Nian schritt durch das Lager. Zwölftausend Mann hatten sich hier versammelt, bald mussten sie aufbrechen, denn ein so großes Lager blieb nicht lange unbemerkt. Allerdings berichteten ihre Späher, dass die Chevin von Gijong und Wen sich auf Niing zu bewegten, während von Naichies Weg noch keine Informationen gekommen war, da dessen Lager am weitesten von ihnen entfernt war.
Das Heer bestand überwiegend auf Fußsoldaten, Pferde waren rar und wurden lieber zur Überbringung von Nachrichten genutzt, als eine eigene Kavallerie aufzubauen. Sobald die drei Chevin Niing erreicht hatten, würde sie mit einem Teil des Rebellenheeres nach Cesing ziehen. Es brauchte keine zwölftausend Mann, eine Stadt zu erobern, solange man es klug anstellte. Und solange man die Möglichkeit dazu hatte, sollte man den Verlust an Männern und Material möglichst klein halten.
Sie sah ihren Sohn, der mit einem Soldaten übte, wie man einen Bogen spannte. Wenn sie Cesing erobert hatten – Nian zweifelte nicht daran, dass es so geschehen würde – dann würde sie ihm in einem symbolischen Akt den Bogen überreichen. Der Bogen stand immer dem erstgeborenen Sohn einer Kaiserin zu, um dem männlichen Geschlecht auch eine Möglichkeit zu geben, sich an der Herrschaft zu beteiligen. Bis vor wenigen Monaten hatte sie sich das nicht erträumt, ihr Sohn würde eines Tages lesen und schreiben lernen und hoffentlich die anderen Bauernkinder auch, wobei sie bezweifelte, dass dies eine machbare Aufgabe war. Es würde immer jemanden geben, dem es nicht gut ging und dennoch war dies der Grund, aus dem sie kämpfte: Für eine gerechtere Welt.
„Herrin?“. Nian schreckte aus ihren Gedanken hoch und sah den jungen Mann an, der vor ihr stand. Mit pflichtbewusster Miene hielt er einen Speer fest und streckte die Brust heraus, auf die das Wappen der Rebellenarmee genäht war. Vierzehn? Fünfzehn? Ihrer Meinung nach viel zu jung, um in den Krieg zu ziehen, aber die Jugendlichen liefen ihnen in Scharen zu. Rache, sie alle wollten Rache. Rache, an den Großgrundbesitzern, die ihre Eltern in den Ruin getrieben hatte, Rache, an der kaiserlichen Armee, die ihnen die Eltern und Brüder nahmen und ihre Bräute verschleppten. Rache an der Kaiserin, aufgrund der hohen Steuern. Hass trieb sie an, aber Hass war kein guter Ratgeber, besonders im Krieg nicht.
„Die Wache hat eine Gruppe von seltsamen Menschen festgenommen, die sich auf den Hügeln im Westen des Lagers befanden.“.
Nian nickte.
„Ich komme.“.
Hjorgcai starrte die Rebellen, die sie gefangen genommen hatten, wütend an und überlegte wie sie entweder an das Messer in ihrem Stiefel, einen Pfeil aus ihrem Köcher oder an eine andere Waffe heran kommen konnte, um sie aus dieser Situation zu holen. Eine erneute Gefangenschaft konnte keiner von ihnen gebrauchen. Aber das erste was die Soldaten machten, war es, ihnen die Waffen abzunehmen. Und sie fanden alle, kein Messer blieb an seinem Platz, so dass am Ende keiner von ihnen mehr eine Waffe besaß. Eine Schwertspitze im Rücken ging sie weiter, immer weiter, Schritt für Schritt, ohne Möglichkeit sich abzuwenden. Aber das Lager war beeindruckend. Gewaltige Zelte aus groben, zusammengeflickten und schmutzigen Stoff, die sich zu hunderten zwischen den Bäumen erhoben. Von den Bäumen waren viele gefällt wurden, die dem Heer wohl für die Feuer und zur Herstellung von Speeren und Pfeilen dienten. Überall liefen Männer hin und her, aber auch viele Frauen waren zu sehen. Pfeile schwirrten durch die Luft, über den Feuern wurde gekocht, Wachtrupps verließen und betraten das Lager, Botschafter und Adjutanten überbrachten Nachrichten, Heilerinnen versorgen Verwundete, Offiziere standen zusammen und diskutierten über Pläne gebeugt. Dieses Lager pulsierte vor Leben und Hjorgcai wünschte sich so sehr, dass es auch so blieb.
