Die Welt flog unter ihnen dahin. Die Wälder verschwammen zu grünen Farbtupfern und die Veränderung, die ihr auffiel, war die Kälte. Es war nicht nur die Kälte der Luft, es wurde insgesamt kälter. Sie flogen in den Norden, in die Länder der Gandijol. Die Vendirell leiteten sie durch den Himmel. Das Fliegen war wie laufen, sie liefen auf unsichtbaren Pfaden, die in den Himmeln verliefen, nur das es tausendmal schneller war als ein gewöhnlicher Lauf. Über ihnen glänzte die Sonne durch die Wolken hinweg, die den Himmel an diesem Tag bedeckten und unter ihnen zog die Erde dahin.
Es schienen nur wenige Minuten vergangen als die Vendirell anhielten. War es wirklich so einfach? War eine wochenlange Reise zu Minuten verschrumpft? Die Landschaft unter ihnen wurde deutlicher. Tabita erkannte Gras, das sich im Wind wiegte und eine Stadt, die sich in der Ferne erhob. Dann setzten ihre Füße auf dem Boden auf. Für einen Moment stolperte sie, dann fing sie sich.
„Wo sind wir?", fragte Sjavkonhkar keuchend.
„Zwei Stunden Marsch von Fjørev entfernt.", erklärte die Vendirell.
„Wartet ihr?", fragte Hjorgcai leise.
„Wir warten bis morgen früh.".
Hjorgcai nickte erleichtert.
„Ich werde euch noch in die Stadt begleiten und dann in meine Heimat zurückkehren.", meinte sie, „Kommst du mit mir, Felsenfaust oder bleibst du bei ihnen?".
„Ich weiß es noch nicht.", antwortete der Nalinow angespannt.
Tabita nickte, etwas Zeit blieb ihnen noch.
„Ist die Niamey in den Hafen eingelaufen?".
In diesem Moment schrie über ihnen ein Alder. Narichre streckte ihren Arm aus und der Adler ließ sich darauf nieder.
„Ja.", erwiderte sie nur wenige Sekunden später. Vorsichtig strich sie Tcharon mit einer Feder über das Gefieder.
„Kommt.", erklärte Joshua und zog sie vorwärts.
„Bis später.", verabschiedete Hjorgcai sich von den Vendirell. Dann gingen sie los. Die Landschaft erinnerte sie mehr an die aus Sehjoldon als die aus Sahres. Steppenartige Landschaften, in der Ferne erhob sich ein Gebirge gegen den Himmel, Felsen, die sich in den Steppen erhoben. Ein eisiger Wind durchdrang ihre Kleidung und ließ sie erzittern.
Umso näher sie der Stadt kamen, umso mehr Menschen begegneten ihnen. Diese schienen sich nicht darüber zu wundern, dass die Gruppe so anders war. Aber in diesem Land versammelten sich Menschen aus aller Herren Länder, der Sklavenhandel blühte, die Gandijol trieben mit vielen Ländern Handel und überfielen noch mehr Schiffe. Die Menschen aus Gandijol besaßen blondes oder braunes Haar, kräftige Körper und braune Augen und alle, wirklich alle, waren bewaffnet. selbst die Frauen trugen mindestens ein Messer, die Menschen Ciyens versteckten Waffen wenigstens, aber diese zeigten mit grimmiger Miene, dass sie sich zu verteidigen wussten. Äxte, Speere, Messer, überall tauchten sie auf, obwohl die Menschen Händlerkarren zogen. Endlich tauchte die Stadt Fjørev vor ihren Augen auf. Vor der Stadt waren Wälle errichtet worden, auf denen hölzerne Wachtürme standen Sie war komplett anders als Tabita es gewöhnt war. Die Stadt war durch einen Palisadenzaun geschützt, die Häuser aus Holz erbaut. Aber sie waren nicht wie die prächtigen Bauten Cesings, sondern viel einfacher. Die Stadt wirkte unordentlich, Häuser waren quer auf Straßen gebaut, die Gassen waren eng und es gab keinen zentralen Platz wie den Palast in Cesing. Überall wurden Menschenrufe durch die Luft getragen und Kinderlachen ging darin unter. Hunde versuchten von den Frauen etwas zu ergattern, die ihre Waren anboten, um dafür Tritte zu kassieren. Tabita sah einen Schmied, der ein Messer bearbeitete, Frauen, die Wasserkrüge schleppten.
