Der Boden brannte unter seinen Pfoten. Es war die Wüste, die um ihn herum flimmerte und ihm Schmerzen in den Pfoten verursachte. Es war nicht seine Wüste, nicht die Wüste Ikantjeys, aber es war Wüste. Und dennoch störte es Sjavkonhkar, dass er das Meer roch, das das Salz durch die Luft zu ihm getragen wurde. Alles in ihm drängte sich danach fortzulaufen, das Wasser hinter sich zu lassen und dennoch wusste Sjavkonhkar, dass er grade das nicht tun durfte, denn es war das Meer, welches ihn vor den Oteilon schützte. Wasser war den Oteilon noch mehr verhasst als den Sphinxen, denn Wasser vernichtete Feuer.
Auch war das Meer das Einzige, was ihm Nahrung bot. Denn alles Leben schien diese Wüsten zu meiden und die wenigen Mäuse, die über die Steine huschten, vermochten es nicht einen Löwen zu sättigen. Zweimal hatte er einen Vogelschwarm gesehen, doch selbst die Vögel waren zu hoch geflogen, als dass er sie hätte erjagen können. Am Anfang hatte er sich geweigert, sich dem Wasser zu nähern, aber nach sechs Tagen hatte ihn der Hunger dazu getrieben, im Meer Fische zu jagen. Solch eine Jagd dauerte und so kam Sjavkonhkar längst nicht so schnell voran, wie er es sich erhofft hatte. Einmal hatte er sogar Austern probiert sie aber sofort wieder ausgespuckt, so groß war seine Verzweiflung dann doch nicht.
Aber halb verhungert hätte er noch weniger Chancen gehabt, sich gegen die Oteilon zu erwehren, die sich aber bisher noch nicht hatten blicken lassen. Es war nur die Wüste, die um ihn herum atmete mit ihrer Hitze des Tages und der Kälte der Nacht. Und doch blieb dieses Gefühl da, dieses Gefühl der Warnung, das ihn tief in seinem Inneren bewegte. Er wurde beobachtet. Aber warum nur beobachtet? Was hielt die Oteilon davon ab, ihn gleich zu töten? Nur aufgrund dessen, das er sich das Meer als Verbündeten gesucht hatte? Nein.
Der Sand spritzte unter den Pfoten des Löwen auf und Steine verursachten Kreise in den Wellen, die sich sanft am Strand brachen. Hier, wo der Sand feucht war, war die Gegend gut zu übersehen, in der Nähe erstreckten sich einige Dünen, die als Versteck dienen konnten. Allerdings war dies egal, denn es war der Geruchssinn, der die Feuerwesen so gefährlich machte. Und den hatte Sjavkonhkar zu täuschen gelernt, indem er sich am Wasser verbarg und regelmäßig schwamm, verdeckte er den Geruch des Löwen.
In der Ferne tauchte eine Gebirgskette auf, mächtig und groß erhob sie sich gegen den Himmel. Zufrieden nickte Sjavkonhkar, denn diese Gebirgskette bildete die Grenze zwischen Akrondjev und Kjavik, was bedeutete, dass er in etwa die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte.
Der Löwe sah sich um. Sein Schwanz peitschte durch den Sand und ließ eine Fontäne aus Sand über ihm niedergehen. Da. Er sah zu den Dünen hinüber. Zwei, drei, fünf Gestalten lösten sich aus den Schatten. Sjavkonhkar wich zurück, bis das Wasser seine Pfoten umspülte und sie zum Brennen brachte. Er sah den Strand hinauf, auch von dort kamen Oteilon. Sjavkonhkar lief den Strand wieder hinab und ließ die Oteilon hinter sich.