Ihre Wächter blieben stehen und sie sah auf. Eine Frau kam auf die Gruppe zu. Eine Frau, die ihr seltsam bekannt vorkam. Dunkel erinnerte sie sich, dass dies die Frau gewesen war, die sie nach Cesing geleitet hatte und das ihr Name Nian war. Dass sie hier war, bedeutete, dass sie zu den Rebellen übergelaufen war. Ob sie den Bogen gestohlen hatte? Nian betrachtete sie.
„Ihr schon wieder.“, meinte sie kaum hörbar.
„Wir haben nicht darum gebeten, gefangen genommen zu werden.“, konterte Sjavkonhkar.
„Dann hättet ihr nicht in die Nähe des Lagers gelangen solltet.“. Nian seufzte. „Woher soll ich wissen, wem ihr dient? Dioargchie könnte euch genauso gut geschickt haben, wie das ihr aus eigenem Interesse hier seid. Bringt sie in eines der Gefangenzelte und bewacht sie, während ich überlege, was mit ihnen zu tun ist.“. Nian schien sie nicht gerne gefangen nehmen zu lassen und würde sie wahrscheinlich am liebsten freilassen, aber sie hatte keine Wahl, wenn sie ihre Autorität wahren wollte. Sie wollte sich grade abwenden, als ein Mann auf sie zu rannte.
„Herrin, euer Sohn. Eine Schlange. Wir konnten nicht...“. Nian unterbrach ihn sofort.
„Eine Heilerin.“, rief sie laut und Hjorgcai nahm das Zittern in ihrer Stimme wahr.
„Ich.“. Tabita trat vor, „Ich habe Biologie studiert und eine Ausbildung zur Heilerin abgeschlossen.“.
„Du kennst dich mit Vergiftungen aus?“.
Tabita nickte.
„Komm.“. Nian winkte den Wächtern, dass sie Tabita loslassen sollten, dann verschwanden die beiden. Die Wachen stießen sie weiter und brachten sie in ein Zelt, das von mehreren Kriegern bewacht war. Hjorgcai ließ sich gegen die Zeltwand sinken und seufzte. Schon wieder.
Tabita eilte mit Nian durch das Lager. Im Kopf ging sie bereit die Möglichkeiten durch und was sie an Heilmitteln zur Verfügung hatte.
Endlich erreichten sie die Stelle, wo der Junge lag. Eine Gruppe von Soldaten schützte ihn vor Schaulustigen, sie ließen Nian und Tabita jedoch los.
„Weiß irgendjemand wie die Schlange aussah?“, wandte sie sich an die Soldaten, während sie sich neben dem Jungen niederkniete.
„Eine kleine, schwarze Schlange mit einer hellen Zeichnung am Bauch.“, erklärte einer der Männer.
„Hört sich nach einer Atcra an, wenn es diese Schlange hier ebenfalls gibt.“, murmelte sie leise. Aber sie musste es probieren. Besser eine geringe Chance als überhaupt keine.
