Schattenklinge hielt inne und lauschte. Der Boden unter seinen Füßen vibrierte, die Blätter raschelten und trugen ihm eine Botschaft zu. Eine Botschaft, die aus der Ferne kam und weit gereist war. Eine gefährliche Botschaft. Jemand kannte seinen Namen...die Blätter wisperten es ihm zu. Doeron Tiarev. Lange schon hatte niemand mehr diese Worte ausgesprochen, der letzte war sie gewesen. Sie, Nerileni Karyndo, die einzige Person, die er je geliebt hatte und der er seinen Namen verraten hatte. Viel Zeit war seitdem vergangen und die Liebe war nur noch stärker geworden, aber jetzt trug sie Hass bei sich. Hass auf diejenigen, die sie getötet hatten. Die Narben waren noch nicht verheilt, noch lange nicht. Vielleicht würden sie verheilen, wenn er wüsste, dass sie gerächt war? Schattenklinge ging weiter. Schattenklinge, vielleicht hatte er sich damals in Niamey als er nur ein Dieb gewesen war, nach seinen wahren Namen benannt, weil er dieses ewige Versteckspiel satt war. Er hatte Kayra damals die Wahrheit gesagt, Schattenklinge war sein Name gewesen, nur in einer anderen Sprache. Es tat ihm leid, dass Kayras Kinder nun Opfer seines Hasses geworden waren. Aber sie waren entkommen, er hatte gespürt wie der Baum sich zur Seite bewegt hatte, um den Weg freizumachen und er hatte nichts getan, um dies zu verhindern. Vielleicht hatte er es nur Kayras wegen getan. Er verstand es nicht. Er wusste nur, dass die Zeit der Rache gekommen war. Das Volk der Nalinow sammelte sich.
Stöhnend richtete Diong sich auf. Was war geschehen? Die Schlacht, der Ritt. Er trat an die Gittertür, Fackeln warfen Schatten an den Gang, der sich tief unter der Erde zu befinden schien. Schritte ertönten und Diong sah auf. Drei Männer kamen auf ihn zu, wobei zwei der Kerkerwache anzugehören schienen. Eine der Wachen schloss die Tür auf und der eine Mann trat ein. Er trug einen einfachen Brustpanzer, eine schwarze Lederhose und die dunklen Haare waren zurückgebunden. Diong spürte seine Blicke auf sich ruhen.
„Hier.“. Er reichte ihm einen Wasserbeutel. Gierig nahm Diong das kühle Nass an sich und spürte es seine trockene Kehle hinunter rinnen.
„Dein Name ist Diong?“, fragte der Mann. Diong nickte nur.
„Ich bin Acheving, Sohn von Dioargchie.“. Überrascht sah Diong ihn an. Mit der einfachen und zweckmäßigen Kleidung wirkte er nicht wie ein Prinz und zerstörte damit das Bild, das Diong von ihm und der Kaiserfamilie gehabt hatte. Das Einzige, was seine Stellung anzeigte, war ein Siegelring, der den Drachen der Kaiserfamilie zeigte, den Diong vorher nicht bemerkt hatte.
„Du bist General von Nian?“. Er nickte.
Auf einmal fing Acheving an zu lachen, ein dröhnendes tiefes Lachen, das den Kerker erfüllte.
„Seht mich an.“. Er streckte die Arme aus. „Sehe ich gefährlich aus? Mir fällt das Reich unter den Händen weg, ich bin Prinz eines Reiches, das nicht mehr existiert. Mir steht das Wasser bis zum Hals. Ich habe zu wenige Männer, als das ich einer Belagerung lange standhalten kann und ehrlich gesagt glaube ich nicht, das das Heer länger auf meiner Seite steht.“. Diong hatte nicht erwartet, dass der Prinz seine Probleme so offen zugeben würde.
„Was habt Ihr mit mir vor?“, fragte er leise.
„Da ich nicht viel länger ein Prinz bin, dürft Ihr mich duzen.“.
„Gut, ihr...du mich auch.“, ging er auf das ungewöhnliche Angebot ein, „Willst du mich eintauschen, als Geisel nehmen?“.
