Der Wind trieb Blätter vor sich her. Sie hatten ihre Festkleider angelegt. Leuchtendes rot, orange und gelb bedeckten den Boden als einen bunten Teppich. Felsenfaust hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur über, ihn interessierte nur sein Ziel. Er spürte den Ruf, der durch die Luft getragen wurde, kaum wahrnehmbar wie ein leichter Windhauch und doch nicht zu ignorieren. Dieser Ruf zog ihn an, immer weiter, ein Drängen, dem er nachgeben musste. Die Blätter raschelten unter seinen Füßen und erzählten ihm, dass schon andere diesen Weg gegangen waren. Andere seines Volkes, so viel Macht, die durch den Boden rann. Der Wald öffnete sich zu einer Lichtung und Felsenfaust wusste, dass er am Ziel war. Die Bäume bildeten einen Kreis und es wirkte, als ob sie einen Tanz aufführen würden. Felsenfaust setzte sich auf den Boden und ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Sie waren hier, das wusste er. Und richtig, nur wenige Momente waren verstrichen, als sich weitere Gestalten aus dem Schatten der Bäume lösten. Zwanzig, dreißig, vierzig und noch mehr Nalinow saßen auf den Ästen und der Lichtung. Wo er fast sein gesamtes Leben keinem aus seinem Volk begegnet war, fühlte ersichtlich jetzt beklommen. Denn fast alle waren älter als er selbst und er sollte versuchen, sie zu überzeugen.
„Ich denke, wir können beginnen.“. Ein Nalinow trat aus der Menge und es war unumstritten, dass er der Anführer war. Die blonden Haare verbarg er unter einem großen Hut, die braunen Augen funkelten wach und aufmerksam aus dem Schatten.
„Mich nennt man Schattenklinge und ich habe diese Versammlung zusammen gerufen.“.
Dies also war der Mann, der Hjorgcais Begleiter verraten hatte. Felsenfaust spürte Macht und Kraft von ihm ausgehen, wie damals, als er ihn zuerst gesehen hatte, in Arygans Lager. Und doch schien es, als wäre er gealtert und es war nicht mehr dasselbe Lächeln, das um seine Mundwinkel lag.
„Die Sebetjh haben uns gejagt, getötet und als Sklaven missbraucht. Die Aweyche nehmen uns momentan als Söldner und Diener an, verachten uns aber und uns wird nie derselbe Lohn zugesprochen werden wie ihren eigenen Kriegern. Zu anderen Zeiten haben sie uns ebenfalls gejagt und getötet, wer da uns, dass ihre Meinung nicht bald wieder umschlägt?“.
„Die Sebetjh haben schon seit Jahrzehnten keinen von unserem Volk mehr getötet.“, entgegnete ein Nalinow, dessen Gestalt ständig wechselte.
„Ja.“. Spott klang wie ein scharfes Messer aus Schattenklinges Worten hervor, „weil wir uns so gut verstecken.".
„Es war immer so und es wird immer so sein. Es ist gut, dass wir ein Volk von Einzelgängern sind, denn als Masse sind wir zu gefährlich für diese Welt.“, erklärte ein weiterer mit ruhiger Stimme.
„Es wird so bleiben, weil wir es nicht ändern. Wir bleiben in unseren Verstecken und lecken die Wunden, die uns Kriege geschenkt haben, die bei den Menschen schon längst vergessen sind. Wenn wir aufstehen und uns das Land zurückholen, das uns gestohlen wurde, dann würde es sich ändern. Aber wir tun ja nichts!“.
„Und was würde geschehen, wenn wir aufstehen würden? Es würde die Welt, in den Untergang treiben. Wenn wir gewaltsam gegen Aweyche und Sebetjh vorgehen, werden die anderen Völker gegen uns vorgehen und wir werden so lange kämpfen, da sie in uns eine Gefahr sehen, bis entweder unser Volk ausgelöscht ist oder die anderen Völker. Ist es das, was du willst, Schattenklinge? Eine am Abgrund stehende Welt?“.
„Wer sagt denn, dass wir gegen sie kämpfen müssen? Menschen sind leicht zu beeinflussen. Wir müssen sie nur selbst dazu bringen, gegeneinander zu kämpfen, so dass das Land frei für uns ist.“.
