Sjavkonhkars Arme wichen Pfoten und die Haut Fell. Die Wachen schienen überrascht und wichen zurück, was ihnen einen Moment verschaffte. Joshua nutzte das aus, er rannte auf einen der irritierten Rebellen zu und entwand ihm die Waffe. Er trieb die Männer aus seinem Umkreis zurück, die jetzt aber aus ihrer Starre erwachten. Tabita und Narichre hielten sich im Hintergrund und blieben in der Nähe der Bäume. Tcharon flog über ihnen und riss den Soldaten Haare und Hautfetzen aus.
Joshua wirbelte mit dem Schwert herum, tauchte unter verwirrten Rebellen hindurch. Ein wilder Tanz, den niemand mit ihm tanzte und den niemand verstand. Sjavkonhkar warf die Männer einfach um, er schlug ihnen seine Pranke ins Gesicht und biss ihnen die Kehle auf. Aber es waren viele, viel mehr, als das ein Löwe und ein elbischer Krieger sie bewältigen konnten. Von allen Seiten rannten weitere Rebellen herbei und schlossen den Kreis umso enger, umso mehr Joshua und Sjavkonhkar töteten. Der metallische Geruch des Blutes drang Tabita in die Nase und ließ sie keuchen. Sie hasste diesen Geruch, diesen Geruch, der von Schmerz und Leid sprach. Sie wollte ihn nicht, wollte nicht sehen, wie der Tod erneut auf sie zukam. War es schlimmer durch ein Schwert als durch eine Schlinge zu sterben? Sie wollte es nicht herausfinden, sie wollte einfach nur leben. War das etwa so schwer zu verstehen? Sie sah Menschen fallen, deren Lebensflamme durch Joshuas Schwert erlosch. Wie konnten sie es sich anmaßen, über Tod und Leben zu entscheiden? Wieso konnten nicht einfach alle leben, in Frieden und Einheit? War das etwa unmöglich?
Tabita sah in den Himmel, dieser strahlend blauer Himmel, den kein Leid trübte. Sie betrachtete immer noch den Himmel, als Joshua und Sjavkonhkar zurück gedrängt wurden und sich mit ihnen gegen den Baumstamm drückten. Sie sah den Himmel an, als Joshua das Schwert entrissen wurde und ihnen erneut die Fesseln angelegt wurden. Tränen liefen ihr über das Gesicht, Frieden. So einfach zu verstehen und doch so schwer durchzusetzen. Sie wollte noch einmal Frieden erleben, Frieden, keinen Krieg. Aber nun würde sie dies nicht mehr erleben. Sie sah Joshua nicht mehr an, sondern wollte ihn so strahlend in Erinnerung behalten, wie es einst gewesen war, bevor sie in dieses Land aufgebrochen waren.
„Was ist hier los?". Tabita sah hoch und starrte den Reiter an, der wie ein Hoffnungsbote erschienen war.
„Haltet ein. Nian, hör auf damit.". Der Mann sprang vom Pferd und sah zu der Stabschefin hinüber.
„Ich kann keine Zeugen gebrauchen.".
Der Mann lachte.
„Ich besitze ein ganzes Heer voller Zeugen. Willst du sie auch alle hängen? Ich biete dir meine Verhandlungsbereitschaft an, im Austausch für ihr Leben.".
„Warum sie, Naichie?".
„Weil es sinnlose Opfer wären. Außerdem habe ich noch nie einen Menschen gesehen, der sich in einen Löwen verwandelt.".
Nian seufzte.
„Einverstanden. Lasst sie frei.". Erleichterung durchströmte Tabitas Körper, jede Ader war von ihr erfüllt, Tränen der Freude tropften auf den Boden. Sie würde leben! Sie würde den Himmel weiterhin sehen! Leben, ein Versprechen, ein Geschenk, das ihr erneut in die Hände gelegt worden war, durch diesen Reiter. Leben, sie würde leben.
Joshua war der Erste, der die Hände der Soldaten wie lästige Fliegen abschüttelte. Ein Grinsen zog sich über sein Gesicht, als er an Nian gewandt meinte: „Ich hätte gerne mein Schwert wieder.".
Nian nickte, aber Tabita erkannte, dass auch sie insgeheim glücklich war, dies war kein Mensch der willkürlich mordete.