Sie schob den Ärmel des Jungen hoch und betrachtete den Biss. Es war nicht viel zu sehen. Nur ein Abdruck von winzigen Zähnen und eine rote Stelle, mehr nicht. Aber die am harmlosesten aussehenden Verletzungen waren nicht selten die gefährlichsten. Dennoch ähnelte es nicht dem Biss einer Atcra, es war ein ihr unbekannter Biss. Sie sah zu Nian, sie wollte ihr nicht sagen, dass sie kein Heilmittel kannte. Nian würde ausrasten und sie waren schließlich immer noch Gefangene. Stattdessen zog sie ein einzelnes Blatt aus einem Beutel, den sie um den Hals trug. In diesem Moment kam es ihr wie ein Wunder vor, dass dieser Beutel all die Gefahren überstanden hatte. Wie eine Erinnerung aus einem vergessenen Leben. Das Blatt war feuerrot, fast kam es ihr vor, als würde ihre Hand gleich verbrennen aber es war nur eine Sinnestäuschung, es war kalt.
„Was ist das?“, fragte Nian und musterte das Blatt misstrauisch.
„Ein Blatt aus dem Kleid einer Feuertänzerin, einem Geschöpf aus unserem Land. Man sagt, dass es so gut heilt, weil es pures Feuer ist und alle Krankheit und Vergiftung einfach weg brennt.“.
Sie öffnete den Mund des Jungen und legte ihm das Heilmittel gewaltsam auf die Zunge, sie zwang ihm zum Runterschlucken.
„Es müsste ihm bald besser gehen.“.
Nian betrachtete skeptisch die Schweißtropfen auf der Stirn ihres Sohnes, die verkrampften Gliedmaßen, nickte dann aber. Was sollte sie auch tun? Lieber die wenige Hoffnung behalten, als alles aufzugeben.
Doch dann kehrte Leben in die bleichen Gliedmaßen zurück, die Wangen färbten sich wieder rot. Krampfhaft fing der Junge wieder an zu atmen, mit ihm atmeten Nian und Tabita auf, die scheinbar die Luft angehalten hatten. Nian umarmte ihren Sohn und half ihm sich aufzurichten.
„Es geht mir gut.“, erklärte Xeron.
Tabita lächelte erleichtert, ein Blatt vom Kleid einer Feuertänzerin war ein Mittel, das schon viele Leben gerettet hatte, durch das aber auch viele schon ihr Leben gelassen hatten, denn eine Feuertänzerin war nicht für wenige tödlich.
„Was darf ich für euch tun?“, fragte Nian glücklich.
„Uns freilassen?“.
Nians Miene verfinsterte sich. „Es tut mir leid, aber das ist mir nicht möglich. Aber ich verspreche, euch einen schnellen Tod zu gewähren.“.
Naichie sah sich um. Seine Männer stapften durch den Wald, ihre Kleidung war zerrissen, aber zum Glück war es nicht allzu kalt. Auch Wasser fanden sie dank der vielen Flüsse und Seen genug, was ihm Sorgen machte, war die Nahrung. Alleine von Jagd konnten seine Männer nicht Leben und die Vorräte waren aufgebraucht, es gab keine Dörfer, wo sie sich mit Nahrung versorgen konnte, von Städten ganz zu schweigen. Wie sich die Rebellen wohl versorgten, mitten im Nichts? Er hoffte sosehr, dass die Nachschubswege, die er mit der Stadt Milon und der Garnison am Nai abgesprochen hatte, funktionieren würden. Acht Tage waren sie schon unterwegs, acht Tage, in denen seine Männer durch die Wildnis stapften. Aber sie vertrauten ihm, sie glaubten, dass er sie gut führen würde.
Nach drei weiteren Tagen erreichten sie die ersten Vorposten der Rebellen. Bewachte Wälle, die sich zwischen den Bäumen verbargen. Naichie ließ sie durch Öl und Brandpfeile anzünden, er wollte so wenige Männer wie möglich schonen. Die wenigen Rebellen, die es schafften zu entkommen, ließ Naichie gefangen nehmen und hängen. Umso später Nian davon erfuhr, umso besser. Acheving hatte er ebenfalls nichts von seinen Plänen mitgeteilt, denn die Gefahr war groß, dass die Boten ihr Ziel nicht erreichten und die Nachricht in die falschen Hände geriet.