„Wir können uns dann als überlebende Sebetjh ausgegeben und dann das Land nach unseren Vorlieben gestalten.“, überlegte ein Nalinow mit leuchtenden Augen.
„Das ist doch Irrsinn.“. Felsenfaust sprang auf. „Kann man nicht mit Verhandlungen anfangen oder einfach in den unbewohnten Ländern hinter dem Gebirge siedeln? Warum muss gleich Blut vergossen werden?“.
„Wir bekommen unsere Rache und das ist genug.“. Schattenklinge betrachtete ihn nachdenklich. „Du bist jung und verstehst noch nicht, was uns angetan wurde.“.
„Gut, das mag sein. Aber den Menschen geht es doch genauso! Warum sollen die Sebetjh dafür büßen, was ihre Vorfahren vor Jahrhunderten getan haben? Dieser Krieg ist schon seit vielen Jahrtausenden vergangen und ich glaube nicht, dass es noch Nalinow gibt, die sich daran erinnern, oder?“.
„Waldmacht tat das, aber er ist vor kurzem verstorben.“.
„Also.“, rief Felsenfaust triumphierend, „Warum sollten wir dann gegen sie kämpfen, wenn wir noch nicht einmal wissen, was damals geschehen ist?“.
„Ich weiß es. Ich habe damals gekämpft. Ich weiß wie grausam die Waffen der Sebetjh sind und wie genau ihr Geheimdienst gearbeitet hat, dessen Aufgabe es alleine war, die Namen von Nalinow herauszufinden.“.
Staunend betrachtete Felsenfaust diesen Nalinow, mindestens fünfzigtausend Jahre hatte er erlebt, den für die Nalinow grausamsten Krieg und die anschließende Verfolgung überlebt. Dies war der älteste Nalinow, den er je getroffen hatte. Und in diesem Moment wusste Felsenfaust, dass er verloren hatte. Wenn ein alter Nalinow gegen einen jungen stand, würde jeder auf den alten hören. Schattenklinge war eine Respektsperson, der anscheinend die Wahrheit kannte. Felsenfaust stand auf.
„Du treibst unser Volk in den Untergang, Schattenklinge. Ich habe von einer Familie geträumt und jetzt stelle ich fest, dass Blut nun einmal nicht alles ist, was eine Verbindung schafft und andere viel stärker sein können. Lebe wohl.“. Schattenklinge sah nicht einmal auf und Felsenfaust wandte sich von seinem Bruder ab.
„Wer kommt mit mir?“, fragte er leise. Der Nalinow, der die Warnung ausgesprochen hatte, stand auf, ihm folgten neun weitere, aber die überwältigende Mehrheit blieb sitzen, um jedes Wort von Schattenklinges Lippen zu saugen.
Felsenfaust aber ging fort und schritt über die leuchtenden Blätter. Aufgeben würde er nicht. Er nicht.
Acheving duckte sich in den Schatten der Fässer und beobachtete die drei Matrosen, die über eine Ladung Kisten hinweg miteinander diskutierten. Er nickte Tanju zu und geduckt schlichen sich die beiden Männer weiter vorwärts.
Es war eine dunkle Nacht und nur Adar und einige Fackeln warfen einen rötlichen Schimmer auf die Wasseroberfläche und den Hafen. Es war eine kleine Stadt, die zwar über einen Hafen verfügte, war aber, da dieser aufgrund von Seeräubern gemieden wurde, sicherlich nicht auf die gewaltige Flotte vorbereitet gewesen, die sich jetzt in ihren Gewässern erhob. Es waren mindestens zweihundert, wenn nicht noch mehr und sie ließen Nian in Achevings Augen noch höher steigen. Wie hatte sie es nur geschafft in einer solch kurzen Zeit, eine so gewaltige Flotte auf die Beine zu stellen? Und obwohl sie sich gut schlug, war sein Hass und seine Abneigung für sie gestiegen. Seine Schwestern waren hingerichtet worden, öffentlich. Das würde er ihr nie verzeihen, es waren Kinder gewesen, Kinder, von denen eins noch nicht einmal wusste, was es tat. Und was sollte er sonst tun? Er war niemand, der sich versteckte und andere handeln ließ, das konnte er nicht aushalten. Acheving sah zu den Schiffen, die momentan beladen wurden. Er musste mittendrin sein und selbst die Fäden in die Hand nehmen.