„Gandijol.". Hjorgcai lächelte ihr zu, „Sie sind auf den Meeren gefürchtet und als Söldner geschätzt - solange man sie bezahlen kann.".
„Wie sie wohl ihre Bogen fertigen?", murmelte die Aweynche nachdenklich und verschwand dann in der Menge.
„Komm.". Narichre zog sie weiter. Die mit Reet gedeckten Häuser traten zur Seite und offenbarten das Meer und den Hafen. Es roch nach Fisch, Teer und Salz. Schiffe wurden beladen, Münzen wechselten den Besitzer und Schiffe verließen den Hafen.
„Da!", rief Narichre freudig und wirkte auf einmal wie ein kleines Kind, das ein Spielzeug entdeckt hatte.
Und es war die Niamey. Das Schiff ragte zwischen den anderen Schiffen hervor, es war größer als die schmalen und wendigeren Schiffe der Gandijol. Narichre richtete sich auf und nahm erneut die Gestalt der Anführerin, der Kapitänin an. Gleich würden die Befehle wieder durch die Luft schallen. Tabita lächelte, ihr Weg in die Heimat lag vor ihnen. Sie sah zu den anderen. Sjavkonhkar nickte ihr zu, sein Gesicht war eine undurchdringbare Maske, ob er sich freute, die Wüsten und seine Schwester wieder zusehen? Felsenfaust wirkte in sich gekehrt, nachdenklich, als ob er eine Last tragen würde. Joshua dagegen sah sich um und beachtete das Schiff kaum.
„Ich gehe Hjorgcai suchen.", meinte er wenig später. Tabita erschrak. Würde sie ihn an die Aweynche verlieren?
„Joshua.". Sie hielt ihn zurück. „Sie wird nicht mit uns kommen.".
„Ich weiß.", erklärte er. Warum hatte sie es nicht früher erkannt?
„Joshua. Sie wird dich zurückweisen.".
„Woher willst du das wissen?". Sein Zorn verletzte sie.
„Weil sie ihr Volk liebt und ihr Volk über jegliche Gefühle stellt.". Sanft sah sie ihn an. „Joshua...".
Aber er wandte sich ab und verschwand zwischen den Menschen. Liebe machte blind. Tabita sah ihm hinterher, dann trat sie auf die Niamey zu. In diesem Moment hasste sie Hjorgcai, weil sie das Herz seines Bruders besaß und er sich damit gegen sie selbst und seine Familie entschied. Mit schwerem Herzen trat sie zu den anderen und sah an den Horizont. Ihre Heimat wartete auf sie.
Die Straßen und Wege vor der Stadt Cesing waren lebendig, aber es waren nicht die Händler und die Bauern, die sonst zur Stadt strömten, es waren Soldaten und Handwerker, die die Straßen füllten. Sie wichen eilig zur Seite und machten Platz, als sie Tanju und die Männer der Wenzon bemerkten. Tanju war mit der Schlacht bei Gerui nicht unzufrieden. Es war für ihn von Anfang an offenbar gewesen, dass es für ihn keinen Sieg geben konnte. Aber er hatte nur geringe Verluste, während der Gegner viel mehr für sich verbuchen musste. Er hatte Zeit verschafft, um Cesing für einen Angriff vorzubereiten. Und wie er bemerkte, war die Zeit wichtig gewesen. Überall hoben Arbeiter Gräben aus, Gruben, die mit Speerspitzen versehen waren, Wälle.
Tanju nickte zufrieden und trieb sein Pferd noch mehr an. Wie eine Schlange gekleidet in Leder und Eisen grub sich sein Heer durch die Landschaft, bis sie endlich die Stadt erreichten. Die Stadtwachen ließen sie durch und verneigten sich vor Tanju. Stimmen wurden laut, sie erzählten über die Rückkehr der Wenzon. Hatten sie etwa gedacht, dass er nicht zurückkehren würde?
„Du übernimmst den Befehl, die Männer sollen in ihre Quartiere, sich ausruhen und sich dann bei Savui, dem Befehlshaber des hier verbliebenen Soldaten des Wenzon melden und einteilen lassen.“, befahl er seinem Adjutanten. „Ich werde Acheving Bericht erstatten.“. Sein Adjutant salutierte. Tanju trieb sein Pferd an und ließ das Heer hinter sich. Rücksichtslos ritt er durch die Gassen, es war keine Zeit für Vorsicht. Wie aufgescheuchte Hühner sprangen die Menschen davon, sobald er ihren Weg kreuzte, um den wirbelnden Pferdehufen zu entgehen.