"Astjov!". Er fluchte, als auch vor ihm Oteilon auftauchten. Eilig bremste er ab und lief zurück. Die Oteilon, die er zuerst gesehen hatte, waren nun am Strand angelangt und hatten sich am Wasser positioniert. Von drei Seiten hatten die Oteilon ihn jetzt umkreist, der einzige Weg, der unbewacht schien, waren die Dünen. Es war verlockend, einfach so zu fliehen. Aber er zögerte, es war eine Frage, die die Sehnsucht nach Sicherheit und die Angst in diesen Schatten stellte. Sjavkonhkar hatte in vielen Schlachten gekämpft und vielen Befehlshaber gedient und dieses Wissen ließ ihn skeptisch werden und hielt ihn davon ab, zu fliehen. Warum hier? Warum hier? Es war diese Frage, die in seinem Kopf herumgeisterte. Warum hier? Warum hatten sie ausgerechnet hier auf ihn gewartet? Er hatte viele Orte gesehen, an denen sich ein Überfall lohnte. Schroffe Klippen, die sich gegen den Himmel erhoben und von denen nur schmale Pfade, in die Höhe führten. Flüsse, über die nur eine einzige Brücke führte, Schluchten, an deren Seiten sich die Gebirge erhoben. Dies war kein solcher Ort. Wenn sich hinter den Dünen nicht eine ganze Armee verbarg, waren sie unmöglich zu halten und man konnte leicht von dort entfliehen. Stattdessen wirkte es fast so, als wollten sie...als wollten sie ihm vom Meer abhalten. Sie wirkten wie Wächter und nicht wie Angreifer. Defensiv statt offensiv und das passte nicht zu den Oteilon, wie er sie kennen gelernt hatte. Was bewachten sie? Dieses Meer wirkte gewöhnlich und es unterschied sich nichts von den Stränden, über die er bisher gelaufen war.
Also lief er auf sie zu.
Vielleicht war dies nicht die beste Idee gewesen.
Dann begann die Kälte, eine Kälte, die den Sphinx zum Frösteln brachte, obwohl die Sonne mit unbarmherziger Härte auf ihn nieder brannte. Sie standen vor ihm. Dunkle Gestalten, deren Schatten wie in Rauch gehüllt waren. Rauch und Feuer. Sjavkonhkar rannte weiter. Sein Herz raste. Vor Furcht und vor Neugier. Feuer lodert zwischen ihren Händen, das einzige Helle an ihrer sonst dunklen Gestalt. Der Sand vor ihm begann zu brennen. Helle Flammen schlugen hoch und fraßen sich mit mörderischer Geschwindigkeit weiter vor. Sjavkonhkar spürte die Hitze im Gesicht und wich zurück, dies war ein Feuer, wie er es noch nie erlebt hatte. Mächtiger und heller als Elbenfeuer, heißer als das der Zwergenschmiede und gefräßigen als die Steppenbrände Ikantjeys. Überall um ihn herum waren dieses Feuer und seine Urheber.
Er fluchte erneut und sprang hoch, um einem Feuerball auszuweichen, der im rasenden Tempo auf ihn zugeschoben kam. Weitere Feuerbälle schossen um ihn herum und schlugen in den Sand ein. Von nun an war er nur am Rennen. Sobald er die Hitze spürte, sprang er hoch und wich aus. Er spürte sie um ihn herum flimmern und stöhnte auf, sobald eine der Kugeln ihm das Fell versengte. Es war, als würde ihm jede Berührung ein klein wenig Kraft und Energie entziehen. Wenn ihn nicht in ein paar Minuten eine Kugel erwischen würde, dann würden es ihre Berührungen tun.
Dann hatte er eine Idee und wich zurück. Eilig lief er zurück zu den Dünen und suchte nach dem Bach, den er vorhin gesehen hatte. Es war ein winziger Bach, der von den Dünen ins Meer floss und das Wasser schmeckte fade und war dunkel von Dreck. Sjavkonhkar nahm es trotzdem auf, behielt es aber im Maul. Dann lief er zurück zu den Oteilon. Erneut tauchte er unter Feuerbällen hinweg, bis er einem Oteilon nahe genug kam, um auf ihn zu spucken. Als das kühle Wasser auf die Hitze traf, verdampfte es sofort, aber der Oteilon zuckte dennoch zusammen und war für einen Moment irritiert. Ein Moment, der Sjavkonhkar reichte, um ihm die restliche Ladung unter die Kapuze zu feuern. Falls Oteilon schreien konnten, dann war es das schrille Knurren, was jetzt zu hören war.