Ein letztes Mal atmete er durch, dann trat er mit Tanju aus der Deckung und hob eine der Kisten an.
„Na, dann wollen wir mal. Auf welches Schiff sollen die?“, fragte Tanju. Sie bauten darauf, dass man sie im Dunkeln nicht erkennen würde, außerdem hatten sie die Gewänder des Palastes gegen einfachere Kleidung getauscht. Die langen Haare, ein Vorrecht des Adels, waren geschnitten worden, die Gesichter mit Dreck verschmiert und in Kapuzen verborgen. Wer Acheving in einen Spiegel blicken würde, würde er sich selbst nicht mehr wieder erkennen. Aber wenn er ehrlich war, dann gefiel es ihm. Es gefiel ihm, einfach nur so durch die Straßen zu schlendern, noch nie in seinem Leben war er so ruhig gewesen.
„Die Arbeiter aus Lemang sind also endlich angekommen? Wo...“, erklärte ein Mann mürrisch.
„Richtig. Und umso eher wir anfangen, desto eher sind wir fertig.“, unterbrach Acheving ihn.
„Schon gut, meldet euch bei Asding und fangt an. Mit Rumstehen ist keinem geholfen.".
Acheving hob eine Kiste hoch und marschierte auf eines der Schiffe zu. Die Planken knarrten unter ihren Füßen und das Geräusch der Wellen füllte die Nacht.
Auch hier eilten trotz der späten Uhrzeit Dutzende von Leuten hin und her.
„Aus dem Weg.“, rief ein Mann und murmelte etwas von faulen Sklaven, als er an ihnen vorbei stürzte.
„Wo ist Asding?“, wandte Acheving sich an einen Matrosen, der einige Seile überprüfte, dieser wies nur stumm nach hinten, wo ein Mann einige Arbeiter zusammen schrie. Sie bedankten sich nickend und gingen. Asding war ein mürrischer Mann, der sich nicht weiter für Sie interessierte und sie nur kurz in die Regeln einwies, sie ansonsten aber nicht beachtete.
„Sehr gut.“, murmelte Tanju, als sie sich alleine über einige Kisten beugten. Sie hatten es geschafft.
„330 Schiffe. Ich danke dir, Sielied.“. Der König von Fjørev nickte.
Nian fuhr mit ihrem Finger über die Karte „Ich habe die Flotte geteilt. Ein Teil befindet sich hier und der andere dort.“.
„Jetzt müssen wir nur noch überlegen, wie wir sie durch die Bucht kriegen, ohne dass alle auf dem Meeresboden landen.“, meinte Naichie und gesellte sich zu Nian.
„Wie sieht es mit gegnerischen Schiffen aus?“, erkundigte sich Sielied.
„Ikara besitzt überhaupt keine, Nor auch nicht, Varyny und Ciyen nur Handelsschiffe, die man aber notfalls umbauen könnte. Was gefährlich ist, ist dieses Land.“. Sie deutete auf den Küstenstreifen, der das Land Madruk bildete. „Die Jorohne besitzen eine Flotte, die unsere in der Größe noch übertrifft. Ich würde bei ihnen auf Verhandlungen setzen, um eine Konfrontation zu vermeiden.".
„Richtig.“, stimmte Naichie ihr zu, „Ihr König wird ein Interesse daran haben, dass wir sein Land verschonen, wo es doch direkt an der Grenze zu Ciyen liegt.“.
„Eine Königin.“, erklärte Nian lächelnd, „Arzaya, nach den vorliegenden Berichten eine gute Herrscherin. Die Währung ist sicher, der Handel blüht, die Grenzen sind geschützt und sie hat das Volk nach dem Tod ihrer Mutter Zaréa neu geeint und eine militärische und wirtschaftliche Macht geschaffen, die man nicht unterschätzen sollte. Und eben dies wird sie zu schützen wünschen, ich werde Botschafter und Gold mit einem Schiff schicken.“.
„Gut, dann bleibt noch die Passage von Alnon. Die Elben aus Manyie Arym sind uns im Weg.“, erklärte Naichie entschieden, „Und es gibt keine Möglichkeit, sie zu umgehen.“.