Als er den Palast erreichte, sprang er vom Pferd, reichte die Zügel einem überraschten Soldaten und eilte in das Gebäude.
„Wo finde ich den Prinzen?“, fragte er einen Diener.
„In einer Besprechung mit der obersten Heerleitung.“, erwiderte dieser und fügte dann eilig hinzu: „In seinen Gemächern.“. Tanju eilte weiter. Er drückte die Tasche mit den Aufzeichnungen und Karten an sich, diese würde er gleich benötigen. Schon aus der Ferne drangen die diskutierenden Stimmen zu ihm. Missbilligend schüttelte er den Kopf, zu leicht konnte ein falsches Wort an einen Diener gelangen und von diesem an das Volk. Entweder mussten die Offiziere leiser oder die Türen aus dickerem Material sein. Tanju atmete durch, dann trat er ein. Abrupt verstummten die Gespräche, sie alle starrten ihn an. Acheving, Wion, Jisu und wie sie alle hießen. Allerdings fehlte Lao, der die Armee eigentlich anführte, wobei in letzter Zeit Acheving die Zügel in die Hand genommen hatte. Und das tat er noch nicht einmal schlecht, hatte Tanju festgestellt.
„Man erzählt, dass eure Armee vernichtet ist und Ihr in Gefangenschaft.“, meinte Jisu, der nach Nian Laos Stabschef geworden war.
„Dann seid Ihr schlecht informiert. Wie Ihr seht, lebe ich und meine Armee ist eben in Cesing eingezogen.“, entgegnete Tanju kühl.
„Mein Herr. Ich melde mich zurück.“. Er verneigte sich vor Acheving. Dieser nickte ihm zu.
„Wie sieht es aus?“. Er räumte Karten und Bücher von dem Tisch und bedeutete ihm, die Karten auszubreiten.
„Wie viele Verluste haben die Rebellen erlitten?“, fragte Wion begierig auf Informationen.
„Das ist mir noch nicht bekannt, meine Quellen haben noch keine genauen Angaben gemacht.“.
„Welche Quellen? Sind diese verlässlich. Namen?“.
Tanju funkelte ihn an. „Ich kann und werde die Identität meiner Quellen nicht bekannt geben, um ihrer Sicherheit willen.“.
„Sicherheit? Wollt ihr uns etwa unterstellen, den Feind zu unterstützen.“, protestierte einer der Generäle sofort.
Tanju seufzte müde. „Wer von Euch kann mir garantieren, dass er bei zu viel Wein oder vor einer Frau nicht einige Worte verliert? Niemand! Und deshalb werde ich meine Quellen nicht bekannt geben.“.
Sofort wurden einige Stimmen laut, aber Acheving unterbrach sie: „Meine Herren! Wenn sie uns jetzt entschuldigen würden, diese Beratung ist hiermit beendet.“.
Mit wütenden Blicken verließen die Generäle den Raum. Acheving schenkte ihm einen Becher Wasser ein und reichte es ihm.
„Seid Ihr verletzt?“, bemerkte er vorsichtig, als er sah, wie Tanju bei dem Heben des Armes zusammenzuckte.
„Eine Pfeilwunde. Es gibt andere, die schlechter dran sind als ich.“.
Acheving akzeptierte diese Erklärung stillschweigend.
„Noch einmal, wie sieht es aus?“.
Tanju deutete auf die Karte und erklärte ihm den Verlauf der Schlacht, so weit er selbst den Überblick besaß.
„Verluste?“.
„Etwa ein Drittel der Infanterie und ein Viertel der Kavallerie.“.
Acheving nickte anerkennend: „Das ist gut. Wie hoch schätzt Ihr die Verluste des Feindes ein?“.
„Meines Erachtens nach etwa die Hälfte.“, erwiderte er zögernd. „Allerdings ist zu beachten, dass aus dem Norden weitere Verstärkung kommt.“.
„Das ist mir bewusst.“, entgegnete Acheving, „Habt Ihr Offiziere verloren?“.
„Mein Verbindungsoffizier Hanu ist in Gefangenschaft geraten, drei Offiziere sind gefallen.“.
„Hanu. Ich habe mit ihm bei Milon gekämpft. Habt Ihr hochrangige Offiziere, die man eintauschen kann?“.
„Einen General, Herr. Er führte den Angriff auf Gerui.“.
„Sein Name?“.
„Ich glaube, Diong.“.