Sjavkonhkar war es egal, ihn interessierte nur die Lücke, die sich nun geöffnet hatte. Eilig huschte er zwischen den Oteilon hindurch und flüchtete in das seichte Wasser. Sofort zischten Feuerkugeln um ihn herum, die verdampften, sobald sie auf das Wasser trafen. Das Geräusch vom Wasser verriet ihm jedoch, dass die Oteilon ihm folgten. Er kümmerte sich nicht um sie, sondern rannte. Wasser spritzte auf und obwohl es brannte, war es ihm lieber als die Feuerkugeln und ihre Urheber. Das Meer fiel in einem steilen Winkel nach unten und zwang Sjavkonhkar so zu schwimmen. Er schwamm schneller in eine Wolke von Nebel und hörte die Oteilon auffauchen. Eine weitere Feuerkugel zischte hinter ihm, aber dieses Mal traf sie ihn und eine Wolke vom Feuer umhüllte ihn. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als Sjavkonhkar erwachte, schien die Sonne. Aber es war nicht die heiße Sonne, die er aus seiner Heimat oder aus den Wüsten der Oteilon gewöhnt war. Es war eher eine Sonne wie es sie in den westlichen Wäldern Ciyens und den östlichen und nördlichen Wäldern Varynys gab. Eine wärmende Sonne, die es Wäldern ermöglichte, gut zu wachsen.
Das Nächste was er bemerkte, waren die Vögel. Es war ein Zwitschern und Trillern, bei dem ein Lied das Nächste übertönte. Ein wildes Geräuschekonzert, das ihm nach der Stille der Wüste gehörig auf die Nerven ging.
Als Drittes fiel ihm auf, das ihm nichts schmerzte. Als er in Ohnmacht gefallen war, hatte er kurzzeitig daran gedacht, dass er sterben würde und jetzt waren selbst die Prellungen verschwunden, die er sich bei dem Sturz von einem Felsen zugezogen hatte.
Dann öffnete er die Augen - und erstarrte.
Das Licht spielte mit seinen Augen und warf helle Flecken auf den Waldboden. Er lag auf einer Lichtung und unter sich spürte er Blätter und Äste, die zu einem Bett geworden waren. Der Boden glitzerte noch silbrig vom Morgentau.
Einige silbrige Birken standen um ihn herum und durch den Wind wirkte es, als ob sie mit ihren Ästen einen Tanz aufführen würden. Wechselnde Nuancen von einem hellen Grün, zu dem Herbstgelb der Blätter und dem Braun und Weiß der Stämme bis zu dem Blau des Himmels und dem Lichtspiel der Sonne auf dem Waldboden wirkten auf ihn ein.
Es roch nach nasser Erde und frischem Gras, es war ein tiefer, wohltuender Geruch, der nach Heimat schmeckte. Der ganze Wald wirkte trotz des Vogelgezwitschers ruhig und friedlich, so dass Sjavkonhkar anfing zu bezweifeln, dass ihn jemand angriff.
Langsam begann er sich aufzurichten. Ruhig und gemächlich, um jeden Knochen einzeln zu strecken und sich zu überzeugen, dass ihnen wirklich nichts fehlte. Vorsichtig streckte er die Krallen, als fürchtete er, dass der Boden nachgeben würde und dadurch dieser Friede unterbrochen werden würde.
Langsam Schritt er vorwärts und betrachtete die Gegend um ihn herum. Ein kleiner Bachlauf erstreckte sich zu seinen Pfoten, fröhlich plätscherte er über glatt geschliffene Flusskiesel in allen möglichen Farben hinweg. Dennoch ließ Sjavkonhkar es sich nicht nehmen, sich bevor er trank, noch einmal gründlich umzusehen. Denn schon zu viele paradiesische Orte waren zu tödlichen Fallen geworden. Das Wasser war eisig kalt, erfrischend rann es seine Kehle hinunter. Es war ganz anders als der kleine Bachlauf, mit dessen Wasser er den Oteilon vertrieben hatte. Somit wurde Sjavkonhkars Vermutung, dass es sich um einen völlig anderen Ort handelte, verstärkt. War es das, was die Oteilon zu schützen versucht hatten, diesen Ort? Oder hatten sie versucht, ihn davon abzuhalten, hierher zu gelangen, weil es etwas gab, was nicht entdeckt werden sollte? Sjavkonhkar wusste es nicht, aber er hatte beschlossen, es herauszufinden, abgesehen von der Frage, wie er in diesen Wald gelangt war. Zwar hörte er in der Ferne das Meer rauschen, aber dies beantwortete seine Frage immer noch nicht.