„Dafür habe ich auch eine Lösung.“. Nian stand auf und verließ den Raum, der einst das Studierzimmer von Kaiserin Dioargchie gewesen war. Alles was an das Alte erinnern könnte, war verschwunden. Unter dem Blau der Tapete schimmerte ein dunkles Rot hervor und unter dem Königstiger war der Drache noch zu erahnen.
Naichie sah hoch und erkannte Nian, die mit einem Gefäß in der Hand zurückkam. Er trat zu ihr und betrachtete die winzigen Vögel, die wie leblos in einer Flüssigkeit schwammen. Ihr Gefieder brachte den Raum zum Leuchten.
„Das sind Vögel.“, polterte Sielied los, „Wie sollen die helfen, meinen Schiffen den Weg nach Ciyen zu ermöglichen?!“.
„Weil diese Vögel eine für Elben tödliche Krankheit übertragen, bei ihnen wird sie Windseuche genannt. Wir haben sie einigen hersorischen Wissenschaftlern abgenommen und wissen somit auch wie sie sich vermehren. Wenn wir diese Vögel in die Stadt bekommen, dann werden sich die Elben eher auf eine zu zwei Dritteln tödliche Seuche konzentrieren als auf einige Schiffe.“.
„Und warum setzen wir sie dann nicht gleich gegen die Elben Ciyens ein? Das würde uns einige Opfer und Mühen ersparen?“.
„Weil die Elben Ciyens aus irgendeinem Grund gegen diese Krankheit immun sind, obwohl sie früher genauso anfällig dafür waren.“, erwiderte Nian ungehalten.
Naichie musterte die Vögel nachdenklich. Wie konnten so winzige Wesen so viel Tod und Verderben bringen? Eine Seuche war nicht die Art, nach der er kämpfen würde. Er hätte auf eine Belagerung gesetzt. Dies dagegen kam einem Todeskommando gleich, es war die Auslöschung einer gesamten Stadt, Frauen und Kindern, Soldaten. Es war die eine Sache gegen Soldaten zu kämpfen und die andere Sache gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen. Naichie hatte viele Tote gesehen und er hatte ebenso viele zu verschulden, es musste nicht noch die Bevölkerung einer Stadt hinzukommen. Aber gleichzeitig war ihm gewiss, dass es keine andere Möglichkeit gab. Nian war die Kaiserin und ihre Erklärungen waren durchaus plausibel – Nur sein Gewissen sprach dagegen, denn war es nicht grade das, was Nian wollte? Eine Schonung der Zivilbevölkerung? Nur das dies nicht die eigene war.
Naichie sah zu ihr hinüber. Sie hatte sich verändert. Eine geniale Heerführerin mochte sie sein, aber die Welt des Hofes war nicht die ihre. Sie brauchte Zeit, sich daran zu gewöhnen und die Denkweise der Adeligen zu verstehen, aber eben diese Zeit nahm sie sich selbst wieder.
„Gut, so machen wir es.“. Ihre Stimmen drangen wie durch eine Schicht aus Nebel langsam wieder zu ihm hinüber.
„Was?“, fragte er verwirrt.
Nian lachte auf. „Wirst du alt, Naichie?“.
„Ich und alt? Niemals!“, rief er aufgebracht.
„Doch.“. Sie klopfte ihm auf die Schulter. „Das bist du.“.
Er schnaubte.
„Worüber wir geredet haben, ist die Transportmöglichkeit der Vögel. Sielied hat uns dabei auf eine Unterart der Flugechsen, die die Jorohne Chorlane nennen und die Sielied gezüchtet hat, aufmerksam gemacht. Sie brauchen über das Meer nur wenige Tage, so dass die Seuche ausgebrochen ist, wenn die Schiffe an der Passage angelangt ist.“.
„Gut.“. Naichie nickte und dieses Zuverständnis schäumte wie Säure in seinem Magen, denn er wusste, dass er das Todesurteil für eine Stadt unterschrieben hatte.
Über der Niamey erstreckte sich ein strahlend blauer Himmel und unter ihr ein Meer, das wie ein Teppich ausgebreitet lag. Eine gleißend helle Sonne brannte erbarmungslos auf die Matrosen nieder, die auf dem Deck ihre Arbeit verrichteten und nur froh waren, hier zu sein, weil sie wussten, dass sie ansonsten an den Rudern hätten schuften müssen.
