Langsam drehten sich die Menschen um. Sie wandten sich zu ihr um. In einigen Augen sah Hjorgcai Bewunderung, in anderen Angst, in wenigen Hass, aber die Augen, die sie am meisten interessierten, waren die von Arygan. Dieser sah sie an und nickte.
„Ich sage dir, dass ihr Tod nicht mir zu schulden kommt, aber ich bin bereit, deine Herausforderung anzunehmen.".
Hjorgcai zweifelte nicht an ihrer Entscheidung. Wenn nicht er, wer dann? Wenn ihre Brüder tot waren, würde das Reich ihres Vaters an sie gehen und damit auch an Egyran. Natürlich hatte er das geplant, so klug war er.
„Die übliche Strecke?".
„Die übliche Strecke.", bestätigte er.
Hjorgcai wendete ihre Stute und ritt durch die Menschen, die eine Gasse gebildet hatten, hinaus. Sie würde ihre Brüder rächen. Nönle und Temudschin. Leise wisperte sie ihre Namen. Sie hatte sie nicht mehr gesehen, seitdem sie aus dem Lager ihres Vaters aufgebrochen war und das war vor zwei Monaten gewesen. Sie brachte ihre Stute zu den übrigen Pferden, damit sie sich dort erholte. Dieses Pferd war das Beste, was sie je geritten hatte und es würde ihr auch im Kampf gegen Arygan gute Dienste leisten.
Sie tätschelte ihre Stute ein letztes Mal, dann wandte sie sich um und ging zu den anderen zurück. Tabita, Narichre, Sjavkonhkar, Joshua und Darl Schattenklinge. Sie würde mit ihnen nach Cesing reisen, sobald sie den Bogen wieder hatten und ihre Brüder gerächt waren. Sie betrachteten sie vorsichtig, als ob sie Angst vor ihr haben mussten!
„Woraus besteht der Kampf?", fragte Tabita vorsichtig und Hjorgcai konnte die Angst in ihren Augen lesen.
„Ein Wettrennen.", erwiderte sie knapp.
„Und was geschieht mit dem Verlierer?".
„Er wird aus seinem Lager und seiner Familie verstoßen.".
„Ihr kämpft nicht auf Leben und Tod?".
„Habe ich doch grade gesagt, oder?". Langsam wurde Hjorgcai wütend. Sie verstand nicht, wieso Tabita sich so um sie sorgte. Sie war es nicht gewöhnt, dass jemand sich so sehr um sie kümmerte und sie wollte es auch nicht. Sie hatte es bisher immer geschafft, alleine klar zu kommen und das sollte auch so bleiben.
„Überlegt lieber wie wir den Bogen wiederbekommen, anstatt euch um mich Sorgen zu machen.", fauchte sie, dann ging sie davon. Es war Zeit ein Gespräch zu führen. Sie fand Felsenfaust auf einem Stein am Rande des Lagers sitzend. In der Hand hielt er ein Messer und schnitzte. Sie setze sich ihm gegenüber auf den Boden.
„Du warst nicht bei dem Angriff dabei, oder?".
„Welcher Angriff?".
„Dachte ich es mir doch. Der Angriff war nicht von Arygan, ansonsten hätte er dich mitgeschickt, also Hes-Argan.".
Felsenfaust nickte. Sie sah seinen Augen an, dass er wieder ihre Gedanken gelesen hatte.
„Hes-Argan hat zwei Nalinow mit in das Lager gebracht.", bestätigte er ihren Gedanken.
„Dann sollte ich also glauben, dass du es warst und du, dein Abbild, sollte mich ablenken, damit ich nicht auf den Bogen achte. Es war eine gezielte Irreleitung, jemand versucht uns auseinander zu bringen.".
„Und du bist sicher, dass es Hes-Argan war?".
„Weißt du es nicht?".
„Hjorgcai. Ich vermag es deine Gedanken zu lesen, weil ich dich kenne, aber der Taidschie ist mir fremd.".
Sie lächelte. „Ich weiß es dennoch.".
Sie stand auf.
„Ich muss mich jetzt, auf die Herausforderung vorbereiten. Ich bin froh, dich als meinen Freund bezeichnen zu dürfen und hoffe, dass unsere Wege eines Tages erneut zusammen treffen.".
