Das Spiel Schagai bestand aus Holzschienen für jeden Spieler, einer Holzbox und Schafsknöchelchen. Je nachdem wie die Knöchelchen lagen, hatten sie verschiedene Bezeichnungen: Kamel, Pferd, Schaf und Ziege. Bis auf ein Knöchelchen pro Spieler lagen alle in der Holzbox. Auf die Holzschiene wurde ein Knöchelchen gelegt und nun galt es dieses Knöchelchen in die Box zu schnipsen und dabei möglichst viele der gleichen Art zu treffen.
Und Hjorgcai erwies sich dabei – wie Joshua feststellte – als Meisterin.
„Du kannst doch kein Pferd gegen ein Schaf schnipsen.“, rief sie vorwurfsvoll, als Joshua wieder einmal falsch gezielt hatte.
Sie selbst hielt ihre Holzschiene sicher und schnipste ihr Knöchelchen, das als Ziege dalag gegen eine Ziege in der Box.
Früher hätte er an so einem Spiel nie Gefallen gefunden. Genau die Winkel berechnen, um richtig zu treffen, das lag ihm nicht. Doch in den letzten Wochen hatte er so viel erlebt, dass ihm diese Momente des Friedens und der Ruhe kostbar wurden. Vielleicht musste man erst durch Angst und Schrecken gehen, um den wahren Wert von Frieden zu verstehen. Und er genoss es zu lachen, in diesen Momenten vergaß er die Verantwortung die auf seinen Schultern ruhte.
Nach einer Weile spielte sogar Sjavkonhkar mit, der sich bisher meistens abseits von den übrigen gehalten hatte. Er zeigte ihnen auch eine andere Variante, die in seiner Heimat verbreitet war. Dabei wurde ein Knöchelchen hochgeworfen und bevor dieses auf dem Boden auftraf, mussten möglichst viele der übrigen Knöchelchen aufgesammelt werden. Nach dem Spielen saßen sie noch einige Zeit beisammen und erzählten sich Geschichten über ihre Heimat. Hjorgcai erzählte die Geschichte vom Murmeltier, dass die Sonnen abschießen sollte, die letzte aber verfehlte, so dass von nun an eine Sonne am Horizont stand. Vielleicht wurden sie nun tatsächlich, obwohl sie aus so verschiedenen Kulturen stammten, eine Gemeinschaft.
Sie brachen das Lager am nächsten Morgen ab, obwohl Hjorgcai immer noch vor Schmerzen stöhnte, sie diese aber nie offen zugeben würde. Tabita verschnürte ihr Bündel au dem Rücken ihrer Stute und wollte grade nach dem Bogen greifen, als ihr einen leere Decke entgehen fiel.
„Wo...?“. Sie starrte die leere Decke an und drehte sich um. Doch der Bogen war fort, verschwunden.
„Der Bogen ist weg.“, meinte sie zu den anderen mit zitternder Stimme.
„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“, Hjorgcai schrie fast.
Tabita überlegte fieberhaft. Wann hatte sie zuletzt die Zeichen betrachtet, über die Hornstreifen gestrichen?
„Am Abend, wo wir angekommen sind.“, erwiderte sie schließlich.
„Dann hat der Khan ihn.“, Narichre sah zu ihr hinüber, „Es waren seine Reiter.“.
„Nein.“. Hjorgcai starrte in den Wald, „Es waren nicht seine Reiter, es waren die Reiter von Hes-Argan. Dieser Akzent gehörte zu den südlichen Stämmen und ihre Pferde waren Wüstenpferde.“.
„Vielleicht waren es doch die Männer Arygans. Er hat südliche Männer in seinen Diensten und Pferde...“, versuchte Tabita zu erklären.
„Nein, ich bin mir sicher.“. Hjorgcai duldete keine Widerworte.
„Wir müssen den Bogen zurückbekommen!“, Joshua hielt sein Schwert fest.