Er zog einfach weiter, immer weiter, mit seinen Männern, die ihm bis in den Tod folgen würden.
Es vergingen Tage, ohne dass etwas geschah. Sie wurden immer noch bewacht, aber manchmal durften sie sogar mit Begleitung durch das Lager. Das, was sie zumindest im Moment rettete, war Xeron. Der Junge hatte einem Narren an Tabita gefressen und blühte in ihrer Gegenwart förmlich auf, wie ein Hirsch nach Wasser, so lechzte er nach den Geschichten, die sie in die Luft malte. Und sie konnte wahrlich wunderbar erzählen, sie pflückte Worte wie Äpfel und vor Hjorgcais Augen entstanden Bilder, Bilder von Elbenkönigen, Bilder von Ehlyenons Kampf gegen die Jorohne, Bilder von Kayra, der Ersten, die einen Bürgerkrieg beendet hatte, von Terren, der gegen die Hersor kämpfte und von Kaye, die die Elben einte. Mit einem Mal erschienen die Elben ihr auch gar nicht so schlimm, wie es in den alten Geschichten ihres Volkes immer erzählt wurde. Auch sie machten Fehler, aber sie hatten auch ihre guten Seiten und waren nicht vollkommen schlecht. Vielleicht war es wirklich Zeit, diesen alten Konflikt bei zu legen, Frieden zu schließen und einen Neuanfang zu wagen.
Hjorgcai sah zu Xeron, der Junge starrte mit offenen Mund Tabita an, die von einem Brand erzählte. Vermutlich war es tatsächlich ihre Stimme zu sein, die ihnen das Leben rettete. Nian schien es nicht übers Herz zu bringen, die neue Freundin ihres Sohnes zu töten, der dieser sich sonst so stille Junge sich öffnete. Es musste auch schwer für ihn zu sein, ein Dorf, sein gewohntes Umfeld, zu verlassen und sich in solch einem gewaltigen Lager wieder zu finden.
Hjorgcai selbst suchte immer noch nach einer Möglichkeit zu Flucht. Doch Nian ließ sie keinen Augenblick unbewacht. Immer war jemand da, der ein Auge auf sie hatte und es gab kein entkommen.
„Nian.“. Nian sah von den Nachrichten auf, die den Verlauf der Chevin von Gijong und Wen beschrieb, während über das Chevin von Naichie noch immer jegliches Wissen verborgen war.
Diong rannte zu der Karte, die an der Wand hing und zeigte auf einen Punkt in den Wäldern von Yaran.
„Die Befestigungen wurden niedergebrannt, es gab nur zwei Überlebende.“.
„Wer?“. Es konnten Räuberbanden gewesen sein, eine Patrouille oder schlimmeres. Aber in Wirklichkeit waren es nur Ausreden, denn sie wusste längst wessen Heer sich ihnen an die Fersen geheftet hatte.
„Naichie.“. Sie seufzte und trat zu der Karte. Ob er seine Route wohl bedacht hatte oder einfach drauflos gezogen war? Nian tippte auf Ersteres, denn nirgendwo war ein Moor oder eine Gebirgskette, an dem man einen Überfall planen konnte. So weit sie es erkannte, ging Naichies Marschroute durch einfachen Wald. Es gab keine Engstellen. Natürlich hätte man auch so einen Überfall planen können, auch hinter Bäumen konnten sich Männer verstecken, aber Naichies Männer waren darauf gedrillt, Mann gegen Mann und im Wald zu kämpfen. Normalerweise lag die Stärke des kaiserlichen Heeres in ihrer Einheit, die wenigsten waren darauf ausgerichtet, Mann gegen Mann zu kämpfen, im Gegensatz zu Naichies Heer.
„Was sollen wir tun?“, fragte Diong.