„Das hoffe ich ebenfalls, Hjorgcai.", erwiderte er und fügte dann hinzu: „Ein gutes Pferd und eine weite Ebene.". Sie lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln, denn dies war ein Abschiedsegen. Sie glaubte nicht, dass sie ihn wieder sehen würde.
Einen Moment stand sie da, nicht wissend, was sie jetzt tun sollte. Aber dann ging sie davon und ließ ihn zurück, den Einzigen aus diesem Lager, den sie jemals als Freund bezeichnet hätte.
Hjorgcai ging durch das Lager, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wusste nur, dass sie Ruhe brauchte, um ihre Gedanken zu ordnen. Um den Zorn zu vergessen und die Vernunft ihr Denken zu übernehmen lassen. Sie wusste, wie vernichtend Hass sein konnte, aber der Kampf gegen Arygan sollte von Vernunft geprägt sein. Sie trat aus dem Lager heraus und in die Steppen. Der kalte Wind riss an ihrer Kleidung, aber er pustete auch ihre Gedanken durch.
„Du hättest auch einen Gerichtsentscheid durchführen können.". Hjorgcai zog einen Dolch und wirbelte herum. Hes-Argan erhob blitzschnell einen eigenen Dolch und wehrte so ihren Dolch ab.
„Arygan ist der Richter, das wäre ziemlich parteiisch gewesen.", entgegnete sie dem Taidschie. Sie drückte seine Klinge zur Seite und zauberte eine weitere Klinge aus ihrem Ärmel, die sie ihm an die Kehle hielt. Nur eine Sekunde später drückte sich kaltes Metall gegen ihre Kehle.
„Und deinem Urteil traue ich noch weniger, Taidschie.".
Er ignorierte die Respektlosigkeit, die sie ihm gegenüber ausdrückte, da gewöhnlich der Ältere den Jüngeren duzte und nicht umgekehrt.
„Du bist klug, Hjorgcai und du bist eine gute Kriegerin.".
„Zu klug für dich?".
„Ich möchte dich als Freundin nicht als Feindin.".
„Weil mein Vater dein Schwurbruder ist?".
„Nein, weil ich dich brauchen kann.".
„Und wofür?".
„Ich möchte den Richter bei dem Rennen spielen, damit ich sehe, ob du mir vertraust.".
„Vertrauen ist das größte Geschenk, das es unter Schwurbrüdern geben kann.", erwiderte Hjorgcai, dann nickte sie. Lieber wusste sie, wo ihr Feind war, als das er sich vor ihren Augen verbarg. Und er war ihr Feind und das wussten sie beide. Sie war zu klug für seine Pläne, zu unberechenbar und so konnte es keine Freundschaft zwischen ihnen geben.
Immer noch standen sie still da, wie die Statuen, die die Sebetjh so gerne in ihren Städten aufstellen. Keiner von ihnen wagte es, das Messer als Erstes sinken zu lassen. Schließlich senkte Hjorgcai ihren Arm und trat gleichzeitig einen Schritt zurück, um aus der Reichweite seines Dolches zu gelangen. Er würde sie nicht hier und jetzt töten, natürlich nicht. Aber wenn sie einsam und aus ihrer Heimat verbannt durch die Steppe reiten würde, dann wäre sie hilflos gegenüber eine Gruppe von Gegnern.
Sie sah sich zu ihm um. Er besaß die kräftige Statur eines Kriegers, doch er war mehr als das: Er war ein Stratege. Und er war eine Gefahr, die es zu bannen galt. Eines Tages würde sie die Macht des Taidschies wieder dem Khan zurückgeben, eines Tages. Sie wandte sich um und betrachtete die Steppe. Heute Abend würde ihr Sieg sie einen Schritt näher an das Ziel der Einheit bringen. Die weite Steppe sollte wieder vom Khan regiert werden und nicht von einzelnen Stämmen, die sich gegenseitig bekriegten und dem Taidschie statt dem Khan, dem rechtmäßigen König, Abgaben zahlten. Heute Abend würde es einen Sieg zu feiern geben.
Am Abend versammelte sich fast das gesamte Lager am Start- und Endpunkt der Strecke. Hjorgcai war auf ihre Stute gestiegen. Sie sah zu Arygan hinüber, der ebenfalls bereit auf seinem Hengst saß.