„Hes-Argan ist nicht Arygan, Joshua. Er ist ein Mann mit Arygans Wahnsinn und Esrens strategischer Weisheit.“.
„Dann wird das ja nicht besonders schwierig. Wo ist sein Lager?“, fragend sah Joshua sie an.
„Er wollte in das Lager des Khans wechseln und dort nach dem Rechten sehen.“, erklärte Hjorgcai, „Es ist Wahnsinn, aber wir müssen es wenigstens versuchen.“.
„Ist es das?“. Aufgeregt zeigte Nönle auf das Lager, das sich vor ihnen ausbreitete.
Temudschin nickte und tätschelte seinen Hengst.
Sie führten ihre Tiere zu den Übrigen, den Tieren des Khans, die auf den Steppen das karge Gras fraßen.
„Wir füttern eure Pferde aber nicht durch!“, rief eine Stimme. Nönle sah die Frau an, die zwischen den Pferden aufgetaucht war.
„Wir möchten zu Arygan Khan.“, erklärte sein Bruder ruhig, während er seinem Pferd das Gepäck abnahm.
„Zu wem sonst?", die Frau seufzte, "Hes-Argan ist im Moment bei ihm.“.
„Hes-Argan? Sehr gut! Führst du uns zu ihnen?.“.
Die Frau nickte: „Wenn ihr mir eure Namen nennt?“.
„Ich bin Temudschin und das ist mein Bruder Nönle. Wir sind Söhne Batus.“.
„Die Brüder von Hjorgcai? Ich bin Lonke.“.
Lonke führte sie durch das Lager, das Nönle aufmerksam betrachtete. Es war so viel größer, als das seines Vaters. Doch die Menschen besaßen dasselbe dunkle Haar und die mandelförmigen Augen, wie sie sie auch in seiner Heimat trugen. Die Klänge einer Pferdegeige hallten durch das Lager und Nönle entdeckte das vertraute Instrument.
Bei einer Jurte hatte sich eine Menschenmenge versammelt.
„Die Namensgebung von Knöllchen, der Tochter von Barytjun.“, erklärte Lonke auf Nönles fragenden Blick. Nönle nickte und kam sich auf einmal unglaublich alt vor. Fünf Winter waren seit seiner eigenen Namensgebung vergangen, wo er den Kosenamen Mollchen abgelegt hatte und seinen Namen Nönle bekommen hatte. Sein Haar war zur Feier geschnitten wurden und an die Verwandten verteilt wurden, da die Strähnen Glück bringen sollten.
Als sie bei der Jurte von Arygan Khan ankamen, winkte die Aweynche ihnen noch einmal zu und dann verschwand sie wieder.
Temudschin ging vor und Nönle folgte ihm, wobei er darauf achtete die Schwelle nicht zu betreten. Drei Männer saßen auf der Männerseite der Jurte. Hinten rechts, auf einem Platz, der einem Ehrengast reserviert war, saß ein Mann, den Nönle als Taidschie identifizierte. Er war größer als ein gewöhnlicher Aweynche und schien tatsächlich fremdes Blut in seinen Adern zu tragen, wie man es sich bei ihm zu Hause erzählte. Links neben ihn saß der Khan Arygan, ein Mann, der sich sichtlich unwohl in der Gegenwart von Hes-Argan zu fühlen schien. Neben ihm saß ein jüngerer Mann, wohl Egyran, jener Mann, den Hjorgcai geheiratet hatte. Nönle betrachtete alles neugierig, bis auf die Größe ähnelte es der Jurte seines Vaters.
„Mein Khan und mein Taidschie.“, begann Temudschin, „Ich bin Temudschin, Batus Sohn und diese ist mein Bruder Nönle. Wir sind gekommen, um euch zu sagen, dass bei unserem Dorf einer von jenem Volk angespült wurde, die sich selbst Elben nennen. Doch er konnte entkommen, obgleich er schwer verwundet war.“.
