Als Cesing wieder das Gesicht der Nacht aufgesetzt hatte, verließ Nian den Palast. Sie sperrte die Gedanken über die Diskussionen mit Lao und die Probleme an der nördlichen Grenze aus und konzentrierte sich allein auf ihren Auftrag. Sie mussten die Rebellen von innen knacken, nicht mit Gewalt, sondern mit einfachen Spionagetätigkeiten. Die Dämmerung tauchte die Stadt in bedrohliche Schatten. Nian schlich durch die Gassen, bis sie erneut zu der Taverne kam. Der Pfeifenrauch kam ihr längst nicht mehr so schlimm wie am gestrigen Abend vor und auch die Männer sahen nicht mehr so bedrohlich aus. Nian hatte das Gefühl neue Luft zu atmen, erfrischend neue Luft. Dies war eine neue Welt und sie stellte fest, dass sie an dieser Gefallen fand. Nian umrundete drei Männer, die grölend Messer auf die Stützbalken warfen. Sie trat an die Theke und bestellte erneut einen Becher Reiswein. Dieses Mal blieb sie an der Theke stehen, um einen Überblick über den Raum und die Tür zu behalten.
„He, Täubchen.". Ein weiterer Mann, der wohl schon viele Becher geleert hatte, hielt sie am Arm fest. „Falls du heute Nacht einen Platz zum Schlafen brauchst...". Er beendete seinen Satz nicht, denn Nian drückte ihm ein Messer an den Hals. „Fass mich nie wieder an.", zischte sie leise.
„Und wenn würde sie nicht so einen wie dich nehmen.", tönte eine weitere Stimme.
„Ach was und du bist etwa besser?". Der erste Mann drehte sich um und stürzte auf den zweiten zu. Nian seufzte, sie nahm einen Schluck von ihrem Reiswein, ließ ihr Messer aber dabei nicht los. Hinter ihr entbrannte eine Schlägerei, aber Nian beachtete diese nicht. Sie hielt nach Diong Ausschau, doch der schien sich Zeit zu lassen. Nian wartete. Sie nahm den Geruch von Sternanis und Nelken durch den Pfeifenrauch wahr und schloss daraus, dass der Wirt grade kochte. Sternanis. Ihre Großmutter hatte die Speisen immer mit diesem Gewürz zubereitet. Es hingen glückliche Erinnerungen an diesem Gewürz, an ihre Familie und an Heimat. Nian hatte den süßen Geschmack geliebt und ihr Sohn liebte ihn nicht weniger. Sie hatte Xeron schon lange nicht mehr gesehen, ihre Nachbarin schickte zwar regelmäßig Botschaften, aber das war nicht dasselbe. Sie wünschte sich so sehr, dass er eines Tages eine Schulausbildung bekam, aber das war so gut wie unmöglich.
Ein kühler Luftstoß fegte durch den Raum und die Luft wurde weniger stickig. Nian sah auf und erkannte Diong wieder, der durch die Tür stolperte. Er erkannte sie und ging zielstrebig auf sie zu. Betrunken schien er also nicht zu sein. Er stütze sich neben sie an die Theke und Nian sah die frischen Schnitte in seinem Gesicht.
„Was ist passiert?", fragte sie ruhig, während sie ein Stück von ihrem Mantel abriss, es in den Reiswein tauchte und ihm reichte. Vorsichtig begann Diong die Wunden abzutupfen.
„Eine Patrouille.", antwortete er leise, „Es ist nicht schlimm, ich bin ihnen entkommen und jetzt bin ich hier.".
„Nicht schlimm?". Sie betrachtete ihn. Er belastete sein linkes Bein nicht und seine dunkle Hose war mit Blut befleckt. Sein rechtes Handgelenk war blau verfärbt und schien gebrochen zu sein.
„Du musst zu einem Heiler.", erklärte sie streng.
„Ein Heiler?". Er lachte leise. „Ich habe einen Bekannten, der sich mit Heilkunde auskennt ohne dafür irgendwelche Prüfungen durchlaufen zu müssen und das genügt mir.".
Diong legte das Tuch weg und trank den Rest von ihrem Wein aus.
„Komm jetzt.". Nian folgte ihm aus der Taverne, in der sich die Männer immer noch schlugen und trat in die Nachtluft. Über ihnen standen die Sterne am Himmel. Diong bemerkte ihren Blick und meinte leise: „Sieh, heute ist der Bogen wieder zu sehen, ob dies ein Zeichen unser Ahnen ist?".
Nians Augen fanden das Sternenbild, aber sie schüttelte den Kopf: „Es erscheint jedes Jahr um diese Zeit am Himmel und bisher hat dies noch nichts daran geändert, dass sich unser Land im Bürgerkrieg befindet und das Volk unter den Machthabern leidet.".