„Ich möchte ihn später verhören. Wie viele Verletzte habt ihr?“.
„Etwa zwanzig Mann Infanterie werden nicht an den Kämpfen teilnehmen können, der Rest hat leichte Verletzungen.“.
„Das heißt wir haben etwa zweihundertachtzig Mann und fünfundsiebzig Mann Kavallerie von euch, sowie die sechshundert Mann der Infanterie der Wenzon, die hier verblieben sind und die zweihundert Mann Kavallerie. So schlecht ist das nicht.“.
„Was ist mit der Stadtwache? Auf welcher Seite steht sie?“, fragte der junge General.
„Ich weiß es nicht. Euch kommt die Aufgabe zuteil mit Datiung zu sprechen und die Position der Stadtwache heraus zu finden. Ihr seid entlassen, Tanju. Ich bin zufrieden mit Euch.“. Tanju rührte sich nicht.
„Herr?“, fragte er vorsichtig. Acheving sah auf und nickte. „Habt Ihr Nachricht von meinem Vater?“.
„Nein, weder von Eurem Vater Wan noch von Naichie oder sonstigen Generälen ist Nachricht gekommen. Ich werde Euch eine Nachricht zukommen lassen, sobald ich Neuigkeiten habe.“.
Tanju verneigte sich. „Ich danke Euch, Herr.“.
Dann verließ er die Gemächer des Prinzen, um sich für die Schlacht vorzubereiten.
„Wir müssen überlegen, wie wir uns verhalten.“. Gijong sah in die Runde der Generäle und Offiziere. Alle drei Oberbefehlshaber der Chevin waren vertreten: Gijong, Wan und Naichie.
„Die Rebellen schicken Verhandlungsangebote und wollen uns zum Frieden bewegen. Wollen wir die Kaiserin noch länger unterstützen?“.
Laute Rufe füllten die Versammlung, doch es war deutlich, das das „Nein“ überwiegte.
„Was hat die Kaiserin uns gebracht? Einen Krieg, den wir nicht länger wollen, brennende Dörfer und korrupte Adelige, denen sie, um sich ihre Unterstützung zu sichern, alles erlaubt.“, schrie ein junger Offizier.
„Richtig!“, brüllte ein weiterer.
„Eine neue Kaiserin, eine von uns.“, forderten weitere.
„Nian. Sie führt die Rebellen an und sie war eine gute und gerechte Stabschefin. Sie stammt aus dem Volk.“, erklärte Naichie zum Erstaunen aller. „Sie ist die Person, die wir benötigen, um ein starkes Land zu schaffen.“.
Wan stand auf. „Wie viel hat sie Euch bezahlt, um Euch auf ihre Seite zu bekommen, Naichie?!“.
Protestrufe wurden laut, Schreie.
„Lasst uns abstimmen.“, rief jemand.
„Gut, wer ist dafür, dass das Heer länger die Kriege der Kaiserin kämpft?“. Einige Hände streckten sich zögernd in die Höhe, aber sie gingen in der Menge unter.
„Wer ist dafür, dass das Heer inne hält und die Kaiserin ihre Kämpfe alleine ausfechtet?“. Die Hände schossen in den Himmel. Jubelrufe wurden laut.
„Gibt es Einspruch?“.
Wan stand auf, der alte General fasste nach seinem Schwert. „Ich spreche dagegen. Mein Chevin wird weiterhin für die Kaiserin fechten.“. Dann verließ er den Raum. Naichie und Gijong sahen sich an, sie nickten sich zu. Über den General war ein Todesurteil gesprochen.
Hjorgcai strich durch die Menge und betrachtete die Stände neugierig. Sie war die lärmenden Städte nicht gewohnt, die Märkte, all das gab es in ihrer Heimat nicht. Und jetzt würde sie zurückkehren. Sie war nicht mehr die Selbe, sie hatte sich verändert und würde dadurch ihre, Heimat verändern. Ihren Schwur hatte sie nicht vergessen, sie würde sich an Hes-Argan rächen und dem Taidschie die Macht entreißen, sie die rechtmäßige Khatun. Und sie wusste auch wohin ihr Weg als nächstes führen würde und das war vorerst nicht das Lager des Khans, sondern das Lager von Saruul. Saruul, die Schwester von Esren, dem Taidschie vor Hes-Argan und Hüterin eines unvorstellbaren Schatzes. Einem Schatz, den Hes-Argan unbedingt in die Hände bekommen wollte und der die Rettung für ihr Volk bringen konnte.