„Wir wissen, dass Elben an unsere Küste angelandet sind. Sie waren vor wenigen Tagen in unserem Lager. Eure Schwester hat ihnen zur Flucht verholfen und ist mit ihnen auf dem Weg nach Sahres.“, erklärte der Khan und der Spott in seinen Worten brachte die Wut in Nönles Herzen zum Glühen.
Seine Schwester? Was machte sie mit Elben zusammen? Er konnte es nicht fassen. Seine Schwester würde doch nie ihr Volk verraten. Sie war doch seine Schwester.
„Ihr könnt gehen. Wir haben euren...Bericht zur Kenntnis genommen.“, meinte Arygan.
„Wartet.“, Hes-Argan winkte ab. „Bringt eurem Vater diesen Brief.“. Er reichte Temudschin einen Brief. Dann traten die Brüder hinaus.
„Glaubst du das? Das mit Schwester?“, fragte Nönle leise.
„Wenn es ihren Interessen dient, würde sie es durchaus tun. Und dennoch irgendwas stimmt an dieser Sache doch gewaltig. Wieso lässt der Khan Elben einfach so durch unser Land ziehen? Ich verstehe es nicht!“. Temudschin sah stirnrunzelnd zu der Jurte zurück, „Komm wir reiten zu Vater zurück. Der Auftrag ist erfüllt.“.
Nönle nickte und wandte sich um. Dieses Lager gefiel ihm nicht. Zu viele Geschichten und Schicksale wurden hier gesponnen, zu viele Entscheidungen getroffen. Es war Zeit, nach Hause zurück zu kehren.
„Was war das?“. Hjorgcai hielt ihr Pferd an und starrte die anderen an.
„Ich habe nichts gehört.“. Tabita zuckte mit den Schultern.
„Ich aber, und das waren keine Freudenschreie.“, entgegnete Sjavkonhkar, der wie immer in seiner Löwengestalt neben ihnen her lief.
„Nein, das waren sie nicht.“.
Hjorgcai trieb ihre Stute noch mehr an und diese raste jetzt über den Steppenboden. Tabita bemühte sich, zu der Aweynche aufzuschließen, aber entweder hatte diese ein viel schnelleres Pferd oder Tabita sprach mit ihrer Stute nicht in der richtigen Sprache. Vorsichtshalber zog sie ihre Partisane, wer konnte ihr schon sagen, was sich in der Senke verbarg, in die Hjorgcai geritten war?
Doch Hjorgcais Stute stand einsam da, achtlos zurückgelassen, was für die Aweynche äußerst ungewöhnlich war. Diese saß in der Senke und hielt einen Körper in ihren Armen. Tabita sah zu den anderen. Vorsichtig ritt sie hinunter, sie war diejenige, die sich am Besten mit Medizin auskannte. Sie sprang vom Pferd und ließ dieses ebenso zurück wie Hjorgcai es getan hatte.
Als die Aweynche sie erkannte, waren in ihren Augen keine Tränen und Tabita bewunderte unwillkürlich ihre Standfestigkeit. Es waren zwei Gestalten, die hier lagen. Das, der Ältere der beiden tot war, erkannte sie mit einem Blick. Der Jüngere dagegen lag mit dem Kopf in Hjorgcais Schoß und lebte noch. Es war ein Junge, ein Kind. Tabita schätzte ihn auf neun Jahre. Sein dunkles Haar war mit Blut verschmiert, die Augen waren geschlossen, aber der Funke des Lebens rann noch durch seine Adern.
„Dies sind meine Brüder.“, erklärte die Aweynche. Das Zittern in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Tabita beugte sich über den Jungen. Er lebte, aber sie war sich bewusst, dass sie nichts mehr für ihn ausrichten konnte. Mehrere tiefe Wunden befanden sich in seiner Bauchgegend und es wäre ein Wunder, wenn keine Organe verletzt worden wären. Sie legte Hjorgcai die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. Diese richtete sich auf und griff nach ihrem Dolch.