„Nein.", stimmte er ihr zu. Dann folgte sie ihm in die Gassen Cesings. Er ging Wege, die sie noch nie betreten hatte, entführte sie in eine Welt der Armut und des Leids. Die Armut hing wie ein Geruch in der Luft und hielt diesen Stadtteil gefangen. Verfallene Häuser und Bretterbuden, hier hatte keiner das Geld für Restaurierungen. Kinder mit eingesunkenen Wangen und einem Gesicht, das von Schmutz verschmiert war, starrten sie an, die Bäuche leer. Nian erschauderte, wenn sie diese Blicke sah. Blicke, die jegliche Hoffnung verloren hatten und nur noch auf den erlösenden Tod warteten. Dabei waren es Kinder, Kinder, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten und dieses doch nur noch als Last ansahen. Wenn sie sich vorstellte, dass ihr Sohn einer dieser Kinder wäre...Nian erschauderte.
„Dies ist die andere Seite, Offizierin. Die Seite, die die Herrschenden so gerne verschweigen und unter ihren Reden von Glück und Zufriedenheit tot reden. Was ein Herrscher, der sein Geld teilen würde, alles ausrichten könnte. Aber sie tun es nicht. Und deshalb kämpfen wir, um jemanden zu haben, der eine gerechte Welt aufbaut, jemand, der es würdig ist, den Bogen zu tragen und uns zur Einheit zu führen, jemand, der diesem Leid ein Ende macht.". Seine Worte weckten Zweifel. Zweifel an ihrer Aufgabe, an der Gerechtigkeit der Kaiserin, die sie bisher immer verteidigt hatte. Aber könnte irgendjemand dieses Leid ändern? Nian wusste es nicht, aber sie wusste, dass Dioargchie es nicht vermochte. Aber wenn nicht sie, wer dann? Ihre älteste Tochter, die ihrer Mutter auf den Thron folgen würde, war noch eingebildeter und unfähiger Entscheidungen zu treffen. Wer dann? Denn es musste sich etwas ändern.
Diong blieb stehen und klopfte an ein Haus, die Fenster waren mit Brettern vernagelt, um vor dem Wind zu schützen, das Dach war notdürftig mit Planen abgedeckt. Hier lebten Menschen, denen ihr Leben noch etwas bedeutete und die für es kämpften. Diong sah sich um, dann trat er ein und bedeutete Nian, es ihm gleich zu tun. Ein einfacher, abgenutzter Bretterboden bedeckte die Erde und ohne Schuhe hätten sich ihr jetzt bei jedem Schritt Splitter in die Fußsohlen gebohrt. Das Haus bestand nur aus einem Raum. Die Mitte bildete eine offene Feuerstelle, deren Glut seit langem erkaltet war und an den Wänden standen Einfache Betten und eine einfache Truhe. An der Decke hingen Kräuter, Thymian und Nelken. Daneben Gebrauchsgegenstände: schäbige und verbeulte Töpfe und Schüsseln. Ansonsten war der Raum leer, keine Menschenseele war zu sehen. Diong trat zu der Feuerstelle und legte Holz nach, dass er mit zwei Feuersteinen entzündete.
„Ihr könnt rauskommen, wir können ihr vertrauen.“, erklärte er leise, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Die Männer und Frauen krochen unter den Betten, aus der Truhe und hinter Ecken hervor.
„Du solltest dich besser verstecken, man hat deinen Fuß gesehen.“, meinte er gelassen an einen der Männer gewandt.
„Das ist Wu.“, stellte er sie vor. Insgesamt waren es mit ihnen neun Männer und Frauen, die sich hier versammelt hatten. Nacheinander stellten sich vor und Nian vergaß die Namen sofort wieder. Die Berufe allerdings behielt sie. Es waren eine Heilerin, zwei Bauern, ein niederer Beamte, eine Prostituierte und zwei Kriegsinvaliden, die als Rebellen für ihr Land und ihre Zukunft kämpften. Nian bewunderte ihre Offenheit und Freundlichkeit, sie redeten nicht um ein Thema herum, sondern sprachen ihre Gedanken aus, etwas was am kaiserlichen Hof niemand gewagt hätte. Ebenfalls akzeptierten sie Geheimnisse und versuchten nicht diese unbedingt zu lüften.
„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte der eine Bauer. „Wie steht es an der Nordfront?“.
„Unser Heer würde am Nai geschlagen und das Lager der Gandijol vernichtet.“, berichtete der Beamte. Nian versuchte ihre Überraschung zu verbergen, denn von dieser Nachricht hatte selbst sie noch nichts gehört. Was für schnelle Boten mussten die Rebellen haben, wo einer ihrer Reiter drei Tage brauchte?