Narichre wandte sich von dem Anblick ab und schüttelte den Kopf.
„Ich hatte mit verfrühten Herbststürmen gerechnet, aber nicht mit einer Windstille!“.
„Und doch ist es bis zum Hafen nicht mehr weit.“, entgegnete Tabita und deutete auf den Horizont, an dem sich ein dunkler Streifen erstreckte.
„Traue auf dem Meer niemals deinem Gefühl von Weite und Nähe, es ist allzu trügerisch. Wobei du dieses Mal Recht behalten könntest. Ich schätze, dass wir morgen Abend dort sind. Dann werden wir die Vorräte aufstocken und dann…“.
„…Ciyen ansteuern.“. Tabita seufze, als sie an ihre Heimat und ihre Familie dachte.
„Ich fürchte, doch nicht so bald.“. Sie sah erstaunt Joshua an, der ihre Hoffnung jäh unterbrochen hatte.
„Habt ihr nicht einmal nachgedacht?! Wir müssen die Passage befestigen. Was glaubt ihr denn, was in Sahres los ist? Sie haben eine neue Kaiserin, die das Volk zwar hinter sich stehen muss, die aber den Adel an sich binden muss. Und um von ihren Fähigkeiten als Feldherrin und als Siegerin zu überzeugen, wird sie Krieg führen und zwar gegen ihren alten Feind, die Elben. Wir stehen in ihrem Blickpunkt und deshalb muss die Passage gehalten werden, um Zeit zu schinden.“.
„Ist es das, was du die ganze Zeit tust? Pläne zu schmieden, um unsere Heimat zu retten und sie zu vergessen?“.
„Ich vergesse sie nicht, ich werde sie wieder sehen und ich werde unsere Heimat bestimmt nicht den Sebetjh überlassen!“.
Er erinnerte sie an ein trotziges Kind, das der Wahrheit nicht ins Auge sehen wollte, obwohl sie längst offensichtlich war.
„Zeigst du mir deine Pläne.“, entgegnete sie ihm sanft.
„Ja.“. Er zog sie mit sich und erzählte ihr von Brandpfeilen, Katapulten und Befestigungen.
Am Abend tauchte vor ihren Augen tatsächlich die Stadt Manyiè Arym auf. Vor einem halben Jahr hatten sie den Hafen verlassen und nun kehrten sie von einer monatelangen Reise zurück. Sie genoss es, die schroffen Klippen zu sehen, die eine lange Insel bildete, die den Buchteingang teilte und von Befestigungen der Elben nur so wimmelte. Aber noch mehr genoss sie den Blick auf die weißen Türme der Hafenstadt, erinnerten sie diese doch an Amey Rorym, ihre Heimatstadt.
„Wir haben es geschafft.“, murmelte sie und schloss vor Erleichterung die Augen.
„Noch nicht ganz.“, knurrte Sjavkonhkar neben ihr, „Aber fast.“.
„Und vor uns steht ein Krieg.“, fügte Tabita leise hinzu. Felsenfaust hatte es sicherlich nicht geschafft, Schattenklinge aufzuhalten und Joshua hatte Recht, die Sebetjh würden ebenfalls kommen.
„Seht nur.“. Narichre klang so besorgt, dass Tabita aufsah.
„Was ist das?“. Joshua beugte sich so sehr über die Reling, dass Tabita Angst hatte, dass er fallen würde.
„Sie haben den Hafen blockiert.“, erkannte die Hersora.
„Wieso?“.
„Deshalb.“.
Sjavkonhkar hob einen Pfeil auf und löste die Nachricht, die an ihn gebunden war, dann reichte er das Papier Tabita.
Es waren nur wenige Worte, die das Papier füllten, aber sie reichten, um die Angst erneut hochsteigen zu lassen und die Hoffnung und Freude verschwinden zu lassen.
Aufgrund des Ausbrechens der Windseuche ist das Betreten und Verlassen der Stadt untersagt. Flieht sofort.
