und es durfte keine Tote geben, da diese viel schneller bemerkt werden würden, als auf der Brücke. Im Schatten der Mauer schlichen sie dahin. Der Verbindungspunkt zwischen Mauer und Stadtmauer war ein Turm, den sie Sicht betreten durften. Naichie nickte Liu zu, der im Schatten des Turmes stand und die Enterhaken an die Zinnen der Stadtmauer warf, wobei er das Seil in der Hand behielt. Naichie umfasste das Seil und sprang von der Mauer. Der Aufprall an der Stadtmauer raubte ihm einen Moment die Luft, dann kletterte er hinauf. Er umfasste die Zinnen, lauschte einen Moment, dann hievte er sich hinauf. Erneut duckte er sich in den Schatten der Mauer und wartete bis seine Männer nach und nach ebenfalls die Zinnen erklommen. Einen Moment spürte Naichie das Gefühl des Triumphes, aber dann übermannte ihn wieder die Vernunft. Sie waren in der Stadt, jetzt mussten sie möglichst lebendig an das Südtor kommen, um dem Heer den Weg in die Stadt zu ermöglichen. Dieses müsste nun einen parallelen Angriff zur Ablenkung durchführen. Aber sie waren diejenigen, auf die es ankam. Nur ihre kleine Gruppe.
Naichie orientierte sich, unter sich befand sich ein Hof, der wohl für den Markt verwendet wurde. Er zeigte nach unten. Sie verhakten die Yion in den Zinnen und seilten sich dann ab. Liu blieb oben und kappte die Seile, dann wandte er sich um, um zur Brücke umzukehren. Naichie sammelte die Seile und wies die übrigen acht Männer an, ihm zu Folgen. Sie schlichen über den leeren Marktplatz, die Belagerung hatte ihm das Leben genommen. Dann schlüpften sie in den Schatten der Häuser, die meist einfache Holzhäuser waren. Hier lebten ärmere Menschen. Die Häuser standen dicht zusammen und bildeten enge Gassen, in denen es nach Exkrementen und Verdorbenen stank. Gassen, in die sich nur Menschen wagten, die es mussten. Naichie bezweifelte, dass die Stadtwachen diese Orte kontrollierten. Ein Geräusch ließ Naichie inne halten, aber es war nur eine abgemagerte Katze. Über ihren klapperte etwas und eine Flüssigkeit ergoss sich über seine Stiefel. Naichie unterließ es, den Geruch wahrzunehmen und lief weiter. Schon von weitem hörte er Schreie und Waffenklirren, die Ablenkung war ein Erfolg. Sie folgten dem Rufen nicht, sondern liefen zum Tor, das fast vollkommen verlassen dalag. Auf der Mauer standen drei Wachen und im Torhaus mussten noch einige sein, aber sie waren überwindbar. „Nelon, Jai, Ning und Zerelne ihr nehmt das rechte Torhaus. Ninh und Arah ihr haltet hier vorne Wache, die übrigen folgen mir.“, befahl er leise. Sie mussten das Tor einnehmen, um das Gitter hochzuziehen und dann halten, bis das Heer kam. Naichie sah sich um, dann schlüpften sie in das linke Torhaus. Die drei Soldaten waren wachsam, immerhin würde die Stadt angegriffen, aber sie waren in der Unterzahl. Naichie hielt seine Dao vor sich, während er die Treppe hoch rannte. Dort befand sich eine Seilwinde, um das Eisengitter hochzuziehen. Ein Mann stand dort Wache. Naichie hätte fast gelacht, er hätte diesen Raum mit der zehnfachen Anzahl besetzt. Dieser Fehler durfte einem Feldherrn nicht passieren. Naichie duckte sich unter der Klinge seines Angreifers hinweg und schlug nach dessen Beinen, dem dieser nur durch einen Ausfallschritt nach hinten entgehen konnte. Naichie hob seine Klinge nach oben, um den Schlag seines Gegners zu entgegnen und spürte wie der Aufprall seine Knochen zum Schwingen brachte. Schweiß rann ihm über das Gesicht, als er die Klinge in einem Stummen Kräftemessen gegen die seines Gegners presste. Der Mann trat nach hinten und ließ Naichies Klinge ins Leere treffen. Doch Naichie warf sich zu Boden, so dass er dem Angriff entging. Seine Knochen würden ihm dies später mit Schmerzen danken, dachte er mürrisch, während er sich unter den Beinen seines Gegners hinwegrollte und ihm dann in den Rücken stach. Naichie wollte schon wieder auflachen, wenn man eine Rebellion plante, sollte man seine Männer auch ordentlich ausrüsten. Diese Kämpfer waren dagegen häufig nur mit Stoff und Leder geschützt, selten mit Eisen. Naichie trat über die Leiche des Mannes zu der Seilwinde und begann zu Kurbeln. Es war pure Kraft, die benötigt würde, doch Naichie bekam Hilfe von zwei weiteren seiner Männer.
