Der Himmel war rot wie Blut als Nian im Palast ankam. Das Rot spiegelte sich in den Teichen der kaiserlichen Gärten und malte fantastische Bilder. Nur, dass all dies Nian nicht interessierte. Sie wollte nur noch ein Bett und ein Bad, um all die Gerüche der Stadt abzuwaschen. Die Wachen ließen sie ohne Probleme eintreten. Im Palast war es still, ein paar Diener liefen durch die Flure. Aber sie machten kaum Geräusche, nur leise Schritte. Die Gespräche waren in diesen Fluren verstummt, hier regierte nur die Stille. Nian mochte die Stille nicht. Sie kam ihr immer so unwirklich vor und sie hatte immer da Gefühl, dass gleich etwas geschehen würde. So konnte sie sich nicht konzentrieren, sie brauchte Geräusche um sich herum. Den Lärm von Menschen, Schwerterklirren. Die Stille machte ihr Angst.
Nian schritt in ihre Gemächer, die sich in einem Trakt der allein für die oberste Heerleitung reserviert war, befanden. Es waren nur ein Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer, doch Nian reichte es vollkommen. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und chiffrierte eine Nachricht an Acheving, der den Palast im Morgengrauen verlassen hatte. Die Grenzfestungen von Teyon mitsamt der Wälle wollte er besichtigen und die Befestigungen dort überprüfen, da immer mit einem Angriff der Aweynche zu rechnen war. Nian verschob das Alphabet mehrmals, wobei sie verschiedene Alphabete nutzte und machte den Inhalt des Briefes für Fremde, die nicht wussten wie verschoben worden war, unleserlich. Sie berichtete darin über ihre Erlebnisse und ihre Erfolge, den gleichen Brief schickte sie auch der Kaiserin. Dann fiel sie ins Bett. Der nächste Abend würde noch anstrengender werden. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass sie von nun an in zwei Welten lebte. Der Welt der Kaiserin und des Palastes und die der unzufriedenen, der des gewöhnlichen Volkes und der Rebellen. Nian betrachte die Karten, die die Wände schmückten. Die Rebellen hielten mehrere Städte im Norden und im Osten, während die Gebiete im Westen komplett unter Kontrolle der Kaiserin waren und der Süden zum größten Teil. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. All die Müdigkeit und die Erschöpfung waren verschwunden. Die Angst kam nicht, dazu war Nian viel zu berechnend und zu erfahren. Aber das hatte keiner von ihnen gesehen, selbst ihr war es jetzt erst aufgefallen. Sie sprang auf und rannte zu der Karte, die die Truppenstellungen verzeichnete. Ihre Finger fuhren sorgfältig über die Karte und in den Norden an den Fluss Nai, der die Grenze zu den Ländern der Gandijol bildete. Die Festungen am Fluss Nai waren die einzigen, die die Rebellen im Nordwesten hielten, doch zwischen ihnen und dem Fluss befand sich eine Garnison. Eine Garnison, die jetzt in Gefahr geriet eingekesselt zu werden. Denn die Rebellen schienen sich mit dem Volk der Gandijol verbündet hatten. Nian zog erschrocken die Luft durch die Zähne. Drei Tage, drei Tage benötigte eine Nachricht in der Regel. Aus der Stadt Resingr zogen die Gandijol in Richtung Nai und die Rebellen schlossen von Süden die Falle. Die Garnison wäre verloren und das konnte sich die Kaiserin nicht leisten.
Nian durchblätterte fieberhaft ihre Aufzeichnungen und fand schließlich die Beschreibung über die Garnison am Nai. Zwölftausend Mann lagerten dort und das waren nicht wenig, ihr Oberbefehlshaber war Naichie. Nian wurde ruhiger. Naichie war jemand, dem sie vertrauen konnte. Der die Lage in den Griff bekommen konnte. Nian ging zum Schreibtisch, tauchte die Feder in die Tinte und reihte die Zeichen erneut aneinander, die Zeichen, die Naichie warnen sollte. Ihre Hand war zu langsam für ihre Gedanken. Nian hasste es jedes Mal, dass sie nicht schnell schreiben konnte, aber sie war zu stolz und zu vorsichtig sich einen Schreiber anzuschaffen. Sobald sie fertig war, schrie sie nach einem Boten. Es war ihr egal, ob sie die anderen störte. Es war alles egal, solange nur der Brief rechzeitig ankam. Danach trat sie erneut vor die Karten und überlegte von wo sie Truppen an den Nai verlegen konnte. Doch alle Möglichkeiten waren zu bald verworfen, unmöglich. Die einzige Stadt in der Nähe, die über genug Soldaten verfügte, war Milon und diese benötigte die Männer aufgrund der Rebellen selbst. Sie konnte Naichie nicht helfen, dies war sein Problem und er musste sich selbst helfen.