„Bereit?", fragte Hes-Argan die beiden Kontrahenten. Hjorgcai gefiel es nicht, dass er den Richter spielen würde, aber er war nun einmal der Taidschie und da konnte man ihm dieses Recht nicht verwehren. Noch nicht zumindest. Sie nickte ihm zu.
„Ihr kennt den Weg?".
Ungeduldig nickte sie erneut. Das Ziel war es zuerst wieder hier zu sein und dabei eine tote Bergziege mitzunehmen, die in einem Platz im Terchai-Gebirge deponiert war.
„Dann los.".
Hjorgcai trieb ihre Stute an. Sie konzentrierte sich nur noch auf die jagenden Pferdehufe unter ihr und das Rauschen des Blutes in ihren Ohren. Sie wusste nicht, wie sie dieses Gefühl beschreiben sollte. Es war wie...wie fliegen. Keine Grenzen zu wissen, niemand, der sich ihr in den Weg stellte. In diesem Moment schienen all ihre Träume zu greifbaren Möglichkeiten zu werden, in diesem Moment, wo alle Hindernisse in weite Ferne rückten. Ihr Kopf war leer von Hass und Ärgernis, sondern ruhig und sich ihrer selbst sicher. Sie wusste, was sie zu tun hatte, wo ihr Weg verlief. Die Möglichkeiten lagen klar vor ihr ausgebreitet, sie musste nur den richtigen Pfad wählen.
Die Steppe flog an ihr vorbei, die Farben vermischten sich zu einem einzigen Mischmasch, sie wurden unwichtig. Hjorgcai sah nicht zu Arygan, er war nicht vor ihr und das waren ihr genug Informationen. Sie klammerte sich in der Mähne fest, es war zwar selten, dass sie vom Pferd fiel, aber das wäre ihr Ende. Nicht nur wären der Geschwindigkeit, aber ein Sturz bei einem Wettbewerb oder in einer Schlacht war die schlimmste Schande, die einem Aweynche passieren könnte. Dann wären ihre Pläne für alle Zeit in die Erde gestampft, unwiederbringlich verloren.
Das Terchai-Gebirge tauchten in ihrem Blickfeld auf, graue, zerklüftete und zigfach gefaltete Berge, über denen die Sonne grade unterging. Der Himmel war in leuchtende Töne getaucht, rot, lila und blau. Hjorgcai wandte den Blick von dem Landschaftsbild ab und konzentrierte sich auf die wirbelnden Hufe ihres Pferdes. Das Ziel war es nur die Bergziege zu holen, es war egal, wo lang sie ritten. Bisher hatte sie ihre Stute einfach nur laufen lassen, jetzt lenkte sie ihr Pferd in eine parallele Linie zum Gebirge, bis sie den Chejan erreichte, einen kleinen Fluss, der das Lager Arygans mit Frischwasser versorgte. Hier führte ein Tierpfad in das Gebirge und in einen kleinen Wald. Der Weg stieg an und wurde von Felsen gesäumt. Die Hufe wirbelten Steine auf und obwohl die spitzen Steine ihre Stute Schmerzen mussten, rannte sie unbeirrt weiter. Oh ja, ihre Stute verdiente einen Namen. Der Schrei eines Adlers hallte durch das Gebirge und ein Schatten verdeckte für einen Moment die Sonne. Vielleicht konnte sie hier ja einen Adlerhorst finden und einen für die Jagd aufziehen. Sie erreichte einen kleinen Wald. Die Kiefern drängten sich an die Felsen und klammerten sich mit ihren Wurzeln in den dürren Boden. Zweige schlugen ihr ins Gesicht und Hjorgcai parierte ihre Stute leicht durch, sie würden die Kräfte für den Rückweg benötigen. Sie verließ den Wald und ritt in eine Schlucht. Zu beiden Seiten ragten die Berge hoch und versperrten größtenteils den Blick auf die Sonne. Ihre Stute sprang über einen ausgetrockneten Bach und scheuchte dadurch einen Hasen auf. Sie sah sich um, irgendwo hier führte ein Pfad höher in das Gebirge. Sie folgte dem Lauf der Schlucht und traf auf eine Felswand. Fluchend wandte sie sich um und ritt zurück. Endlich fand die den Pfad, der sie weiter in das Gebirge führte. Verschlungenen presste er sich an die Felswand. Sie wendete ihr Pferd mehrmals zwischen Felsnasen und endlich tauchte der Platz vor ihren Augen auf, wo die beiden Bergziegen deponiert waren, nur das es jetzt nur noch eine war. Weiter unten erkannte sie aber noch eine Gestalt, die einen Hohlweg entlang jagte. Hjorgcai sprang vom Pferd und warf die tote Bergziege auf den Rücken des Tieres. Arygan Khan war schneller gewesen als sie, er hatte eine ihr unbekannten Weg gewählt. Hjorgcai parierte ihr Pferd durch und stand für einen Moment stocksteif da. Mit Schnelligkeit würde sie den Khan nicht mehr einholen, selbst wenn sie den gleichen Weg wie er ritt, wäre er immer noch schneller und sich auf die Schnelligkeit ihrer Stute auf dem Ritt durch die Steppe zu verlassen, nein.