„Sie bekommen Verstärkung.“, rief eine Stimme von unten. Naichie fluchte leise, das hatte ihm jetzt grade noch gefehlt. Er überließ die Arbeit den beiden Männern und rannte nach unten. Er trat aus der Tür und sah, dass mindestens zwanzig Rebellen um die Ecke kamen. Sie rannten auf das Tor zu. Naichie wischte seine Klinge an seinem Umhang ab und zog sie erneut. Es waren viele und sie hatten das Gitter noch lange nicht weit genug hoch gezogen. Aber sie würden es schaffen, auch wenn Naichie nicht wissen wollte, wie viele Männer dafür mit dem Tod bezahlen würden. Er verbarg sich im Schatten der Wand, als der erste Mann herein stürmte, bohrte er ihm die Klinge in den Leib. Dem nächsten entwendete er die Waffe und es ging so weiter. Naichie wusste nicht, wie viele Männer durch seine Hand fielen. Er wusste nur, dass es viele waren. Früher hatte er sie gezählt, jetzt tat er es nicht mehr. Er war durch Leiden und Tod gewandert, über Leichen und Blut. Und es war jedes Mal das gleiche. Zustechen, abwehren, wegducken, angreifen. Nur, dass es dieses Mal nicht die Gandijol oder die Aweynche waren, sonders sein eigenes Volk. Ob das einen Unterschied machte? Das Töten war nicht schwerer als sonst, im Gegensatz es war leichter. Und im Kampf achtete er nicht auf ihre Gesichter, er hatte es verlernt, um sie nicht in seinen Träumen zu sehen. Sie waren nur Feinde, so wie sonst auch, es gab keinen Unterschied. Gegner waren böse, egal welchem Volk sie angehörten. Es waren viele, die er an diesem Tag tötete. Ein Blutbad, die Leichen türmten sich vor seinen Füßen und er merkte die Wunden auch bald nicht mehr. Sie wurden im Kampf unwichtig. Die Erschöpfung wurde im Moment durch Adrenalin verdrängt, sie würde erst nach dem Kampf offensichtlich werden.
Endlich war das Tor oben und die warteten Truppen stürmten hinein. Naichie lachte erleichtert auf. Der zweite Mauerring war nicht längst so gut befestigt wie der erste, die Stadt würde bald fallen. Er sah sich um, von seinen Männern lebten noch drei. Die anderen lagen tot am Boden, sie würden ihr Grab in dieser Stadt finden, es würde keine Zeit bleiben, sie zu bergen. Naichie schöpfte noch einmal Luft, dann stürzte er sich - seine Dao wild schwingend – erneut ins Getümmel.
„Sieg! Sieg!“, hallte es durch das Lager des kaiserlichen Heeres. Acheving erlaubte den Männern nur wenig Reiswein. Ein betrunkenes Heer konnte gefährlich werden, zum einen wollte er die Bewohner der Stadt nicht dem Rausch der Männer aussetzen und zum anderen wollte er gewappnet sein, falls die Rebellen die Situation ausnutzten. Er hörte Hanu in seinem Zelt laut über den Sieg prahlen, den er errungen hatte. Doch er ging weiter, sollte der Adelige doch prahlen, er wusste, wem der wahre Verdienst zustand. Er schlug den Eingang seines Zeltes beiseite und betrachtete den alten Veteranen, der auf einem Hocker saß und eine Fleischwunde mit Reiswein desinfizierte.
„Ich gratuliere dir, Naichie.“.
Naichie nickte und konzentrierte sich wieder auf seine Wunde.
„Ich hoffe, ihr wollt mich jetzt nicht mit Orden schmücken, versorgt lieber die Verwundeten da draußen.“, knurrte er schließlich. Seine Stimme schwankte und so nahm Acheving an, dass auch Naichie schon vom Wein gekostet hatte.