Naichies Augen flogen über das Papier, er war ein langsamer Leser und er wollte schneller sein, als er konnte. Sobald er die Nachricht von Nian verstanden hatte, sprang er auf und verließ das Zelt. Er war niemand, der leicht aufgab und er war jemand, der immer noch Wege sah, wenn alle schon aufgegeben hatten. Eine Kapitulation kam nicht in Frage, er hatte sich noch nie ergeben und er würde auch nicht damit beginnen. Naichie schritt durch das Heerlager und betrachtete die Soldaten bei der Arbeit, während er nachdachte. Zwei Männer führten Pferde an ihm vorbei, ein weiterer schnitzte neue Pfeile und eine andere Gruppe hatte sich zum Übungskampf versammelt.
Sie könnten dem Heer der Rebellen entgegen ziehen, aber dann würden sie dem Heer der Gandijol die Möglichkeit geben, den Fluss zu überqueren, so dass sie von beiden Seiten umkreist sein würden. Noch überquerten die Gandijol den Fluss nur nicht, weil seine Garnison hier stand und seine Garnison war stark befestigt, so dass sich ihr Heer an ihren Mauern aufreiben würde. Naichie müsste den Fluss eigentlich verlassen und gleichzeitig musste er bleiben. Beide Möglichkeiten waren gefährlich. Naichies Augen blickten erneut zu dem Mann mit dem Bogen. Der Bogen war eine Waffe, die in den Augen der obersten Heerleitung verpönt war, es war eine Waffe des Volkes, der Armen, keine Waffe, die sonderlich viel im Heer taugte. Immer wenn Naichie diese Argumente Laos hörte, würde er ihn am liebsten fragen: Und wieso sind die Aweynche dann so erfolgreich? Sein Volk hatte in den letzten Jahrhunderten nichts dazu gelernt und war so stolz geblieben wie zuvor. Waren es denn nicht ihre Bögen und ihre Pferde, die das Volk der Aweynche so gefährlich machte? Und vielleicht konnten eben diese Bögen ihnen die Rettung bringen...Ein Plan nahm in Naichies Kopf Gestalt an. Ein Plan, den die oberste Heerleitung sofort abgelehnt hatte, aber die ihm und seinen Männern den Hals retten konnte.
Morgen würde das Heer der Rebellen hier eintreffen, ihnen blieb nur noch dieser Tag. Einen Tag, den er nicht ungenutzt verstreichen lassen würde. Naichie trat auf den Bogenschützen zu.
„Wie ist dein Name?", fragte er.
„Hao.".
„Zeigst du mit deine Kunst, Hao?".
Hao nickte und stellte sich auf. Er zog einen Pfeil aus einem bereitstehenden Köcher und legte ihn ein. Er zog die Sehne nach hinten und Naichie bewunderte die Präzision mit der er das tat. Wie viel Kraft ein Bogenschütze aufwenden musste um die Sehne zu spannen und den Pfeil fliegen zu lassen. Es war nicht minder anstrengend als ein Schwert zu führen, es war anders anstrengend. Hao ließ die Sehne los und der Pfeil schwirrte durch die Luft und bohrte sich in eine Zielscheibe.
„Guter Schuss.". Naichie klopfte dem Sebetjh auf die Schulter. „Ich erwarte dich in zwei Stunden.".
Hao fragte nicht nach dem Grund. Naichie konnte es ihm auch nicht sagen, seine Pläne waren noch nicht reif für die Öffentlichkeit. Außerdem hätten ihn seine Berater für verrückt erklärt. Den restlichen Nachmittag saß Naichie in seinem Zelt. Er brütete über Truppenstärken, Versorgungswege und die Bogenschützen. Die Bogenschützen würden die Hauptrolle in seinem Verrückten Plan spielen. Stundenlang blieb er sitzen. Er rührte den Wein nicht an, den seine Berater ihm hatten bringen lassen. Ebenso wenig beachtete er die Briefe, die die Siegel der Rebellen und die der Gandijol besaßen. Eine Kapitulation war nicht einen Moment als möglicher Weg erschienen. Mürrisch starrte Naichie seine Dao an, er würde seine Feinde schon zu vertreiben wissen. Am frühen Abend kam Hao an.
„Ich möchte, dass du die Leitung über die Bogenschützen übernimmst. Sobald eine Truppe von Schwertkämpfer die Wachen der Gandijol getötet haben, werdet ihr das Lager beschießen. Sie haben keine dicken Panzer und werden leicht durch Pfeile zu töten sein. Damit kämpft ihr uns den Weg nach Norden frei und wir könnten dem Heer der Rebellen über den Fluss ausweichen, ebenfalls können wir unsere Kräfte dadurch auf das Rebellenheer konzentrieren.“. Naichie sah den Bogenschützen an.