„Wieso? Es wäre für uns alle besser, wenn Hanu in Gefangenschaft verbleibt und eine Geisel würde Nian nicht aufhalten.“. Er betrachtete ihn nachdenklich. „Egal, was sie dir erzählt, denke daran, dass sie immer nach ihren Interessen handelt und nichts über diese stellt.“. Diong nickte.
„Das Einzige, um was ich dich bitte, ist ein schneller Tod für meine Schwestern, denn ich glaube nicht, dass Nian sie gehen lässt.“.
„Noch ist nicht gewiss, wie dieser Kampf ausgehen wird, aber ich werde ein Wort für deine Schwestern bei ihr einlegen, versprochen. Wobei ich nur die eine gesehen habe.“.
Acheving lächelte und ein wehmütiger Ausdruck trat auf sein Gesicht.
„Du wirst die Ältere gesehen haben, die Jüngere Len, hat den Palast noch nie verlassen. Sie hat eine Krankheit, sie kann nicht richtig denken und benimmt sich wie fünf, obwohl sie elf ist. Aber sie ist süß, sie bringt mir immer Blumen und schenkt mir Bilder. Die Ältere versucht erwachsen zu tun, obwohl sie es mit zwölf noch nicht ist. Sie ist mit dem Wissen aufgewachsen, dass sie eines Tages die Kaiserkrone tragen wird und das hat ihr ihre Kindheit genommen.“. Er lächelte. „Ich werde mich von ihnen verabschieden, bevor ich in die Schlacht ziehe, mehr wünsche ich mir nicht.“. Er stand auf und schloss die Zellentür auf.
„Geh jetzt.“. Verblüfft sah Diong diesen Mann an, von dem er sich nicht länger vorstellen konnte, dass er ein Prinz war.
„Wie ich soll gehen?“.
„Was willst du denn hier? Bringe dich jetzt in Sicherheit, wo der Kampf noch nicht begonnen hat und denke an dein Versprechen.“. Diong sah zwischen dem Prinzen und der Freiheit hin und her. Konnte es wirklich so einfach sein? Dann stand er auf.
„Ich wünsche mir, dass wir uns nicht als Feinde kennen gelernt hätten.“, erklärte er leise und lächelte Acheving an.
Dieser neigte den Kopf. „Ich ebenfalls. Möge die Sonne sich zu deinen Gunsten erhellen.“.
„Möge die Sonne sich zu deinen Gunsten erhellen und der Drache seine Flügel über dir ausbreiten.“.
„Glaubst du dass, das Kaiserhaus noch lange besteht? Der Drache wird mit ihm untergehen.“, erwiderte Acheving, „Geh jetzt.“.
Diong sah nicht zurück zu diesem Mann, von dem sie beide wussten, dass er untergehen würde.
In der Ferne tauchten die ersten Lichter auf. Hunderte Fackeln formatierten sich zu einem Haufen und Acheving wusste, dass Nian ihr Lager aufgeschlagen hatte. Jemand trat neben ihn und Acheving erkannte Tanju.
„Und?“, fragte er leise.
Er schüttelte den Kopf.
„Sie werden nicht für uns kämpfen.“.
„Ich habe es geahnt.“.
„Aber die Stadtwache wird sich wenigstens neutral verhalten.“.
„Oder sie werden uns in den Rücken fallen.“, konterte Acheving besorgt.
„Wer weiß?“. Tanju schwieg wieder und sah in die Finsternis.
„Mein Kaiser.“. Er kniete nieder. „Ich werde immer auf eurer Seite sein.“.
Acheving sah sich um, aber niemand hatte sie bemerkt.
„Ich bin nicht euer Kaiser, meine Mutter ist die Kaiserin und ich bin nur ihr Sohn.“.
„Und doch seid Ihr das Herz des Kaiserhofes.“, entgegnete Tanju und erhob sich.
„Wenn wir sterben.“, meinte Acheving leise, „Dann als ebenbürtige...Freunde.“.
„Seite an Seite.“, bestätigte der General.