„Dein Name ist Nönle und er wird nicht in Vergessenheit geraten. Ich werde deinen Tod rächen.“. Sie zog ihr Messer über seine Kehle und beendete sein Leiden.
Die Aweynche legte ihre Brüder nebeneinander und schloss ihnen sanft die Augen. Ihr Bein musste schmerzen, aber Tabita war bewusst, dass sie keine Hilfe annehmen würde. Sie zog Feuersteine aus ihrem Beutel und entflammte die Kleidung der beiden. Tabita wandte sich ab, sie wollte nicht sehen, wie die bis vor kurzem noch so lebendigen Brüder Hjorgcais, verbrannten. Hjorgcai blieb lange in der Senke. Als sie an der wartenden Gruppe vorbei ging, schwieg sie. Aber Tabita hatte die lodernden Flammen des Hasses in ihren Augen gesehen, Hass, der stärker als die Trauer war.
Sjavkonhkar trat zu Tabita.
„Ich weiß wie vernichtend Raubtierwunden sind, Tabita, aber ich sage dir, dass diese von menschlichen Händen stammen.“.
Er sah zu Hjorgcai hinüber, die ihren Bogen gespannt hatte und Pfeile in den Himmel schickte.
„Was tut sie da?“, fragte Tabita leise, obwohl sie die Antwort zu kennen glaubte.
„Sie übt.“, erklärte der Sphinx, „Ich habe festgestellt, dass die Aweynche meinem Volk in ihrem Denken ähneln und ein Sphinx würde die Ermordung eines Familienmitglieds mit einem Zweikampf auf Leben und Tod rächen, sofern sie den Mörder kennt. Ich weiß nicht, ob der Kampf dem unseren ähnelt, aber sie wird kämpfen, das weiß ich.“.
„Wir müssen ihr das ausreden!“. Tabita wollte zu der Aweynche auf den Hügel stapfen, aber Ascarnas Bruder hielt sie fest.
„Dann würde sie dich töten.“.
Sie hielt inne und schwieg. Was sollte sie auch tun?
Nach diesem Fund schien all die Freude aus ihrer Gemeinschaft verschwunden zu sein. Hjorgcai hatte kein auf der restlichen Reise hatte kein einziges Wort mit den anderen gewechselt, sie hatte nur vor sich hingestarrt und leise gemurmelt. Es war die Kälte und Schweigen, die ihre Gemeinschaft prägte, nicht mehr das Lachen, wie vor einigen Tagen. Die Aweynche beteiligte sich nicht mehr an den Gedanken der anderen, sie schien selbst zu einem Geist geworden zu sein, einem Geist, der nur noch vom Hass und dem Feuer der Rache angetrieben wurde.
Sie erreichten das Lager Arygans am nächsten Morgen gegen Mittag. Der Plan heimlich den Bogen zu stehlen, war vergessen. Mit Hjorgcai zu reden, wäre wahrscheinlich sinnlos gewesen. Die Menschen um sie herum tuschelten, natürlich war Hjorgcais Fehlen nicht unbemerkt geblieben. Dieses Mal ritt sie nicht zu der Jurte des Khans, sondern zu einem offenen Platz, wo sich mehrere Aweynche versammelt hatten. Vorne auf einem geschnitzten Stuhl saß Arygan Khan. Tabita beobachtete wie Hjorgcai sich einen Platz durch die Menge drängte, ohne von ihrem Pferd zu steigen. Sie blieb vor Ihrem Schwiegervater stehen.
„Ich fordere Arygan Khan zum Zweikampf heraus und bezichtige ihn des Mordes an Nönle und Temudschin, die Söhne von Batu und meine Brüder.“.
Ihre Worte brachten die Menschenmenge zum Schweigen, kalte Stille, kalt und tödlich.