Jetzt begann auch sein Magen zu knurren. Denn Fische und ein paar Mäuse waren normalerweise nicht die Nahrung, die ein Sphinx zu sich nahm. Und bei den saftigen Grashalmen und Kräutern würden sich bestimmt einige Kaninchen und vielleicht sogar Rehe finden, die seinen Hunger stillen konnten.
Der Sphinx überquerte den Bach und nahm sofort eine Veränderung wahr. Seine Haare richteten sich auf und sein Schwanz zuckte nervös. Dies war das Zeichen, bei dem jeder junge Alleingänger aufpasste, dass er nahe der Grenze blieb. Er hatte eine Reviergrenze überschritten. Aber eine Reviergrenze, die kein Sphinx markiert hatte, sondern ein Wesen, das einem Sphinx zwar ähnelte aber sich dennoch stark von ihnen unterschied. Eine Askindis. Er hatte das Reich einer Askindis betreten.
Tabita beugte sich über Papiere und Aufzeichnungen, sowie einige Bücher, die sie noch aus der Heimat hatte. Es waren allgemeine Bücher über Krankheiten, Wirkungen, Gift und Kräuter. Natürlich fand sich in jedem Buch ein Kapitel über die Windseuche, wobei aber nur über ihre Wirkung berichtet wurde. Nur in Krankheiten Anthars und ihre Heilung stand:
Für die Windseuche aber, die die schlimmste der elbischen Krankheiten ist, fand zwar die Heilerin Erendi (16.108-16142) ein Gegenmittel, diesen Wissen aber ging im 500-jährigen Krieg zwischen Kéros und Livorlé (16.002-16.502) wieder verloren.
Tabita befand sich auf der Insel in der Bucht von Anthar in einer der Befestigungen, die die Elben aus Manyiè Arym errichtet hatten. Sie wurde sogar noch von neun Elben bewohnt, die es nicht rechtzeitig vor der Schließung der Stadttore zurückgeschafft hatten. Allerdings hatten sie Tabita und Joshua sowie allen weiteren Elben und Halbelben verboten, die Burg wieder zu verlassen, damit sich die Krankheit nicht verbreitete.
Nur Elben waren für die Windseuche anfällig, da sich diese auf die Gaben der Elben auswirkte. Es schien ähnlich zu sein wie mit Halbelben, die ihre Kräfte nicht unter Kontrolle hatten. Man merkte, dass man erkrankt war, wenn die Gaben schlichtweg nicht mehr funktionierten. Nach zwei, drei Tagen kehrten die Kräfte zurück, allerdings so heftig und stark, dass sie einen von innen verbrannten und aus einem herausbrachen, so dass man dadurch starb. Wie die Krankheit allerdings übertragen wurde, wusste sie nicht. Obwohl sich die Elben aus Manyiè Arym ständig in getrennten Räumen aufhielten und in strenger Isolation lebten, erkrankten sie. Selbst das Blatt einer Feuertänzerin, das stärkste Gegengift, das Tabita bekannt war, vermochte es nur die Windseuche für ein, zwei Tage aufzuhalten, aber danach kehrte sie genauso heftig wieder.
So ging es nicht weiter. Sie hatte nicht ewig Zeit. Tabita stand von dem Tisch auf, den sie als Arbeitsplatz nutzte und stieg die lange Wendeltreppe hinab, die vom Turm in den Burghof führte. Ein frischer Wind schlug ihr entgegen, als sie hinaus trat. Die Burg erhob sich auf dem nördlichsten Winkel der Insel, direkt über dem Meer auf schroffen Klippen. Von zwei Seiten war die Burg von den Klippen geschützt und die anderen beiden von einem tiefen Graben und nacktem Felsgestein. Jeglicher Baum war gefällt worden, sei es, weil Joshua und die Matrosen daraus Katapulte fertigten, sei es, weil sie zum guten Einsehen des Geländes schon zuvor abgeholzt worden waren. Die Burg besaß hohen und dicken Mauern aus grauem Stein, in regelmäßigem Abstand wurde sie von Türmen unterbrochen. Umgeben wurdest zusätzlich von einem hölzernen Wehrgang.
Tabita wandte sich von dem Anblick ab und ging zu Joshua und Narichre, sie sich mit zwei weiteren Matrosen über ihre Aufzeichnungen beugten.
"Wenn wir hier Bogenschützen mit Brandpfeilen postieren würden...", meinte Narichre grade.