„Kommt.“, erklärte der Prinz grimmig, „Wir haben eine Stadt zu verteidigen und eine Schlacht zu schlagen.“.
Die ersten Strahlen der Morgensonne färbten den Himmel rot, nur mühsam drang das Licht auch durch die Nebelschwaden, die über den Mauern der Stadt Cesing hingen. Sie mischten sich mit dem Licht der Fackeln, die Schatten auf die angespannten Gesichter der Männer warfen. Hunderte waren es, die auf den dicken Steinmauern standen und den Blick in die Ferne richteten, auf das Lager der Rebellen. Es waren zwei Mauern, die die Stadt schützten, sowie die Mauern des Palastes, der als letzter Zufluchtsort genutzt werden konnte.
Acheving wusste um die Anspannung der Männer, aber er wusste auch um ihre Treue für ihr Vaterland und er hatte lange verstanden, dass es keinen Sieg geben würde, auch wenn seine Mutter noch verzweifelt daran festhielt. Seine Mutter, in gewisser Weise hatte Tanju Recht, sie regierte nicht wirklich. Sie gab zwar die Befehle, aber sie interessierte sich nicht für das Volk, das auf ihren Feldern schuftete, sie dachte nicht über die Kinder nach, die auf den Straßen verhungerten, ihr war es egal, warum ein Dieb zudem geworden war, was er war. Sie dachte nur an ihr Profit. Sie wollte den Thron unbedingt halten, aber nur für ihren eigenen Vorteil. Vielleicht hatte Nian auch Recht, vielleicht wäre es tatsächlich besser, wenn sie regieren würde. Würde es die Aufstände geben, wenn er selbst regieren würde? Aber Männer durften nicht regieren, die Kaiserkrone war Frauen vorbehalten.
Ein letztes Mal ging Acheving durch den Palast. Er ging nicht in den Thronsaal, wo seine Mutter saß und sich über die Situation vor den Mauern berichten ließ, anstatt selbst bei ihren Männern zu stehen. Nein, er ging zu seinen Schwestern. Sanft schob er die Tür auf, die zu ihren Gemächern auf, atmete tief ein und trat in den Raum. Die beiden lagen in ihren Betten und schliefen. Fast war Acheving froh, dass es so war, das er keine Worte finden musste, um sie zu beruhigen. Ob sie verstanden, warum mehr Wachen als sonst vor ihren Türen standen? Ob sie nach ihm rufen würden, wenn das Schwerterklirren auch vor ihrer Tür erklang? Er trat zuerst zu Jinjin und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Er griff nach seinem Messer und schnitt ihr eine Locke ab. Dann ging er zu Len und machte dasselbe bei ihr. Nur dass sie die Augen aufschlug. Sie blickte ihn an, aus diesen Augen, die wie Sterne leuchteten. „Alles gut.“, beruhigte er sie, „Schlaf gut, Prinzessin.“. Sie lächelte und schloss ihre Augen erneut.
Dann wandte Acheving sich von seinen Schwestern ab und ging zu den Männern, die auf den Mauern standen und bereit waren, für ihn zu sterben.
„Das Feld vor den Mauern ist nur von Fallen gespickt, aber wir haben keine Möglichkeit sie zu umgehen.“, erklärte Nian und betrachtete die Karte der Stadt, die vor ihr lag.
„Nein.“, bestätigte Sanju sie, „Wir müssen an die Mauern heran kommen, um die Falle zu deponieren.“.
Der Generalstab war merklich geschrumpft, Achkjon war gefallen, als er mit seinem Heer von der kaiserlichen Kavallerie überrannt worden war und Diong war verschwunden, entweder tot oder in Gefangenschaft. Nian hatte keine neuen Generäle ernannt, es blieben nur sie, Sanju und Fanjong.
„Und Acheving besitzt immer noch eine Kavallerie mit der er uns überrennen kann.“.
Sanju nickte und betrachtete die Karte. „Tanju wird die Kavallerie hinter uns führen und dann versuchen das Heer zu spalten, um die einzelnen Teile mit der Infanterie leicht besiegen zu können.“. Seine Finger fuhren über die gewaltige Karte und stoppten schließlich. „Hier bei dieser Hügelkette wird er die Kavallerie aufstellen.“.