„Wir müssen ihre Nachschubswege kappen. Wenn er seine Soldaten nicht mehr versorgen kann, dann werden sie zu Scharen desertieren.“. Ihre Stimme klang selbstbewusst, aber sie selbst war sich ihrer Sache nicht so sicher. Naichie war ein Sturkopf und noch verrückter. Ohne irgendeinen Kontakt zur Hauptarmee zog er los, mit dem Wissen, dass er Schwierigkeiten haben würde, seine Männer zu versorgen. Und genau das machte ihn so unberechenbar und gefährlich.
Sie fuhr den Weg von den Wällen bis zum Lager nach.
„Drei Tagesritte.“, meinte Diong heiser.
„Ich werde die Rebellen nicht untergehen lassen.“. Nian lächelte ihm aufmunternd zu.
„Ich weiß, ansonsten hätte ich dich nicht in meine Zelle gelassen.“. Nun umspielte auch ein Lächeln sein sonst so kaltes Gesicht, die wulstige Narbe, die seine Wange kennzeichnete, schien neben dem Lächeln zu verblassen.
„Du solltest häufiger lächeln, es lässt dich jünger aussehen.“.
„Jünger?“. Er lachte auf, „Ich bin neunundzwanzig.“.
„Eben, aber du trägst die Last von vielen Jahren und das sieht man dir an.“.
„Wie hast du es geschafft, die Freude zu bewahren?“, fragte er leise und Nian erkannte den tiefen Schmerz und das machte ihn verletzlich, wo er bisher unverwundbar erschienen war.
„Ich weiß es nicht.“, erklärte sie nachdenklich, „Vermutlich war es mein Sohn, der mir die Freude bewahrt hat und für den ich gelebt habe. Ich wollte für ihn glücklich sein, ihm eine gute Kindheit zu schenken.“. Sie sah ihn an und verstand. Beide hatten sie das gleiche Leid durchlebt.
„Meine Eltern waren in Abhängigkeit geratene Bauern, sie waren froh, wenn alle zwei Tage etwas auf den Tisch kam. Wir waren elf Kinder, vier wurden erwachsen. Ich war die Älteste und dementsprechend viel wurde von mir erwartet. Als ich dreizehn war, wurde ich verheiratet, an einen freien Bauern. Es war harte Arbeit und er…er hat mich misshandelt und geschlagen. Ich hatte zwei Fehlgeburten, endlich kam Xeron auf die Welt und das hat ihn beruhigt. Er war nicht unbedingt schlecht, immerhin waren wir versorgt, aber…Als Xeron eins war, kam er eines Tages betrunken nach Hause, er war zornig und ist auf mich losgegangen. Ich weiß nicht was geschehen ist, aber am Ende lag er tot auf dem Boden. Ich habe ihn getötet, Diong! Ich habe Xeron genommen und bin geflohen. Ich konnte nicht zurück, ich bin ins Heer eingetreten, um uns zu ernähren und habe Xeron zu meiner Schwester gebracht. Sie hat ihn aufgezogen. Zehn Jahre lang, zehn Jahre lang morden. Ich stieg auf und kam in die Position, in der ich jetzt bin. Aber nie habe ich ihn vergessen und es haben sich noch mehr Gesichter zu ihm gesellt. So viele sind durch meine Hand gestorben.“. Sie zitterte. Hatte sie nicht gedacht, dass sie diese alte Schwäche überwunden hatte? Aber sie war wieder da, stärker als jemals zuvor. Sie keuchte, als die Erinnerungen sie überkommen wollten.
Diong nahm sie sanft in den Arm.
„Ruhig.“. Er wiegte sie wie ein kleines Kind hin und her. Langsam wurde ihr Atem wieder regelmäßiger und die Welt vor ihren Augen klärte sich.