"Sollten dort nicht lieber die Katapulte hin?", unterbrach Joshua sie.
"Wieso die Katapulte? Es wäre sinnvoller, wenn wir sie hinter dem Wald...".
Tabita unterbrach sie, bevor das Ganze in einer der Diskussionen ausartete, die sie schon zu Genüge kannte.
"Narichre, ich möchte, dass du nach Manyiè Arym gehst, bitte Königin Linovèn um Bücher aus ihren Bibliotheken. Bücher über Erendi, Bücher von Erendi. Die Heilerin war eine Zeit lang auch in Noliôn, vielleicht sind hier Werke von ihr vorhanden.".
Ihre Namensvetterin hatte das Geheimnis der Windseuche gelüftet, jetzt galt es nur, dieses wieder zu entdeckten.
Kaum hatte Sjavkonhkar das begriffen, da waren sie auch schon um ihn herum. Askindis waren kleiner und zierlicher als ihre südlichen Verwandten, die Sphinxe, doch das machte sie nicht minder gefährlich. Was ein Sphinx an Kraft und Körpermasse besaß, machte ein Askindis mit Gewandtheit und Schnelligkeit wieder wett.
Und da er von einem halben Dutzend der "Walddämonen" umringt war, machte er sich um eine Flucht nicht viele Gedanken. Auch hätten sie ihn, wenn sie es gewollt hätten, längst töten können, als er bewusstlos gewesen war. Nein, dies waren nicht seine Feinde. Eine Askindis trat zwischen den anderen hervor und musterte ihn gründlich, ehe sie erklärte: "Willkommen in meinem Reich, Sphinx. Merke dir, dass ich niemanden dulde, der die Gesetze der Gastfreundschaft nicht achtet. Dir ist es nicht erlaubt, ohne meine Erlaubnis zu jagen oder irgendeine meines Volkes anzusprechen. Ich bin Salome, Königin der Askindis von Avkìr und einstige Königin der Askindis des Gorièn.". Er musterte sie nun ihrerseits. Sie war nicht größer als die übrigen Askindis und doch haftete ihr eine Aura an, eine Aura der Stärke und der Weisheit, die Sjavkonhkar verstehen ließ, warum ihr Volk ausgerechnet sie zur Anführerin gewählt hatte. Ihr Fell war grau und war bis auf einige Narben, die von vergangenen Kämpfen zeugten, nicht unterbrochen. Die Augen strahlten gelb und musterten Sjavkonhkar ohne Unterlass.
"Ich bin Sjavkonhkar, Rahins Sohn, aus Ikantjey, wohin ich unterwegs bin, um vor der Flotte zu warnen, die vor Sahres in See gestochen ist. Und ich werde die Gebote der Gastfreundschaft nicht verletzen.".
"Dann komm Sjavkonhkar aus Ikantjey.". Salome ging über den Waldboden und Sjavkonhkar folgte ihr zögernd. Ihr Clan blieb zurück.
"Ich hoffe, dir ist bewusst, dass du nicht ohne Grund hier bist. Niemand gelangt ohne Grund auf die Inseln von Avkìr.", begann die Askindis das Gespräch.
"Ja.", antwortete der Sphinx, während er versuchte sich auf das Gespräch und nicht auf den herrlichen Geruch, der seinen Körper erbeben ließ, zu konzentrieren.
"Mir ist bewusst, dass ich eine schlechte Gastgeberin wäre, wenn ich deinen Hunger nicht beachten würde.".
Der Geruch wurde deutlicher und jetzt konnte Sjavkonhkar es auch sehen. Ein prächtiger Hirsch, aus dessen Körper Fleischstücke herausgerissen waren. Weiße Knochen ragten hervor und Sjavkonhkar konnte die Rippen sehen, an denen noch Fleisch hing. Er wollte losstürzen, die Zähne wieder in saftiges Fleisch jagen und die Zeiten vergessen, in denen er von Fischen und Mäusen gelebt hatte. Doch er hielt inne, als seine Augen zwei weitere Askindis bemerkten, die die Beute anscheinend vor Madern, Füchsen und weiteren kleinen Räubern schützen. Die Vernunft übernahm wieder sein Denken anstatt der Gier. Er wandte sich zu Salome zu. Die Königin nickte, so dass die Askindis bei Seite schritten. Sjavkonhkar rannte los und schlug seine Zähne in das frische Fleisch des Hirsches.