Niemand hielt sie auf, als sie durch die Reihen der Soldaten schritten. Es waren nur Blicke aber keine Schwerter, die ihnen folgten. Eine ehrfürchtige Stille hatte sich über das Lager gelegt und alles schien ihnen zuzusehen. Alle hielten mit ihrer Arbeit inne und beobachteten wie die Todgeweihten ihr Grab hinter sich ließen. Sie konnten einfach gehen, Tabita lachte auf. Niemand hielt sie auf. Sie würden nach Hause gelangen. Nach Hause, eine ferne Erinnerung, die auf einmal wieder greifbar wurde, die wieder zu einer Zukunft wurde. Nian gab ihnen ihre Sachen wieder und dann verschwanden sie und ließen den Schauplatz den Kampfes zwischen Rebellen und der Kaiserin hinter sich. Ihre Gedanken waren alleine auf Fjørev gerichtet und damit auf ihre Heimat, Anthar.
"Wieso sie? Es liegt nicht nur daran, dass sie Spione sein könnten.".
Naichie ließ sich auf einen Stuhl fallen und betrachtete sie nachdenklich.
"Sie tun mir leid.", erwiderte Nian, "Weil ich jetzt schon weiß, dass ich gegen ihre Heimat in den Krieg ziehen werde, sobald ich auf dem Kaiserthron sitze.".
"Die Adeligen?".
"Ja, das Volk wird den Bogen und mich akzeptieren, aber der Adel wird kämpfen, um selbst auf den Thron zu steigen. Ich brauche einen Krieg, um sie zu einen.".
"Ich weiß.", er seufzte, "Aber warum Anthar? Wieso nicht unsere Nachtbarländer?".
"Wer denn?", sie lachte bitter, "was würde geschehen, wenn wir gegen die Aweynche kämpfen würden? Es würde die Stämme einen, wenn sie gegen einen gemeinsamen Gegner kämpfen und ein geeintes und ein starkes Sehjoldon möchtest du nicht als Nachbarn haben. Und die Vendirell? Gegen die Windwesen können wir nicht gewinnen und was haben wir für einen Grund gegen Niyes oder Radehles in den Krieg zu ziehen, sie haben den Frieden gewahrt und es würde aussehen, als würde ich einen Krieg wollen. Nein, es sind die Elben, gegen die wir ziehen müssen.".
"Du hättest einen von ihnen laufen lassen, die anderen getötet und so einen Krieg herbeigeführt.".
"Ja.", Sie seufzte leise, "Zwei von ihnen waren die Kinder des elbischen Königs.".
Nian goss Wein in zwei Becher und reichte Naichie einen davon. Er setzte sich auf einen Stuhl und nippte an dem Getränk.
„Der ist gut. Von den Zey-Wiesen?".
„Ja, der kommt von den Zey-Wiesen. Hast du keine Angst, das ich dich vergiften würde?".
Naichie stellte seinen Becher auf den Tisch und musterte sie.
„Und wer würde dann meine Männer kontrollieren? Ich bin für sie ein Freund und meinst du, dass sie mich nicht rächen würden? Außerdem hast du die Hoffnung auf eine friedliche Lösung nicht aufgegeben, warum solltest du also ein aufständisches Chevin wollen? Nein, ich fürchte nicht, dass du mich vergiften würdest.". Er sah sich um. „Wenn in zwei Tagesstunden kein Lebenszeichen von mir kommt, wird das Lager unter Beschuss genommen. Also wirst du mich nicht töten und das wissen wir beide.".
Naichie stand auf und ging zu der Karte, die fast eine Seite des Zeltes einnahm.
„Cesing? Wieso nicht. Ich habe Milon mit noch weniger Männern eingenommen und du kennst weitaus bessere Pläne als ich.". Er wandte sich zu ihr um und schien sie mit seinen dunklen Augen zu durchbohren. Dieser Mann war so viel erfahrener als sie selbst, er verstand seine Soldaten, wusste wie er die Generäle von seiner Meinung überzeugen konnte, es war ihm egal, was andere über ihn dachten. Ihn zum Freund zu haben, wäre eine riesige Bereicherung. Ihn zum Feind zuhaben mehr als ein Problem.
„Warum, Nian? Warum hast du die Seiten gewechselt? Wo hast du den Hoffnungsfunken gesehen, der unser Land verändern wird? Du würdest nicht ohne einen guten Grund die Seiten wechseln.", meinte er leise.
„Vertraust du mir?".
„Ich vertraue dir als Strategin und als gute Heerführerin.".
„Ich bin einen Weg gegangen, um dieses Land zu reformieren. Wusstest du das die Hersor etwas haben, was sie Demokratie nennen? In ihrem Land gibt es keine Adeligen, die die Bauern ausbeuten können, ohne bestraft werden. Der König wird gewählt, ebenso ihre Fürsten. Bei den Sphinxen kann ebenfalls jeder regieren, so lange er sich von der körperlichen Stärke durchsetzen kann. Die Elben wählen ihren König ebenfalls, die Zwerge auch. Was würdest du im Heer reformieren wollen, wenn du die Macht dazu hättest?".