Nachdenklich sah sie den See an, der unter ihr glänzte und an dem Arygan vorbei kommen müsste. Es war wahnsinnig, aber eine Chance. Damit sie ihren Plan nicht selbst verwarf, trieb sie ihre Stute über die Klippe. Der Wind rauschte in ihren Ohren, als sie im freien Fall auf den See zuhielt. Für einen Moment war es wunderbar, so im freien Fall zu schweben. Hjorgcai nahm ihre Füße aus den Steigbügeln, presste sich aber dennoch an den Pferderücken. Der Aufprall war härter als sie erwartet hatte, aber ihre Stute fand relativ bald wieder festen Boden unter den Beinen. Das Wasser durchdrang ihre Kleidung und Hjogcai war froh, dass sie ihren Bogen jetzt nicht bei sich trug. Wasser zerstörte Bögen so leicht...sie trieb ihr Pferd aus dem Wasser und lenkte es auf den Pfad zu. Ihre Ziege hatte sie im Wasser verloren, aber es war nicht verboten, die des Gegners zu stehlen. Schon bald drangen Pferdehufe durch das Gebirge und Hjorgcai ließ ihre Stute antreiben, damit diese direkt weiter galoppieren konnte. Arygan Khan preschte an ihr vorbei, vielleicht hatte er sie gesehen, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall hatte er nicht die Zeit um anzuhalten. Hjorgcai ritt von hinten an ihn heran und griff nach der Ziege auf dem Rücken seines Pferdes. Sie lehnte sich zur Seite, um das fehlende Gewicht auszugleichen und nicht aus dem Sattel zu fallen und warf die Ziege vor sich auf den Sattel. Arygan schien nicht bemerkt zu haben, dass sie seine Ziege hatte, aber nun hatte er sie bemerkt. Vor ihnen tat sich die Steppe auf und Hjorgcais Stute verfiel wieder in ihren rasenden Galopp. Arygans Hengst folgte ihr jedoch dicht an dicht und machte ein Abhängen unmöglich. Die Hufe der Pferde trommelten über die Steppe und machten damit die uralte Musik der Reiter. Es war das Lied, das den Aweynche am liebsten war: der Gesang der Pferdehufe.
Es existierte nur noch die Steppe und ihr Pferd, selbst Arygan würde unwichtig, obwohl ihre Pferde nun Kopf an Kopf rannten. Das Blut pulsierte in ihren Ohren und lauschte nur noch auf den Klang der Freiheit.
Vor ihnen tauchte die versammelte Menschenmenge auf und Hjorgcai trieb ihre Stute noch mehr an. Sie sah die Gesichter von Tabita, Joshua, Felsenfaust und von Hes-Argan. Er lächelte. Im selben Moment brach Arygans Hengst ein und er fiel zu Boden. Hjorgcai hielt ihr Pferd ebenfalls an und ritt zu dem gefallenen Khan. Blut befleckte das Gras und die Felsen, aber es war nicht von dem Ritt. Der Dolch war der Grund, der ihm aus der Brut ragte. Unfähig sich zu bewegen, starrte sie den Dolch an. Das der Khan tot war, störte sie nicht sonderlich, aber es war ihr Dolch, der das Blut verursacht hatte...