Als er gesättigt war, gingen er und Salome weiter.
"Warum habt ihr den Gorièn verlassen?", fragte Sjavkonhkar.
"Warum? Die Elben haben die Wälder wieder in Besitz genommen. Wir sind ein Volk von Wanderern. Wir waren nur kurzzeitige Wächter der Wälder und haben uns jetzt eine neue Heimat gesucht. Und ich bin mir sicher, dass es auch die letzte ist.".
"Wieso?".
"Alles vergeht. Kein Reich besteht ewig, eines Tages wird auch Ikantjey fallen.".
"Alles findet irgendwann ein Ende.". Sjavkonhkar nickte, "Doch sag mir, Salome, ich habe noch nie von diesen Inseln gehört und auf mich wirkte es so, als wollten die Oteilon verhindern, dass ich diese Inseln erreiche.".
"Nun, das wollen sie tatsächlich nicht. Es ist so, dass ich es vermag, die Zukunft zu lesen. Sagen wir mal, ich kann bestimmte Fäden eines Wandteppichs sehen, aber nicht wo dieser mit welchen verknüpft ist und welches Gesamtbild sich ergibt. Einer dieser Fäden ist, dass in ferner Zukunft ein Sphinx diese Insel finden muss, weil ansonsten schlimme Dinge geschehen werden. Die Oteilon erfuhren davon, als sie eine Askindis meines Clans gefangen nahmen und sie verhörten. Und genau deshalb versuchen sie zu verhindern, dass jemand diese Inseln erreicht. Dennoch hast du es geschafft und das ist der Grund aus dem du hier bist.".
"Was", fragte Sjavkonhkar verwirrt, "haben ich und die Oteilon mit diesem Wissen zu tun?".
"Was die Oteilon damit zu tun haben, kann ich dir nicht sagen, aber weshalb du hier bist, wohl. Du bist hier, damit der Sphinx den Weg hierher findet. Ohne meinen Willen kann niemand den Weg finden, aber damit ich dieser Person das Tor öffnen kann, muss sie erst in der Nähe der Insel gelangen, in den Nebel, so wie du. Durch Zufall ist es sehr unwahrscheinlich, also muss ich vorsorgen, dafür bist du da. Außerdem kann es sein, dass ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr leben werde."
Sie sah Sjavkonhkar an. In der Zwischenzeit hatten sie eine Klippe erreicht und unter ihnen toste das Meer
"Ich bin also hier, um einen Krieg zu verhindern, der in Jahrtausenden geschehen wird?".
"Genau.", stimmte sie ihm zu, sichtlich zufrieden, dass er es endlich begriffen hatte. Doch entweder hatte sie die unterdrückte Wut in seiner Stimme nicht mitbekommen oder es war ihr egal.
"Moment mal. Wieso soll ich für einen Krieg kämpfen, bei dem ich schon lange tot sein werde? Ich brauche deine Hilfe, jetzt! Über das Meer rückt eine Flotte an, mit dem Ziel Anthar zu vernichten. Es ist dieser Krieg, um den ich mich kümmern muss. Ein Krieg, in dem meine Freunde und mein Volk sterben werden, wenn ich mich nicht beeile.". Zornig funkelte er sie an.
"Weil dieser Krieg nichts ist, im Vergleich zu dem, was kommen wird. Es ist nur die erste Welle, die volle Brandung folgt erst noch.". Ihr Gesichtsausdruck wurde sanfter, so dass Sjavkonhkar sich fragte, ob Salome Kinder hatte.
"Was diesen Krieg anbelangt, vertraue auf dein Herz und auf ihn. Sei du selbst, dann wird dir alles zum Besten dienen.".
Er sah auf und als seine braunen Augen die ihren trafen, wurde er ruhig. Ihre unerschütterliche Hoffnung und ihr unerschöpflicher Frieden fanden auch den Weg in sein Herz. Für einen Moment sah er die Welt, wie sie sie sah. Er erkannte ihre Liebe für ihr Volk und ihr Verständnis für ihre Beutetiere, ihr Respekt und ihre Akzeptanz gegenüber der Meinung von anderen. Und in diesem Moment sah er die Welt auch durch seine Augen, die Augen des Hüters, denn die Askindis lebte in seinen Wegen und er erkannte diese unendliche Liebe, die wie eine gewaltige Welle über ihn hinweg schwappte und die Möglichkeiten, die sie ihm zu Füßen legte. Er musste sie nur mit beiden Händen ergreifen, er verstand die Bitte der Askindis in ihrer ganzen Bedeutung. Wenn er mit dem Hüter ging, was konnte dann schon schief gehen? Sjavkonhkar entblößte die Zähne und dann schickte er sein Brüllen über den Ozean. Ein gewaltiges Brüllen, gefüllt mit Freude.