„Das die Generäle sich ihren Stab selbst aussuchen können und dieser nicht vom Kaiser bestimmt wird. Die Strafen und willkürlichen Exekutionen müssen unter Kontrolle gebracht werden und feste Regeln bekommen. Ebenfalls sind die Übergriffe auf die Zivilbevölkerung zu stoppen. Außerdem...". Er stoppte und sah sie an. „Wozu darüber nachdenken, wenn sich sowieso nichts verändert.". Und Nian erkannte den tiefen Schmerz, den auch sie verspürte, diese unglaubliche Liebe für ihr Land und ihr Volk, nur um zu erleben, wie dieses ausgebeutet wurde.
„Naichie. Ich habe die Macht, zu reformieren.". Mit diesen Worten stand sie auf und öffnete eine der Holztruhen. Unter einigen Umhängen hatte sie den Bogen versteckt. Als sie sicher war, dass niemand in der Nähe war, schlug sie das Tuch zurück und befreite das Holz.
Naichie sprang auf, der Stuhl kippte um, aber er beachtete diesen nicht. Ehrfürchtig betrachtete er dieses Symbol, dieses Wahrzeichen ihres Volkes. Seine Finger verharrten über dem Holz und Nian erkannte zu ihrem Erstaunen den Ehering, den er trug. Vorsichtig berührte er das Holz, als fürchtete er, dass es brennen würde.
„Mit diesem Bogen werden das Volk und Teile des Adels mir folgen und wenn ich Cesing einnehme, wird eine neue Zeit anbrechen.".
In Naichies Augen glänzten die Tränen.
„Und dennoch habe ich den Treueid auf die Kaiserin geschworen, nicht auf den Bogen und nicht auf dich.".
„Du hast ebenfalls geschworen, deinem Land zu dienen.", entgegnete sie vorsichtig.
„Die Kaiserin würde es dennoch als Verrat einsehen. Ich werde meine Eide nicht brechen, jetzt nicht. Gib bekannt, dass du den Bogen besitzt, dann wird das Volk nachvollziehen können, das ich übergelaufen bin, aber so...Meine Männer würden mir folgen, aber ihr Vertrauen hätte ich verloren. Und da ich meinen Eid gebrochen habe, werden sie auch nicht einsehen, dir zu gehorchen.". Er lächelte traurig.
„Ich kann den Fund nicht bekannt geben.", erwiderte sie. „Dann hätte ich keine Chance mehr, Cesing zu erobern, weil sie dann wissen, wohin ich ziehen würde.".
„Es tut mir leid, Nian. Aber ich kann und werde meine Eide nicht brechen.".
Sie neigte den Kopf, sie respektierte und verstand seine Entscheidung.
„Würdest du mir folgen, wenn ich Kaiserin wäre?".
„Wenn du dich als eine gerechte Kaiserin erweisen würdest – was ich nicht bezweifle – dann werde ich dir folgen.".
„Dann nehme ich dein Versprechen an und eines Tages wirst du in den Hallen stehen und den Treuschwur auf mich, den Bogen und unser Land schwören.".
Es war nur ein ferner Gedanke, aber es war eine Hoffnung, an der sie beide festhielten, um nicht zu zerbrechen.
Naichie legte sich seinen Umhang um und wandte sich zum Gehen.
„Nian? Ich bin nie in diesem Lager und nie in diesen Wäldern gewesen. Ich habe den Fehler meiner Route eingesehen und marschiere nach Niing, wie meine Befehle lauten.".
Sie lächelte.
„So sei es.".
Von nun an waren sie Verbündete, obwohl sie immer noch auf verschiedenen Seiten kämpften.
Über ihnen zwitscherten die Vögel und unter ihnen raschelten die Blätter. Der Wald kam Tabita wie eine Heimat vor, es war ein schönes Gefühl, weiter zu gehen, um zu Leben und nicht zu sterben. Was würde eigentlich danach kommen? Wie würde es in Anthar weitergehen, Tabita glaubte nicht, dass sie einfach an die Universität von Marsina zurück kehren konnte. Es war ein anderes Leben, ein Leben, was ihr fremd und unverständlich geworden war. Natürlich vermisste sie ihre Familie, aber sie wollte auch all das hier nicht zurück lassen. Und was war mit Hjorgcai und Felsenfaust? Sie hatten nicht darüber gesprochen, aber Tabita bezweifelte, dass die beiden mit ihnen kommen würden.
Sjavkonhkar rannte erneut als Löwe für ihnen, Joshua und Hjorgcai unterhielten sich über ihre Erlebnisse, Narichre führte ein Zwiegespräch mit ihrem Adler.