„Es war ein guter Kampf, Naichie. Du hast den Sieg errungen.“.
„Für die Kaiserin!“. Naichie hickste und sah Acheving an.
„Ihr habt das Heer gut gelenkt, mein Prinz.“.
„Nicht gut genug. Ich habe nicht verhindern können, dass sie am Osttor einen Ausfall machten und gegen meine Flanke zogen.“.
„Jeder macht Fehler.“.
„Und doch sind meinetwegen Menschen gestorben.“.
„Das ist der Preis des Krieges und jeder Befehlshaber muss bei jeder Entscheidung, die er trifft, Leben in Kauf nehmen. Eines Tages lernt ihr es.“.
„Unterrichtest du mich, Naichie? In der Kunst des Krieges?“.
„Ich bin kein Stratege. Ich brauche meine Berater, um Pläne fertig zu stellen. Ich kann euch nur lehren, den Krieg zu überleben, ohne verrückt zu werden. Ich kann euch lehren, verrückte Pläne durchzuziehen und nie den Mut zu verlieren. Ich kann euch zeigen, wie man Soldaten von sich überzeugt, wie man zu ihnen spricht. Ich kann euch beibringen, wie man Schlachten schlägt.“.
„Dann lehre mich, Naichie. Ich brauche Kraft. Kommst du mit zu meiner Mutter? Ihr die Nachricht des Sieges zu überbringen, der dir zu verdanken ist.“.
„Ich bin nicht geschaffen, für die Hallen des Kaiserpalastes, aber ich werde mitkommen, euch zu Liebe mein Prinz.“.
„Steht auf.“. Dioargchies Stimme klang laut durch die Halle. Woher sie wohl diese Sicherheit in ihrer Stimme nahm? Sie saß erneut auf ihrem Thron, weit entfernt von ihm. Manchmal kam sie ihm auch so vor, wie eine Figur in einer Sage, weit entfernt, kaum erreichbar.
„Was habt ihr zu berichten?“.
Acheving sah zu Naichie, der Krieger sah ungewohnt aus in der blauen Uniform. Sie stand ihm nicht, er gehörte in die abgerissenen Kleider, die er auf dem Schlachtfeld trug.
„Die Stadt Milon ist in unserer Hand. Wir haben dabei etwa hundertfünfzig Männer verloren, die Rebellen sind tot oder untergetaucht.“.
Dioargchie sah zu den beiden Personen, die an den Stufen, die zum Thron hinaufführten, standen. Acheving erkannte den Oberbefehlshaber der Armee Lao und seine Stabschefin Nian. Lao war ähnlich wie Hanu ein Adeliger, den Acheving für komplett unkompetent hielt, ein Heer zu führen. Seiner Stabschefin Nian war es zu verdanken, das nicht jeder Befehl, in eine Katastrophe führte. Nian war jung für diesen Posten und es hagelte deshalb von vielen Seiten Protest auf sie ein, doch für Acheving hätte keiner geeigneter sein können.
„Der Sieg ist Naichie zu verdanken. Der mit einer Truppe von fünfzehn Männern in die Stadt eingedrungen ist und die Tore für das Heer geöffnet hat. Acheving trat zur Seite und ließ den Krieger vortreten. Dieser verneigte sich umständlich und murmelte etwas von: „Erhabene Kaiserin und meine untertänigsten Grüße.“
„So, so. Was sagt Ihr zu dieser Methode der Heerführung?“, wandte sie sich an Lao.
„Völlig inakzeptabel, meine Kaiserin. Man muss sich an die althergebrachten Weisen halten. Das ist Verrat an der Kriegskunst unseres Volkes. Durch den Mut und die Kraft des ganzen Heeres wird der Sieg erbracht, nicht durch die wahnsinnigen Taten ein paar Einzelner. Dies war schon immer so und wird immer so sein.“. Lao verneigte sich vor der Kaiserin.
„Die Rebellen halten sich ebenfalls nicht an die althergebrachten Weisen! Sie überfallen uns ohne Vorwarnung und sie kennen unsere Reiserouten ganz genau. Das sind keine Bauerntölpel, da sind gut ausgebildete Krieger und Strategen dabei. Und jemand aus dem engsten Kreis der Heerleitung muss ihnen Informationen liefern, ansonsten würden sie unsere Pläne und Routen nicht so genau kennen!“, erklärte Acheving wütend
„Ihr wollt einem Mitglied der Heerleitung Verrat unterstellen?“, wenn Lao nicht vor den Augen der Kaiserin mit ihm sprach, dann hätte er jetzt geschrieen.