„Das ist gut.“, nickte Hao, „Wir haben nur nicht viele Bogenschützen.“.
„Weißt du eine bessere Möglichkeit?“, gab Naichie ungerührt zurück.
Natürlich wusste Hao keine bessere, es gab ja auch keine.
Ohne seine Berater und seinen Stab zu informieren teilte Naichie die Truppen ein. Er hatte keine Lust und keine Zeit auf die Streitereien, die es immer gab. Die Dämmerung umhüllte das Lager wie einen Mantel und tauchte die Zelte in schummriges Licht. Der letzte Rest rot verschwand hinter dem Horizont und Naichie wusste, dass die Zeit gekommen war. Eine Truppe von Schwertkämpfern würde den Weg frei machen und die Wachen töten. Der Veteran nickte der Gruppe zu und beobachtete wie diese durch das Wasser wateten. Sie mussten leise sein, wen jemand sie bemerkte, würde der ganze Plan vergessen und verloren sein. Naichie gürtete seine Dao und stieg auf sein Pferd. Sein ganzer Körper erbebte vor Anspannung. Es war die Kampfeslust, die ihn packte und gefangen nahm. Er wollte Blut spritzen sehen, Knochen brechen hören und die Siegesschreie seiner Männer wahrnehmen. Die Zeit schien zu tröpfeln, sie verrann langsam und schleichend. Endlich, endlich schlugen auf der anderen Flussseite die Flammen hoch. Die Anspannung löste sich ein wenig, aber es war nur ein geringer Teil getan, der doch unermesslich war. Naichie nickte dem Mann neben ihm zu, der nun begann eine Flagge zu schwenken. Für die Bogenschützen am Flussufer war das das Zeichen, sich in Gang zu setzen. Naichie beobachte wie sie im Nebel verschwanden, der wie eine Drohung über dem Fluss hing und alles in seiner Reichweite verschlingen scheinen wollte. Er wartete.
Hao spürte das Wasser durch seine Stiefel und seine Kleidung rinnen. Das Wasser war nicht tief, aber es war eisig. Kalte Schauer jagten über seinen Rücken und eine Gänsehaut bildete sich überall. Er hielt seinen Bogen hoch, um ihn vor der Nässe des Wassers zu schützen. Der Nebel verdeckte ihm die Sicht und das Einzige, was er hörte, war das Plätschern des Wassers. Endlich spürte er den Boden unter seinen Füßen ansteigen, das Wasser wurde flacher und sie erreichten das Ufer. Steine knirschten leise unter ihren Füßen und Hao nahm den metallenen Geruch von Blut war. Unweit von ihnen lagen zwei Soldaten, die Augen starrten in den Sternenhimmel. Hao trat vorsichtig weiter und bedeutete seiner Truppe es ihm gleich zu tun. Sie folgten dem Pfad des Blutes, bis Wälle vor ihnen auftauchten, die das Lager der Gandijol schützen. Sie verbargen sich hinter einer Reihe Bäume. Er konnte das Lager förmlich atmen hören, ein Atmen, das sie auslöschen sollten. Auf der anderen Flussseite brannten sich nun Flammen in die Finsternis, als wollten sie das Licht und das Glück zurück bringen. Aber das Licht war nur das Zeichen für ein erneutes Morden, eine erneute Finsternis. Es war so weit. Hao nickte seinen Männern zu und auch er zog einen Pfeil aus seinem Köcher. Er strich über die Federn und legte den Pfeil in die Sehne ein. Sein Mittelfinger und sein Ringfinger fassten die Sehne um den Pfeil und zogen sie nach hinten. Hao richtete seinen Blick zu seinen Männern. Er nickte. Dann flogen die Pfeile in tödlicher Präzision gen Himmel. Hao legte erneut einen Pfeil ein und schickte ihn auf seinen Weg. Dann füllten Schreie die Nacht und zerrissen den Mantel des Schweigens. Hao versuchte die Schreie auszublenden, aber ganz gelang es ihm nicht. Er hatte genug vom Töten, genug vom Krieg. Es war Frieden, der dieses Land regieren sollte. Frieden. Und dennoch schickte er immer weiter Pfeile in die Luft. Wenn niemand den ersten Schritt tat, wie sollte dann auch der Frieden kommen? Alle kämpften weiter und gehorchten ihren Befehlshabern, weil sie ihren Verdienst nicht verlieren wollten, da mit dem Sold die Familien versorgt wurden oder weil sie einfach nur Angst hatten. Angst, aber es war keine Angst, die Hao verspürte, es war Sehnsucht und Trauer. Trauer, um das sterbende Volk und Sehnsucht nach Frieden. Nach einer Weile verstummten die Schreie und die Stille nahm wieder Platz ein. Aber es war nicht dieselbe Stille wie zuvor. Hao ließ ebenfalls ein Feuer entzünden, um den wartenden Krieger auf der anderen Seite das Signal zu geben. Doch sein Herz war schwer.