„Woher wisst Ihr das? Nicht das wir durch eure Vermutungen Männer verlieren.“, fragte Fanjong.
„Ich bin kein Spion, wenn ihr das meint.“, entgegnete der alte General ruhig, „Ich war Tanjus Lehrer und weiß wie er denkt und handelt. Außerdem bin ich sein Onkel, der Bruder seiner Mutter.“.
„Sehr gut.“, meinte Nian, „Dann werden wir über den Hügeln Bogenschützen aufstellen und auf der anderen Seite einen Teil der Infanterie aufstellen.“.
„Es wird in einem Blutbad enden.“, erkannte Fanjong.
„Aber nicht für uns, sondern für die Kavallerie und während diese abgelenkt ist, wird der Rest des Heeres gegen die Stadtmauern marschieren und wir werden unsere Waffe einsetzen.“.
„Wir hätten sie schon bei Gerui einsetzen sollen, dann hätten wir nicht so viele Verluste erlitten.“, murrte Fanjong.
„Aber dann hätte Acheving gewusst, wie er sich darauf hätte vorbereiten können.“
„Kommt jetzt.“, unterbrach Nian die Generäle und stand auf. „Lassen wir den letzten Tag von Dioargchies Herrschaft anbrechen.“.
Hao parierte sein Pferd durch und betrachtete die Reihen der Reiter, die sich hinter ihm erstreckten. Es war eine beeindruckender Anblick, die knapp dreihundert Pferde, das Klirren der Waffen, das Schnauben der Tiere. Metall glänzte im Licht der Morgensonne, die wie eine Blume am Himmel erblühte. Vor ihnen lag ein Heer von Rebellen, das es zu besiegen galt. Er warf einen letzten Blick auf seine Männer, von denen viele den nächsten Tag nicht mehr erleben würden. „Zum Angriff!“, befahl er. Es sah gewaltig aus, wie sich die Pferde in Bewegung setzten, Erde stob auf und Erdklumpen setzten sich in Haos Uniform fest. Die Pferde erklommen den Hügel…und dann ging allen ganz schnell. Vor ihnen erhob sich eine Wand aus Speeren, die sich ihnen mit der Spitze entgegen streckten. Pfeile schwirrten über ihnen hinweg und bohrten sich in Fleisch. Pferde wieherten als sie in die Speere liefen. Die Tiere stürzten zu Boden, die Reiter flogen ihnen hinter her und wurden von den nachfolgenden Reitern übergeritten. Schreie von Mensch und Tier hallten durch die Luft und der metallene Geruch des Blutes hing über allem.
Schon bald hatte sich die Kavallerie in einen formlosen Haufen verwandelt, egal wie viele Befehle Hao brüllte. Jeder versuchte nur aus dieser Hölle heraus zu kommen. Überall lagen Tote und wer einmal auf dem Boden lag, kam nie wieder hoch. Niemand war bereit den Verwundeten zu helfen, es ging nur noch um das eigene Überleben. Hao sah sich um, überall waren Pferdeleiber, die seinen Hengst von der Seite begrenzten, so dass dieser nervös stieg. Aber Hao sah nur eine Masse aus Pferden und dem Heer, das sie eingeschlossen hatte. Sie saßen in der Falle.
„Es hat sich in Bewegung gesetzt.“. Acheving nickte dem Boten zu und starrte angespannt auf das Feld vor der Stadt und die Schlange aus Eisen, die stetig näher kam. Er hatte die Verteidigung über die Mauern übernommen, während Tanju die Infanterie vor den Mauern befehligte, um das Heer der Rebellen so lange wie möglich aufzuhalten. Acheving sah in den Himmel. Es war ein windiger und grauer Tag. Wolken verdeckten das Blau und ein stetiger Nieselregen färbte die Welt grau und tränkte den Boden. Er ging nicht in den Sieg, aber er würde wenigstens einen triumphalen Untergang vollbringen, der in Erinnerung blieb.