„Die Belagerung bei Andshie blieb unverändert. Eine Gruppe unter Hio hält den Pass bei Seving im Menchi-Gebirge und will den kaiserlichen Goldtransport überfallen.“.
Nian hob eine Augenbraue, diese Information würde Acheving bestimmt interessieren.
„Gut, wir werden bisher nirgendwo eingesetzt, sondern sind weiterhin damit beauftragt neue Zellen zu gründen.“, erklärte Diong, „Bitte nicht diskutieren, es ist ein Befehl von oben und dagegen kann ich nichts machen. Außerdem brauchen wir neue Männer, der Widerstand kostet - leider - Blut, aber wir kämpfen für ein freies Land!“.
„Es wurde eine Steuer auf Tee erhoben.“, mischte sich ein Mann ein, dem der rechte Arm fehlte. „Wo Tee doch seit immer als das Getränk des Volkes galt und deshalb steuerfrei ist.".
„Die Kaiserin muss halt einen Krieg bezahlen.", meint Diong.
„Und wir müssen darunter leiden.", keifte die Prostituierte, "haben die Adeligen eigentlich jemals Steuern gezahlt oder Abgaben geleistet?".
„Abgaben aus den Händen der Bauern.", erwiderte einer der Bauern. Nian spürte den Zorn, die Wut, die in der Luft lag, wie eine Drohung.
„Eine weitere Zelle wurde verhaftet, also seid gefälligst leise.", ermahnte die Heilerin, die von allen die Vernünftigste zu sein schien.
„Ihr sucht einfach neue Rekruten und gründet eigene Zellen, dann können wir mehr erreichen. Sobald das erledigt ist, werden wir die Lagerhäuser des südliches Viertels überfallen und die Nahrungsmittel an die Ostfront schicken.", befahl Diong. Er schien der Leiter der Gruppe zu sein und alle unter Kontrolle zu haben. Auf einmal hielt er inne. Mit einer Bewegung riss er eine Falltür auf, die so geschickt in den Holzboden eingebaut war, das sie nicht zu sehen war. Er winkte den anderen zu und alle kletterten in die Finsternis. Diong trat das Feuer aus und bald sah der Raum wieder so leer und verlassen wie zuvor aus.
Stimmen erklangen im Haus.
„Ich sage dir, dieser Platz ist zum Pennen besser geeignet, als die Hütte am anderen Ende der Straße.“. Schritte schlürften über ihnen hinweg und jemand warf sich auf den Boden. Nian atmete leise auf, es waren nur Obdachlose keine Soldaten.
„Komm.“. Diong führte sie einen Gang hinab, der in die Erde gegraben wurde und kaum Platz für einen Mann bot. Langsam drängelten sich die Männer und Frauen durch die Finsternis. Endlich tauchte ein Lichtstrahl vor ihren Augen auf und Diong schob eine Holzklappe beiseite. Sie befanden sich in einem Hinterhof, der verlassen schien. Links von ihnen befand sich eine eingestürzte Mauer und rechts von ihnen führte ein Tor, bei dem die Flügel verbogen in den Scharnieren hingen, auf die Straßen. Sie verabschiedeten sich leise und dann verschwanden die Männer und Frauen wieder lautlos in den Schatten. Schon nach wenigen Sekunden waren außer ihr und Diong niemand zu sehen.
„Ich bring dich zurück zur Taverne.“, meinte er leise.
Nian schüttelte den Kopf: „Das brauchst du nicht.“.
„Kennst du denn den Weg?“, erwiderte er spöttisch.
Sie zögerte.
„Komm.“. Er winkte ihr zu und sie folgte ihm zurück zur Taverne. Auf dem Weg schwiegen sie. Nian war in Gedanken versunken und er war zu vorsichtig, um die Stille zu unterbrechen, die auf der Stadt lag. Es waren nur ein paar Hunde, die jaulten und ein paar Straßen weiter zankten sich zwei Kater laut fauchend, aus den Tavernen drang noch Lärm, aber ansonsten war es still.
„Auf Wiedersehen.“, flüsterte Nian ihm leise zu, als die Taverne vor ihnen auftauchte.
„Auf Wiedersehen.“, flüsterte auch er, dann verschwand er in der Finsternis.
„Wir müssen die Pferde zurücklassen.“. Hjorgcai löste die Gepäcktaschen und sah auffordernd zu den anderen, „Die Tore sind am stärksten bewacht und wir können sie schlecht die Mauern hochziehen. Wir werden unterwegs neue Pferde kaufen oder stehlen müssen.“.