Naichie sah das Feuer erneut aufblitzen und er spürte das Triumphgefühl seine Venen durchrennen. Er trieb sein Pferd in das Wasser und seine Krieger folgten ihm. Wasser spritze auf, doch Naichie beachtete es nicht. Die Pferde und Männer erklommen das Ufer. Naichie trieb seinen Hengst an, er übersprang die Wälle und sah sich im Lager um. Überall waren Pfeile, sie ragten aus dem Erdboden, aus Fleisch und aus Zeltwänden. Blut tränkte den Boden und überall lagen Tote und Verwundete. Nirgends waren kampffähige Feinde zu sehen. Naichie war zufrieden. Er hatte sich aus der Falle gewunden und einen Sieg errungen. Die Anspannung fiel von ihm ab und er entrang seinem Mund einen heiseren Schrei. Eines Tages würde er die Rebellen schon klein kriegen und er bezweifelte, dass sich die Gandijol in der nächsten Zeit noch einmal mit den Rebellen verbünden würden. Naichie fragte sich, wie viel Geld dieses Volk für ihr Bündnis mit den Rebellen bekommen hatten. Gandijol waren leicht käuflich, aber ein Heer war teuer, also mussten Adelige unter den Rebellen sein. Naichie wandte sich von dem Schlachtfeld ab, denn morgen wartete ein neues auf ihn.
„Still.“. Hjorgcai hielt inne. „Wir warten bis es dunkel ist.“. Die Aweynche zeigte auf den Wald, der bis jetzt undurchdringbar gewesen war und sich jetzt lichtete. „Was ist dort?“, fragte Tabita leise. Die Bäume versperrten ihr jegliche Sicht auf den Grund ihres Stopps.
„Die Wälle von Teyon.“, antwortete Narichre an Stelle von Hjorgcai, „Ein gewaltiger Wall, der die Grenze nach Sehjoldon schützt.“.
„Er ist halb zerfallen und wird erst langsam wieder aufgebaut, deshalb ist es nicht unmöglich die Grenze zu überqueren, aber es wird nicht einfach.", fügte Hjorgcai hinzu.
„Und wieso übergeben wir den Bogen nicht einfach jemanden, der ihn dann der Kaiserin bringt oder uns zu ihn geleitet? Dann müssten wir das ganze nicht heimlich tun.“. Joshua sah sie fragend an.
Hjorgcai betrachtete ihn fassungslos. „Weil so gut wie jeder in diesem Land den Bogen für sich behalten würde und dann würden noch mehr Bürgerkriege ausbrechen.“.
„Dann scheint es mit Kaisertreue ja nicht besonders weit her zu sein.“, stellte er fest.
„Nein, ansonsten würde ja auch kein Bürgerkrieg herrschen.“.
„Und wenn wir den Bogen verbergen würden?“, mischte Sjavkonhkar sich ein, „Und uns als Boten des Khans ausgeben würden? Hast du nicht einen Umhang, der unsichtbar macht, Joshua.“.
„Macht der Umhang überhaupt Gegenstände unsichtbar?“, fragte Schattenklinge skeptisch.
„Solange sie von elbischer Hand gefertigt wurden, ja.“, erklärte Tabita, „Sie machen auch nur Elben oder Menschen mit elbischen Blut unsichtbar.“.
Sie ging zu ihrer Stute und holte den Bogen hervor. Joshua reichte ihr seinen Umhang und sie wickelte den Bogen hinein. Aber die Zeichnungen und das Holz blieben genauso sichtbar wie zuvor. Der Schatten der Angst hatte Tabita berührt und mit vor schreckgeweiteten Augen sah sie die anderen an.
„Dieser Bogen wurde weder von den Elben noch von den Aweynche gefertigt.“.
Die Frage, von wem er sonst gefertigt war, blieb offen stehen. Niemand wagte es danach zu fragen und niemand konnte sie beantworten. Sie hatten sich in ein Geflecht von Lügen und Geheimnissen gewagt, waren der vermeintlichen Wahrheit wie ein Pfad gefolgt und hatten nun festgestellt, dass sie noch tiefer in die Finsternis gegangen waren. Die Schatten nahmen bedrohliche Gesichter an und nun war nur noch ein winziger Funken Licht zu sehen, der auch bald zu erloschen drohte.
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