„Bogenschützen!“, befahl Tanju und betrachtete das näher rückende Heer. Er würde die Wälle so lange verteidigen wie es ihm möglich war. Zu dem Nieselregen kam nun der Pfeilregen, der Schmerzensschreie auf der anderen Seite verursachte und den Aufmarsch ins Stocken brachte. Fallgruben, Gräben und Krähenfüße machten das ganze für das marschierende Heer nicht einfacher, viele fielen den Fallen und den Pfeilen zum Opfer, die bald überall im Boden steckten.
„Brandpfeile!“, befahl er, als er sah, dass die ersten Soldaten einen Graben erreicht hatten, der mit Öl gefüllt war. Flammen schossen in den Himmel und verhinderten die Sicht auf das Geschehen. Nach einigen Minuten waren die Flammen heruntergebrannt und das Heer ließ die bis zur Unerkenntlichkeit verbrannten Leichen zurück, die sich an dem Graben türmten.
„Speere!“. Seine Männer hoben die Speere, als die Soldaten die Wälle erklommen. Die ersten Reihen wurden Opfer der spitzen Reihen und Blut befleckte die Erde. Tanju zog sein Schwert und sprang dem ersten Gegner entgegen. Er hob die Klinge schräg nach oben und bohrte sie ihm in die Brust, bevor dieser reagieren konnte. Mühelos durchdrang das Metall Stoff und Fleisch. Er duckte sich unter einer Klinge hinweg und schlug dem Nächsten den Ellenbogen ins Gesicht. Knochen knackten als das Metall von Tanjus Rüstung die Nase traf. Schwerter klirrten, Schreie grellten. Tanju schlug dem nächsten das Schwert aus der Hand und parierte den Schlag eines Mannes. Dieser besaß unglaubliche Kraft und trieb ihn langsam zurück. Tanju ließ die Klinge blitzartig sinken und stieß dem Gegner die Klinge in den ungeschützten Rücken, als dieser vorwärts stürzte.
„Öffnet die Tore.“, befahl Acheving, als er sah, wie Tanju und seine Männer den Rückzug antraten. Die Sonne stand hoch am Himmel und blendete sie, so dass die meisten Männer nicht sehen konnten, was vor den Toren geschah. Erleichtert beobachtete der Prinz, wie sich die Tore wieder schlossen. Er eilte die Treppe hinab, die die Zinnen mit dem Boden verbanden und begrüßte Tanju.
„Ich musste mich zurückziehen, ansonsten hätten sie mich umzingelt.“, keuchte der General. Seine Stimme war nicht mehr als ein Krächzen, sein Mantel war blutverkrustet, sein Gesicht von Blutergüssen verfärbt.
„Es ist gut.“. Acheving klopfte ihm auf die Schultern.
„Bring dem General Wasser und etwas zu essen.“, befahl er seinem Adjutanten.
„Das ist nicht nötig.“, protestierte Tanju sofort.
„Ich brauche Euch.“, beschwörend sah er ihn an. „Wie viele?“, fragte er dann, wohl wissend dass dies eher die Sprache war, die Tanju sprach.
„Die Hälfte.“, erklärte er, „Und ich weiß nicht, was mit der Kavallerie ist, eigentlich sollten wir von dort Unterstützung bekommen.“.
„Die Kavallerie existiert nicht mehr.“, erwiderte Acheving knapp.
Tanju nickte nur, es war zu spät, um auf ein Wunder zu hoffen.
„Hier werden sie versuchen, durch zu brechen.“. Er zeigte auf das Tor. Acheving betrachtete die dicken Holzbretter. Dick und mächtig erschien das Tor, so dass sie neben diesem winzig wirkten. Alles schien in seinem Schatten zu verblassen, aber bald würde das Licht durch das Tor brechen.
„Ja.“. Sein Blick wanderte über die Mauer, vereinzelte Risse zogen sich durch das Gestein der beeindruckenden Ringmauer, die die Stadt schützte.
„Kommt.“.
Die beiden Männer stiegen auf die Stadtmauer. Das Heer rückte an. Hunderte, tausende Männer kamen immer näher, die Waffen glänzten.