Narichre begann ebenfalls die Gepäcktaschen zu lösen. „Dann los.“, sie seufzte. Sie blickte zu ihrem Adler Tcharon, der über ihnen schwebte. Das dunkelbraune Gefieder glänzte im letzten Rest der Sonne.
Die Hersora hockte sich auf den Boden und begann die Grenzmauern von Teyon in die Erde zu zeichnen.
„Tcharon hat ausgekundschaftet, das die Mauer hier am wenigsten bewacht ist.“. Sie deutete auf einen Punkt und sah zu Hjorgcai.
„Dann wird dies unsere Pforte nach Sahres sein.“, beschloss Hjorgcai.
In der Nacht brachen sie auf. Sie hüllten sich in die Schatten und schlichen sich an die Mauern. Die Mauer von Teyon war eine aus Stein errichtete Mauer mit Wachtürmen, die aber teilweise stark vernachlässigt worden war und deshalb wieder neu errichtet wurde.
Hjorgcai verknotete ihr Seil und warf es um eine der Zinnen. Ohne sich zu den anderen umzusehen, fing sie an heraufzuklettern. Dann verknotete sie weitere Seile und warf sie den anderen zu. Hjorgcai sah sich um. Es war niemand zu sehen, dennoch behielt sie Khelm und Bogen griffbereit.
Acheving sah zu den Soldaten, die sich bei Würfelspielen vergnügten. Er stand auf und verließ den Wachturm. Er atmete die kühle Nachtluft ein und nahm den Geruch des Waldes in sich auf. Er fasste eine der Zinnen an und bemerkte missbilligend, dass der Stein bröckelte. Die Wälle mussten dringend wieder repariert und befestigt werden. Früher war der Lauf des Ming weiter im Norden, hier vor den Mauern geflossen und hatte diese untergraben, so dass sie teilweise eingestürzt waren. Ebenfalls hatte die Wachsamkeit der Soldaten nachgelassen, da diese einen Befehlshaber hatten, der sich lieber betrank als auf seine Männer zu achten. Ein weiterer Punkt, den Acheving dringend ändern würde, sobald er wieder in Cesing war. Acheving starrte in die Dunkelheit, war da nicht eine Bewegung gewesen. Er starrte die Mauer herab, tatsächlich da war jemand. Er griff nach seinem Jian und rannte los. Schon von Weitem erkannte er, dass auf der Mauer vier Personen standen. Er verlangsamte seine Schritte auch nicht, als Pfeile durch die Luft schossen. Er wusste, dass wenn er diese Pfeile jetzt betrachten würde, es aweynchische wären. Einer der Personen kam auf ihn zu. Acheving hielt sein Schwert zum Stoß bereit und war überrascht, dass sein Gegner sein Schwert von oben herab stieß. Ebenfalls wurde das Schwert seines Gegners mit beiden Händen geführt und Acheving erkannte selbst im Dunkeln, dass es keine Fehlschärfe besaß. Er parierte den Schlag und seine Arme zitterten unter der Wucht des Schlages. Diese Kampfart kannte er nicht, so kämpften noch nicht einmal die Aweynche. Acheving rollte sich unter der Schwertklinge hinweg und trat nach dem Mann, der so seltsam war. Der Mann keuchte vor Schmerzen auf, als Acheving seine Kniescheibe traf. Auf einmal sprang ein Schatten auf ihn zu und warf ihn um. Acheving hörte sein Schwert außer Reichweite rutschen und spürte den heißen Atem in seinem Gesicht. Was war das für ein Zauber? Da tauchten Zähne vor seinem Gesicht auf, riesige Zähne, wie die von Raubtieren. War das ein Traum? Es schien Acheving als würde einer der Steinlöwen, die sein Volk gerne vor ihren Haustüren aufstellte, zum Leben erwacht war. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Sjavkonhkar wandte sich von dem Krieger ab, der bewusstlos oder tot auf dem Boden lag. Hjorgcai begann derweil die Seile erneut herabzulassen und bedeutete den anderen herunterzuklettern.
Sie wandte sich zu Joshua um, der das Schwert des Kriegers aufgehoben hatte und es betrachtete.
„Wie kann man mit so etwas kämpfen?“, fragte er überrascht, „Fast zwei Drittel der Klinge besitzen eine Fehlschärfe und das restliche Drittel ist dafür umso schärfer geschliffen. Und dieser Kampfstil. Kämpfen die immer mit den Füßen?“.
„Komm jetzt. Wir reden später.“, winkte sie ungeduldig ab. Er kletterte hinab und ließ die seltsame Waffe mit dem Krieger zurück. Hjorgcai blickte ein letztes Mal zu ihrer Heimat zurück, dann seilte auch sie sich herab und trat in den Schatten der Mauer.