Hjorgcai sah auf als jemand sie an der Schulter packte. Sie zog ihr Messer und schlug nach der Hand.
„Lass mich los.“, fauchte sie und starrte die drei Männer an, von denen einer sich die blutende Hand hielt.
„Verfluchte Aweynche.“, knurrte einer. „Wegen deinem Volk sind meine Söhne tot.“.
„Aber sie haben nicht gegen mich gekämpft.“, entgegnete Hjorgcai und hielt ihr Messer vor sich. Sie versuchte an ihren Bogen heranzukommen, aber der Platz in der winzigen Gasse abseits des Marktes reichte nicht aus.
Der Mann spuckte auf den Boden. Verwegene Gestalten waren es, zerrissene Kleidung, dem einen fehlte ein Auge, dem anderen eine Hand.
„Wie viel Lösegeld zahlt dein Volk für dich? Oder bist du verbannt? Fürstin?“. Das Wort klang wie Hohn in seinem Mund. Er deutete auf ihren Hut und Hjorgcai verfluchte sich, dass sie ihn nicht abgelegt hatte. Die kostbaren Steine, die ihn schmückten und ihren Stand anzeigten, waren dafür gemacht, Menschen anzulocken.
Als Antwort ließ sie die Waffen sprechen. Sie tauchte unter einem Mann hinweg, schlug ihm in die Magengrube, trat einem weiteren gegen die Kniescheibe. Der Dritte zog ein Kurzschwert und Hjorgcai entgegnete seine Schläge mit dem Messer. Wo hatte sie ihr Khelm gelassen? Schweißtropfen rannen ihr über die Stirn als sie ihr Messer gegen seine Klinge anhielt. Mit einem Schritt trat sie zurück, ließ seinen Schlag ins Leere treffen und bohrte ihm ihre Klinge in den Oberarm. Sie wollte davon laufen, aber die beiden anderen versperrten ihr den Weg. Nun gelang es ihr, einen Pfeil aus ihrem Köcher zu ziehen, jedoch fehlte ihr die Zeit, diesen in den Bogen einzulegen. Mit Pfeil und Messer bewaffnet, trat sie auf sie zu. Tauchte unter einem Angriff hinweg, entgegnete den Nächsten. Ausweichen, angreifen. Ein ewiges Spiel, der Hase und die Hunde. Ein Mann verwundete sie am Arm, ein weiterer verpasste ihr einen Schnitt an der Wange. Es war nicht mehr allein das Blut der Männer, das den Boden tränkte.
Auf einmal sackte einer der Männer zusammen und hinter ihm tauchte das ewig grinsende Gesicht von Joshua auf.
„Benötigst du Hilfe?“, rief er ihr zu. Gemeinsam trieben sie die übrigen beiden zurück, bis diese in der Gasse verschwanden, aus der sie gekommen waren.
„Danke.“, erklärte sie leise und sah ihn an.
„Früher hättest du das nicht gesagt.“, meinte er und fragte dann mit einem Blick auf ihre Wunden: „Geht es?“.
Sie betastete vorsichtig ihre Wange. Ein Schnitt, der zwar stark blutete aber nur oberflächlich war, es würde sich eine Narbe zu den Übrigen dazugesellen. Der Arm war auch nicht weiter schlimm, es schmerzte nur bei jeder Bewegung.
„Joshua.“. Leise sprach sie seinen Namen aus und sah ihn an. „Ich werde gehen.“. Sie hatte es die ganze Zeit in seinen Augen gelesen, sie hatte es nur nicht wahrnehmen wollen. Was sie selbst empfand, wusste sie nicht. Sie wusste, dass sie ihn mochte und respektierte, aber sie wusste ebenfalls, dass für Liebe in ihren Plänen kein Platz war.
„Ich weiß.“, entgegnete er sanft, „Hjorgcai.“. Seine Aussprache war seltsam. Er vermochte es nicht, den harten ch-Laut am Anfang zu bilden oder er setzte ein i davor.
„Chjovkai.“, erklärte sie ihm zum wiederholten Mal.
Er ging nicht darauf ein.
„Und ich weiß, dass ich dich auf deinem Weg nicht begleiten kann.“.
„Nein, das kannst du nicht.“.
„Aber ich werde warten, bis du von deinem Volk nicht mehr gebraucht wirst.“.
„Was ist mit deinem Volk? Deiner Schwester? Und wenn ich ein Leben lang für meine Pläne kämpfen muss?“. Ausreden, so viele Ausreden, die sie zu finden versuchte.