„Bogenschützen.“. Wellen aus Pfeilen ergossen sich über das Heer und manch einer wurde Opfer der verheerenden Waffen. Viele blieben auf dem Feld zurück, doch es waren zu wenige. Dann erreichte Nians Heer die Mauern. Pfeile regneten auch über die Verteidiger und das erste Blut tränkte die Zinnen. Sturmleitern wurden in Position gebracht und die Verteidiger hatten Mühe damit alle umzuhauen, bevor die Soldaten die Zinnen erreicht hatten. Schon bald brachen die ersten Zweikämpfe aus. Acheving umfasste sein Schwert und erwiderte den Schlag eines Mannes. Er wirbelte herum und tötete den Nächsten. Ein Schlag nach dem Anderen, einfach immer weiter ohne nachzudenken, dass es Menschen waren, die er tötete, teilweise noch Kinder. Auf einmal erschütterte die Mauer, Acheving verlor den Halt unter den Füßen und knallte zu Boden, konnte sich aber auf der Mauer halten, während andere hinunter fielen.
„Was war das?“. Wolken von Staub verdeckten ihm die Sicht, aber er erkannte Tanju, der ihm die Hand reichte.
„Ich habe eine Vermutung.“. Acheving stand auf, griff nach seinem Schwert und schüttelte den Staub ab.
„Haltet die Mauer.“, rief er, denn die ersten Gegner nutzten die Verwirrung aus, die unter Achevings Männern herrschte und dutzende kletterten mit Hilfe der Sturmmauern über die Mauer.
Die Männer liefen die Treppe hinunter, bis Trümmer ihnen den Weg versperrten. Blut quoll unter den Steinen hervor und Acheving dachte lieber nicht darüber nach, was sich darunter verbarg. Endlich hatten sie den Boden erreicht.
Etwas hatte einen Teil der Mauerkrone herunter gerissen, Steine waren heruntergestürzt und hatten einen Teil des Hofes verschüttet.
„Eine Blide.“, fluchte Acheving. „Daran hätte ich denken sollen, damit verringern sich unsere Chancen beträchtlich.“.
Ein weiteres Mal wurde die Mauer erschüttert, Steine fielen herab und eilig zog Acheving Tanju aus der Gefahrenzone.
„Eher mehrere.“, keuchte dieser, „So schnell kann man keine Blide laden.“.
„Nein.“, stimmte Acheving ihm zu.
„Wieso haben wir sie nicht gesehen, so winzig ist diese Waffe nun auch nicht.“.
Acheving erwiderte nichts, zuckte nur mit den Schultern.
„Wir müssen mehr Männer hierher beordern, dieser Teil nahe der Mauer wird zuerst fallen.“, erklärte Tanju grimmig.
Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen erzitterte der Boden ein drittes und ein viertes Mal brachte die Mauer endgültig zum Einstürzen.
Acheving nickte dem General nur zu, dann stürmten die Männer die Trümmer hinauf und hoben die Klingen der Übermacht entgegen. Weitere Männer kamen zu ihnen, eine kleine Gruppe, im Vergleich zu dem, was vor den Toren lauerte.
Acheving wusste nicht, wie viele Männer er getötet hatte. Er wusste nicht, wie oft er die Klinge erhoben hatte. Er sah ihre Gesichter vor sich. Die Gesichter von jungen Männern, die für einen Wunsch gestorben waren, den Wunsch, in der Welt etwas zu bewirken. Es war nicht so, dass er noch nie gekämpft hatte. Es war eher so, dass er sie jetzt verstand. Er konnte nachvollziehen, wofür sie kämpften und es tat ihm leid, dass er ihm nicht das bieten konnte, was sie wollten. Es war Nian, die sie wollten.
Schritt für Schritt wichen er und seine Männer zurück. Schritt für Schritt. Als die Nacht hereinbrach, gaben sie den äußeren Mauerring auf. Die letzten Bewohner Cesings flüchteten mit ihnen und die prächtigen Bauten wurden Opfer des Feuers. Flammen schlugen hoch und verzerrten hungrig die hölzernen Häuser.