"Ich werde ihn losschicken.", erklärte sie mit einem Blick an die Halbelbe.
"Zur Niamey, damit sie den Hafen von Fjørev ansteuern können.".
"Werden sie uns überhaupt willkommen heißen?", fragte Joshua skeptisch.
"Den Gandijol ist es egal, wer in ihren Häfen anlandet, so lange sie gut zahlen.", erklärte Hjorgcai.
"Und Geld haben wir genug.", ergänzte Narichre, "ich habe noch genug hersorische Münzen, um sie zu bezahlen.".
Es war schön wieder beisammen zu sein, den Blick wieder an den Horizont zu richten.
Die Sonne strahlte an diesem schönen Tag im Frühsommer, Blumenfelder erhoben sich zwischen den Bäumen, Schmetterlinge, Bienen und andere Insekten huschten durch den Wald.
"Was war das?". Tabita hatte nichts gehört, aber Sjavkonhkar hatte gute Ohren. Joshua reagierte schnell und hielt dem Mann seine Waffe entgegen. Räuber. Ein dutzend Mann. Joshua nickte Tabita zu und sie verstand. Die Flucht war ihre Chance, im offenen Kampf konnten sie nicht siegen.
"Hjorgcai. Du deckst uns von hinten.", schrie Tabita, während sie zu Rennen anfing. Die Aweynche nickte und spannte ihren Bogen. Pfeile sirrten durch die Luft und neben ihr bohrte sich ein Dolch in einen Baumstamm. In wilder Flucht jagten sie durch den Wald. Sie sprangen Abhänge herunter und liefen durch Bäche. Tabita kam sich wie ein Hase vor, von Dutzenden Hunden und Jägern gejagt. Es war kein schönes Gefühl. Neben ihr rannte Narichre, während Hjorgcai ihren Rückzug deckte und Sjavkonhkar und Joshua die Räuber beschäftigten. Felsenfaust war verschwunden, aber Tabita vermutete, dass er sich in einer anderen Gestalt unter die Rebellen gemischt hatte. Tabita warf einen Blick zurück, die Männer hatten sich aufgeteilt und schienen sie einkreisen zu wollen. Ob Narichres Gerede über Geld sie angelockt hatte? Ein Bein stellte sich in Tabitas Weg und sie flog über dieses hinweg auf den Boden. Eilig richtete sie sich auf, warf sich zur Seite, als eine Schwertklinge auf sie zu raste. Dies waren gut ausgerüstete Räuber. Sie sprang auf und warf den einen Räuber um. Zusammen purzelten sie einen Abhang zusammen. Tabita schmeckte Blut, erkannte aber, dass sie sich nur auf die Zunge gebissen hatten und stand erleichtert auf. Der Mann lag am Boden, er war mit dem Kopf auf einem Stein aufgeprallt. Sie sah sich um. Vor ihr schlängelte sich ein Bach entlang, der Wald hatte sich gelichtet und offenbarte eine sumpfige und morastige Landschaft.
"Die Sümpfe von Tarie.". Tabita wandte sich zu Narichre um.
Geschrei unterbrach die Stille und die beiden Frauen sahen zurück. Am Abhang liefen Joshua, Sjavkonhkar und Hjorgcai, gefolgt von den Räubern.
"Komm.". Narichre zog Tabita durch den Bach. Wasser drang in ihre ohnehin schon nassen Stiefel und ließ sie erzittern.
Die anderen überquerten ebenfalls den Bach, aber zu ihrem Erstaunen erkannte sie, dass die Räuber ihnen nicht folgten. Wie eine Grenze trennte sie der Bach, der so leicht zu durchqueren war. Kopfschüttelnd wandten diese sich an und ließen sie zurück.
"Die Sümpfe von Tarie.", Hjorgcai seufzte, "Ich wäre lieber an einem anderen Ort. Hier leben Vendirell, die Windläufer, Hexenvolk.".
Eine graue Landschaft, überzogen von Torf, vereinzelte knorrige Bäume. Nebenschwaden hingen über den Sümpfen und der Boden schmatzte unter jedem Schritt, den sie machten.
Vendirell, es waren wage Erzählungen und Märchen, die Tabita über dieses Volk wusste.
Über ihnen verdeckte ein Schatten, das ohnehin schon geringe Licht der Sonne. Sie sah nach oben, doch der Schatten war schon verschwunden. Stattdessen hallte einen Stimme durch den Sumpf, hohe lang gezogene Töne, die Tabita seltsam klagend vorkamen. Endlich verstand sie, was gemeint war: "Willkommen Narichre und ihre Gefährten, in den Ländern der Vendirell.".
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