„Wie wollt Ihr euch das sonst erklären? Glaubt ihr etwa, dass die unsere Pläne in ihren Träumen sehen. Nein! Wir haben einen Verräter in unseren Reihen, da bin ich mir sicher.“.
Acheving sah zu seiner Mutter, diese nickte.
„Ich werde über deine Worte nachsinnen, Acheving. Wir werden sehen, wie wir damit verfahren.“. Sie sah ihn an. Er wusste, dass sie ihre Gedanken in diesen Hallen nicht offen aussprechen durfte. Aber ebenso las er in ihren Augen, dass sie insgeheim genauso dachte wie er.
Dioargchie nickte ihnen zu, dass sie sich entfernen durften. Acheving wartete bis sie und Lao außer Hörweite waren, dann wetterte er los.
„Sie haben deinen Sieg überhaupt nicht gelobt. Althergebrachte Methoden! Immerhin haben wir den Sieg errungen, ist das nicht genug?“. Er hielt inne, als er Schritte hinter sich hörte. Er erkannte Nian, Laos Stabschefin hinter sich.
„Wartet!“. Sie hielten inne und warteten auf die junge Kriegerin.
„Manchmal hasse ich Lao wirklich.“, sie seufzte.
„Aber das mit dem Verräter könnte stimmen, ich dachte bisher immer, sie hätten gute Spione, aber…“.
Für eine Sebetjh besaß Nian kein gutes Benehmen und manchmal konnte sie viel erzählen, aber sie war der Stratege, der Naichie nie sein würde.
Sie kamen in den kaiserlichen Gärten an und Naichie verabschiedete sich von ihnen. Nian betrachtete einen Schwan.
„Warum haben sie deinen Plan mit dem Eindringen über die Brücke nicht gewusst?“, fragte sie plötzlich.
„Weil ich nur mit Naichie darüber geredet habe, Hanu wusste davon nichts.“, erklärte er, „Warte! Denkst du Hanu ist ein Verräter?“.
„Keine Ahnung.“. Sie zuckte mit den Schultern, „Ich kenne ihn kaum, ich habe bisher erst zweimal mit ihm gesprochen und das reicht mir nicht, um mir ein Urteil zu bilden. Ich gehe nur Möglichkeiten durch!“.
„Aber der Sieg bei Milon war ein Anfang. Wir haben einige Pläne der Rebellen finden können, damit können wir sie schlagen.“.
„Haben sie gute Strategien?“, fragte Nian neugierig.
„Ich denke schon.“. Er begann ihr zu berichten.
Sie lachte auf.
„Meine Güte. Bei dem Cing-Plan würden sie die beiden Heerteile zu weit von einander trennen, so dass wir leicht einen Keil zwischen sie treiben können und es uns dann möglich ist, sie einzeln zu schlagen. Das nennst du gute Strategien? Ich frage mich, wer ihr Oberkommando hat, dem würde ich mal eine ordentliche Lektion in Kriegsführung verpassen.“.
„Dann können wir das ausnutzen! Wir haben den Anfang vom Ende begonnen, für die Rebellen ist das Ende gekommen.“.
„Ja, doch ich fürchte, wir können die Rebellen so oft schlagen, wie wir wollen. Es würden immer wieder neue Rebellengruppen aufstehen. Kaum haben wir eine besiegt, kommt die Nächste. Es war nur ein Tropfen Wasser, der wieder verdampft ist. Ohne den Bogen wird es keinen Frieden geben, sondern immer fortwährenden Krieg.“. Sie nahm seinen Übermut, wischte ihn fort wie eine Schicht Staub, die den wahren Kern verdeckt hatte. Und zurück blieben nur die Hoffnungslosigkeit und die Angst für das, was kommen würde. Acheving betrachtete Nian. Manchmal gab es doch Momente der Hoffnung, denn Menschen wie Nian hatten Hoffnung und Freude noch nicht verloren und Acheving musste die Glut der Hoffnung vielleicht nur wieder zum Brennen bringen.
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