Einen weiteren Tag vermochten sie es, den zweiten Ring zu halten. Feuer verbrannte die Häuser der Bewohner, aber die Mauer blieb stehen, doch letztendlich wurde auch sie Opfer der Blide. Am vierten Tag zog Acheving sich hinter die Mauern des Palastes zurück. Die Straßen waren getränkt von Blut, zu viele waren gefallen oder verwundet und niemand sprach über diejenigen, die desertiert waren. Die Wenzon repräsentierten nur noch einen Bruchteil ihrer Macht.
Tanju und Acheving standen auf der Palastmauer und sahen den Schein der Flammen zu, der immer näher kam.
„Geh!“, wandte Acheving sich ihm zu. „Geh! Lass mich zurück, wie alle anderen es getan haben.“.
„Herr!“, protestierte Tanju und sank erneut nieder, „Ihr seid mein Kaiser.“.
„Dann befehle ich dir als Kaiser: Geh!“, erwiderte Acheving hart, „Bringe dich in Sicherheit und unterwerfe dich Nian. Noch ist es nicht zu spät. Du hast dein Leben noch vor dir, du kannst eine Familie gründen und unter ihrer Herrschaft Frieden finden.“.
„Und was ist mir Euch?“, entgegnete der General leise.
„Ich?“. Acheving sah in den Nachthimmel, der sich über ihnen erstreckte. „Mein Leben ist verwirkt. Nian wird mich nicht verschonen, sie braucht ein für das Volk sichtbares Zeichen, dass sie gesiegt hat.“. Eindringlich sah er Tanju an. „Geh!“.
Endlich wandte der General sich ab und verließ die Mauer. Er schritt davon und mit ihm die Männer der Wenzon, die überlebt hatten. Acheving wandte sich ebenfalls um. Er schritt durch die Gärten und beachtete die Kirschblüten nicht, die den Boden wie einen Teppich bedeckten. Es wirkte alles so friedlich, die Teiche, der Pfau, der an ihm vorbeistolzierte. Aber das kühle Metall an seiner Seite, der Schein der Flammen in der Ferne und die Schreie erinnerten ihn daran, dass der Frieden nur noch ein Wunschtraum war. Er stieß die Tore des Palastes auf und bemühte sich nicht darum, sie zu schließen, es würde keinen Unterschied machen. Niemand kam ihm entgegen. Der Palast war wie ausgestorben, die Diener waren geflohen, die Wachen tot oder desertiert. Niemand hatte einen Blick für die Wandteppiche über oder die Schnitzereinen, die die Tür zum Thronsaal schmückten. Auch diese mächtigen Flügeltüren waren kein Hindernis für ihn.
„Dioargchie?“, fragte er leise. Er wollte sie nicht mehr Mutter nennen, nicht nachdem sie kein einziges Mal bei ihren Männern gestanden hatte, sich kein einziges Mal nach seinem Befinden erkundigt hatte. Und Kaiserin ebenfalls nicht, denn das würde sie höchstens noch ein paar Stunden sein. Es war still im Thronsaal. Die Kohlebecken waren erloschen, wer hätte auch nachlegen sollen? Die Vorhänge schwangen hin und her, aber ansonsten war es still. Acheving trat zum Thron. Acht Stufen führten hinauf. Acht die Zahl von Wohlstand und Macht. Obwohl er diesen Anblick erwartet hatte, war er nicht darauf vorbereitet. Dioargchie lag in einer Leiche aus Blut auf den Stufen ihres Throns. Ihre Finger umklammerten noch den Dolch.
Acheving warf ihr keinen weiteren Blick zu, sondern wandte sich ab. Nun war es Verachtung, die aus seinen Augen zu lesen war. Diese Frau war ihm eine Fremde. Eine Kaiserin sollte sich nicht aus der Verantwortung stehlen, sondern für das grade stehen, was sie getan hatte.