„Mein Volk benötigt mich nicht, mein Bruder wird auf den Thron steigen und es ist gut. Meine Familie liebt mich, aber sie lässt mich auch meine eigenen Wege gehen. Ich entscheide mich für dich. Und wenn es jemand schafft, die Einheit zu vollbringen, dann bis du es. Hjorgcai.“. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und sie schlug seine Hand nicht weg.
„Ich werde noch einmal in meine Heimat zurückkehren, um den kommenden Krieg zu fechten und mich von meiner Familie zu verabschieden. Dann komme ich nach Sehjoldon, wenn du es willst.“. Er schob sein Schwert in die Scheide. „Ich warte auf dich.“, erklärte er erneut, bevor er sich abwandte. Dann ging er und sie ging ebenso. Sie hatte sich entschieden, den Weg als Khatun zu beschreiten, einen Weg geprägt von Macht und Einsamkeit. Vielleicht würde sie ihn eines Tages wieder sehen, wenn sie beide ihre Schlachten geschlagen hatten. Dann wandte sie sich ebenfalls ab, um der Stadt und dem Schiff, das im Hafen lag, den Rücken zu zuwenden und die Augen auf ihre Heimat zu richten.
Das Schiff war so weit. Sie würden aufbrechen, sobald Joshua wieder zurück war.
„Tabita.“. Sie sah auf und erblickte Felsenfaust. Er winkte sie zu sich und sie folgte ihm hinter ein paar Kisten.
„Die Zeichen auf dem Bogen bedeuten Doeron Tiarev.“. Er sah sie an und sie verstand, was für eine Überwindung ihm das gekostet hatte. Sie spürte die Macht durch den Boden rinnen, die Macht des Namens eines Nalinows, der Name von Darl Schattenklinge.
„Warum?“.
„Er ist mein Bruder.“. Er lächelte. „In unseren Adern fließt das Blut desselben Vaters. Es ist schwer, Familienbande zu brechen.“.
„Ich weiß.“. Ermunternd sah sie ihn an.
„Ich werde nicht nach Sehjoldon zurückkehren, sondern versuchen mein Volk zur Umkehr zu bewegen.“. Überrascht betrachtete sie den Nalinow.
„Vielleicht wird es nie zu diesem Krieg kommen.“.
„Vielleicht.“, stimmte sie ihm zu, obwohl sie nicht daran glaubte. Sie hatte den Hass gespürt, uralte Gefühle, mächtig und unaufhaltsam. Sie glaubte nicht daran, dass dieser Hass durch einfache Worte besiegt werden konnte, außer durch die Worte, die Felsenfaust ihr grade ins Ohr geflüstert hatte.
„Es ist eine Waffe.“, meinte er, „Eine Waffe von der du selbst zu entscheiden hast, welchem Herrn sie dient.“.
„Ebenso habe ich mein Todesurteil unterschrieben.“. In ihrer Stimme war keine Angst zu hören aber es war die Wahrheit.
„Ja. Den Namen eines Nalinows zu kennen, ist ein tödliches Geheimnis. Doch du wirst die Waffe richtig einsetzen.“. Er umfasste ihr Handgelenk. „Ich vertraue dir.“. Eindringlich sah er sie an. Sie nickte.
Dann stand er auf und wandte sich zum Gehen.
„Felsenfaust.“, rief sie ihn leise zurück. „Was bedeutet der Name?“.
„Schattenklinge. Der Name bedeutet Schattenklinge.“. Dann ging er davon, um einen Krieg zu verhindern, von dem sie beide wussten, dass er unaufhaltsam war.
Tabita stand auf und ging an die Reling. Unter ihr glänzte das Meer, der salzige Geruch hing in ihrer Nase und über ihr schrieen die Möwen. Ruhig atmete sie ein. Sie sah nicht auf, als Joshua das Schiff betrat und sich zu ihr stellte. Sie kannte seine Entscheidung, bevor er sie ausgesprochen hatte, sie konnte sie ihm in den Augen ablesen. Er umfasste ihre Hand.
„Eine letzte Reise?“.
„Einverstanden.“.
Der Wind trug die Worte von ihren Lippen davon, aber er verstand sie dennoch. Dann setzte die Niamey die Segel, Fjørev und Sahres verschwanden am Horizont. Ihre Reise neigte sich dem Ende zu. Sie alle hatten sich verändert, sie waren nicht mehr die Selben wie zu Beginn.