Diong nahm ihr Gesicht in die Hände und dann küsste er sie. Sanft fuhr er über ihr Haar und in diesem Moment dachte sie nicht an Naichie, der mit seinem Heer immer näher kam, an die Soldaten, die auf ihre Befehle warteten. Sie dachte nur an den Mann, der vor ihr stand und für den sie sich entschieden hatte. Es gab nur noch diesen Weg und die Möglichkeit umzukehren, war längst unmöglich geworden.
Doch schließlich löste sie sich.
„Wir müssen das Heer sammeln und Naichie entgegen schicken.“, flüsterte sie leise um diesen andächtigen Moment der Ruhe nicht zu zerstören.
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“, fragte er. Sie beide wollten das Morden nicht.
„Ich kann einen Botschafter zu ihm schicken und um Verhandlungen bitten.“.
„Und meinst du, er wird darauf eingehen?“.
„Wenn ich ein Fremder wäre, dann nicht. Naichie ist ein Mann der Tat und keiner von Worten, aber er kennt mich und weiß das ich nach einer für uns alle angemessene Lösung suche.“.
„Dann schicke einen Boten.“.
Nian nickte. Wenn er sich darauf einlassen würde, sie zu treffen, dann würde sie ihn vielleicht mit dem Bogen überzeugen können.
„Sie will ein Treffen?“, fragte Naichie den Boten verblüfft.
„Ja. Nian sendet nach euch.“.
Ein anderer hätte den Boten jetzt ohne Kopf zurück geschickt, aber solch ein Mensch war Naichie nicht.
„Ich schicke nach dir, sobald ich eine Antwort habe. Lass dich von dem Koch versorgen.“.
Er durfte Nian nicht zeigen, wie schlecht es um seine Versorgungslage wirklich stand. Es kam nichts mehr an. Er brauchte eine Lösung, denn auch seine alten Veteranen fingen an zu murren.
Tabita starrte Nian an. Es war so weit. Die ehemalige Stabschefin Laos hatte ihnen grade eröffnet, dass sie in einer Stunde gehängt werden sollten. Sie alle. Joshua, Hjorgcai, Felsenfaust, Narichre, Sjavkonhkar uns sie selbst. Es war so plötzlich gekommen, die Möglichkeit eines Todes war in die Ferne gerückt und jetzt sollten sie sterben. Sie würde nie wieder nach Hause kommen, nie wieder Marvon und ihre Eltern sehen.
„Wir müssen uns wehren.“, schlug Sjavkonhkar vor. „Sie wissen nichts von meiner Löwengestalt.“.
„Was haben wir denn schon für eine Alternative?“, entgegnete Hjorgcai grimmig.
Dann schwiegen sie. Es gab keine letzten Gespräche, es herrschte nur die Stille.
Dann wurden sie geholt. Die Schwerter stachen erneut in ihre Rücken und sie wurden vorwärts gedrängt. Tabita sah Xeron, der sich mit einem Soldaten unterhielt und sie anlächelte. Ob er wohl wusste wohin sie ging? Vermutlich nicht. Seine Mutter wollte ihn sicher nicht verletzten. Seine Mutter. Nian stand tatsächlich da, an den Bäumen, an denen Stricke hingen. Die Soldaten trieben sie an ihr vorbei, aber Tabita spürte die mitleidigen Blicke der Frau auf sich ruhen. Sie verstand Nian. Auch wenn sie keine Spione waren, gab es immer noch die Gefahr, dass sie dem kaiserlichen Heer in die Arme liefen. Sie wussten Dinge, die nicht bekannt werden durften, wenn die Rebellen überleben sollten.
Die Soldaten stellten sie unter den Bäumen auf. Über ihnen befand sich ein strahlend blauer Himmel, die Vögel zwitscherten und vor ihrer Nase tanzte ein Schmetterling. Tränen liefen ihr über das Gesicht, sie wollte nicht sterben.
Sie sah zu den anderen und versuchte sich ihre Züge einzuprägen. Wie viel Zeit blieb ihnen noch? Sjavkonhkar nickte ihnen zu, dann rief er mit seiner dunklen Stimme: „Jetzt.“.