Acheving blieb stehen, er wusste nicht wohin er sich wenden sollte. Dieser Ort war so gut wie jeder andere, um auf den Untergang zu warten. Eine Flucht würde es nicht geben, Nian würde ihm an jedem Ort Sahres aufspüren und jeder einfache Bauer kannte sein Gesicht oder hatte aus Erzählungen von ihm gehört, was das Versteckspiel nicht einfach machen würde. Nein, er war niemand, der sein Heil in der Flucht wählte oder den Freitod wählte. Er wandte sich erst um, als wieder Rufe durch die Gänge schallen hörte. Die Tür schwang auf und einige Soldaten erschienen – unter ihnen Nian und Diong. Acheving betrachtete sie. Es schien Monate her, seitdem er sie zuletzt gesehen hatte. Nun standen sie auf verschiedenen Seiten und waren Gegner. Sie sah älter aus, der freudige Übermut war verschwunden, jegliches Lächeln von ihrem Gesicht gewischt.
„Acheving.“. Es war eine sachliche Feststellung, kein einziges Gefühl war darin zu lesen.
„Nian.“, stellte er ebenfalls fest. Seine Stimme war heiser. Ob es die Furcht war oder doch nur eine Nachwirkung des Kampfes?
„Beenden wir es auf unsere Art?“. Sie konnte ablehnen, sie war die Siegerin, er der Besiegte. Sie bestimmte die Regeln, er tat es schon lange nicht mehr.
„Einverstanden.“, erklärte sie. Sie nickte einem ihrer Begleiter zu und dieser reichte ihr ein Schwert. Die Klinge funkelte im Licht der Kohlebecken, die zwei Soldaten erzündeten. Acheving griff nach seiner eigenen Klinge, das Blut daran war noch nicht getrocknet. Die beiden Kontrahenten sahen sich an, jegliches Zeichen von einstiger Freundschaft war verschwunden, sie waren nun endgültig Feinde geworden und es würde keine Versöhnung geben.
Er begann mit einem Schritt nach Vorne und einem Schlag mit dem Schwert, aber sie wich ihm mühelos aus. Fast tänzelte sie vor seinen Schlägen zurück, bevor sie in die Offensive ging. Ihre Klinge fuhr von oben herab und Acheving erkannte die leicht abgewandelte Schwertfigur des Jägers. Fast hörte er seinen Lehrer, der auf ihn einredete, dass man darauf mit einer Schlange reagieren sollte. Er tauchte unter ihrer Klinge hinweg und stieß mit einer schnellen Bewegung nach vorne, um gleich darauf wieder zurück zu weichen. Blut tränkte Nians Ärmel.
Abwartend tänzelten der Prinz und seine Gegnerin umeinander, der tödliche Tanz von zwei Schlangen, die darauf warteten, dass die andere einen Fehler machte. Für einen winzigen Moment stolperte Acheving und die Schrittfolge wurde unterbrochen. Nian hielt ihr Schwert über ihren Kopf und durchbrach seine Deckung. Glühender Schmerz durchlief seinen Körper, als sich die Klinge in seine Schulter bohrte. Er ignorierte den Schmerz und erwiderte ihren Schlag so gut es ging. Langsam aber sicher gewann Nian die Oberhand. Es schienen Stunden zu sein, in denen sich die Gegner umkreisten und das Klirren von Metall im Thronsaal erklingen ließen. Acheving wich einem Schlag aus und rollte sich in der Figur der Ratte unter ihr hin weg. Sein Messer stach in ihren Fuß und er hörte einen spitzen Aufschrei. Schnell sprang der Prinz auf, doch dann kam ein schneller Schlag von Nian und das Schwert flog außer Reichweite. Ihr Schwert legte sich an seinen Hals, nur eine Millisekunde später auch ein Messer an dem ihren. Stumm sahen sie sich in die Augen. Schweiß glänzten auf ihren Gesichtern und die Tropfen mischten sich mit dem Blut, das den Boden des Thronsaals rot färbte. Einen Moment meinte Acheving in ihr die alte Nian zu erkennen, die Nian, die er geliebt hatte, doch dann war dieser Ausdruck verschwunden und das Messer aus seiner Hand. Er hatte verloren.
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