Linovèn
„Verdammt!“. Joshua ballte seine Faust und starrte in den dunklen Himmel, an dem die ersten Sterne funkelten. „Damit ist die Verteidigung der Stadt unterbrochen und die Bucht liegt schutzlos da.“.
Ein Brüllen erklang. „Ich gebe nicht auf.“, erklärte der Sphinx und das Feuer seiner Augen leuchtete heller denn je.
„Ich ebenfalls nicht.“. Tabitas Bruder umfasste sein Schwert. „Hiermit übernehmen wir die Verteidigung über die Stadt.“.
„Und wie willst du mit einem Schiff einen Buchteingang bewachen, wenn eine ganze Flotte auf uns zukommt?!“, fragte Tabita. „Das ist wahnsinnig.“.
„Siehst du einen anderen Weg? Wir kämpfen, solange wir können, um Anthar Zeit zu verschaffen, die Armeen zu sammeln und eine Flotte aufzustellen.“, lautete Joshuas Antwort.
„Und ich werde eine Warnung überbringen.“. Sjavkonhkar sah sie an, dann fauchte er: „Starrt mich nicht so erschrocken an! Wie sollen sie die Armeen sammeln, wenn sie es nicht wissen? Und bei der Windstille kommt ein Schiff sowieso nicht voran.“.
„Immerhin nimmt die Windstille auch unseren Feinden Zeit.“, mischte Narichre sich ein, „Ich glaube an deine Fähigkeiten, Sjavkonhkar. Doch dir ist bewusst, das du Akrondjev und Kjavik durchqueren musst, um nach Ikantjey zu gelangen? Dies sind die Länder der Oteilon und es ist der kürzeste Weg.“.
„Es ist mir bewusst.“, erwiderte Sjavkonhkar kurz. „Aber ich habe die Wüsten der Oteilon schon im Auftrag von Prinz Keret erforscht, während in Anthar der Krieg tobte, um nach einem Fluchtweg zum Meer zu suchen.“.
„Gut und wir bereiten den Sebetjh und Nalinow eine unschöne Ankunft vor.“. Joshua grinste. „Ich habe schon einige Ideen.“.
„Ich steuere die Insel an. Von dort kann Sjavkonhkar auf die andere Seite der Bucht und wir können dort die Lage überprüfen.“.
Tabita wusste nicht wieso, aber all diese Hoffnung konnte sie nicht überzeugen. Es wirkte gespielt und nicht echt, als wollten sie ihre Angst selbst verbergen. Aber gleichzeitig wurde ihr offensichtlich, was sie die ganze Reise über vergessen und ignoriert hatten. Sie waren den ganzen Weg alleine gegangen und hatten schwer getragen, um jetzt hier zu stehen, in Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit.
„Hilf uns.“, flüsterte sie leise. Und da war er. Ériyor, als ob er schon immer dort gestanden hätte und nie fort gewesen wäre.
„Das habe ich nie.“, erklärte er und sah sie an. „Ich war immer bei dir. Ich habe euch getragen und meine Hand über euch gehalten.“.
„Und doch sind wir alleine gegangen. Wäre es anders gekommen, wenn wir mit dir gegangen wären?“.
„Du bist genau richtig an diesem Ort, hier, wo du stehst. Denn hier beginnt deine Bestimmung erst. Deine Eltern wählten den richtigen Namen für dich, Erendi.“.
Tabita erschauderte, als sie ihren wahren Namen hörte. Aber nicht, weil sie sich fürchtete, sondern weil sie ihn endlich annahm. All die Jahre hatte sie ihn abgelehnt und nicht verstanden, das dies ihr Name war, weil er mit ihrer Bestimmung verknüpft war und dennoch hatte sie auch ohne ihren Namen, ihren Weg gefunden, um ihn jetzt endlich anerkennen.
„Ich kann das nicht.“.
„Du bist die Tochter des Hüters, das genügt.“. Ériyor umarmte sie und seine Worte setzten sich fest und würden sie nie mehr verlassen. Es war richtig. Es war gut so.
Sie sprang auf und betrachtete die anderen, jetzt, wo auch in ihren Augen die Hoffnung leuchtete. Neben sich sah sie Ériyor, nun wusste sie, dass er sie nie verlassen würde.
Sie klatschte in die Hände.
„Und ich werde mich um die Windseuche kümmern.“.
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