Der Sphinx wandte sich der Askindis zu.
"Also gut.", erklärte er, "Was soll ich tun?".
"Du musst das hier nach Ikantjey bringen.".
Sie hob die Pfote und schüttelte ein Armband ab. Sjavkonhkar verwandelte sich und hob den Gegenstand auf. Es war ein Armband, bestehend aus Pflanzenfasern und langen, grauen
Haaren, die verdächtig nach denen von Salome aussahen, sowie einigen Muscheln, die herab baumelten.
"Was von hier kommt, wird auch hier hin zurück kehren.", war die einzige Erklärung, die die Askindis ablieferte.
"Gut.", antwortete Sjavkonhkar, nicht sicher, was er erwidern sollte.
"Du wirst dich im Kehras Archid wieder finden.".
Verblüfft sah er sie an. Das Kehras Archid war die Gebirgskette, die Ikantjey im Süden, Osten und Westen begrenzte. Ein Ziel was noch Tage, wenn nicht Wochen, entfernt war. Dann nickte er. Wenn eine Insel nur von denen erreicht wurde, von denen es ihre Königin wollte, dann hatte diese Königin sicherlich auch dir Macht, ihn nach Ikantjey zu bringen.
"Auf Wiedersehen.", flüsterte die Askindis leise, ein letztes Mal betrachtete sie ihn.
"Dies ist die Gabe einer Königin, also halte sie in Ehren.", war das Letzte, was er von ihr hörte, dann verschwand alles in Dunkelheit.
Am Abend kehrte Narichre mit einem Stapel von Büchern zurück.
"Ich durfte die Stadt nicht betreten. Tcharon hat die Nachricht überbracht und dann haben sie die Bücher über die Stadtmauer hinab geseilt.", erklärte die Hersora.
Tabita nahm die Bücher an sich, umarmte Narichre als Dank und lief dann die Wendeltreppe wieder hinauf. Sie setzte sich an den Schreibtisch und entzündete eine Kerze. Normalerweise verschwendete sie kostbaren Wachs nicht für Lesen, aber dieses Mal war es wichtig.
Die berühmtesten Heiler Ciyens, Noliôns, Sarinons und Nol Manyés verkündete der erste Titel. Tabita schlug das Kapitel über Erendi auf, fand aber nichts außer allgemeinen Lebensdaten, ihren Erfolgen und einigen Erzählungen. Das nächste Buch sah schon viel versprechender aus. Eine Lehre der Kräuter von Erendi lautete der Titel. Das Buch verzeichnete sämtliche Kräuter und ihre Wirkungsweise, mit denen de Heilerin gearbeitet hatte. Doch obwohl sie das Buch von vorne bis hinten durchlas, fand sie nur eine Erwähnung im Kapitel über die Kräfte der Blätter der Feuertänzerin, dass sie hemmend gegen die Windseuche wirkten. Auch mit den Büchern danach hatte sie kein Glück, es folgten weitere Biographien und Kräuterbücher, Bücher über Krankheiten. Erst was danach zu Tage kam, war interessant: Es waren Stammbäume. Stammbäume von elbischen Adelshäusern, aber auch von bürgerlichen Familien. Erforschungen über die Windseuche hatte Erendi die Stammbäume überschrieben. In einigen Familien waren Dutzende von Mitgliedern rot umrandet gewesen, in weiteren überhaupt keine. Eine Randbemerkung war Menschliches Blut? Und eine weitere Vererbung? Tabita suchte ihr Buch über die Elbenfamilien Ciyens hervor und verglich die Stammbäume miteinander. Tatsächlich, die rot markierten Elben waren Opfer der Windseuche geworden. Aber was hatten Stammbäume mit der Windseuche zu tun? Tabita glaubte nicht, dass eine Erbkrankheit dahinter steckte, denn dann hätte in Ciyen schon vor Jahrhunderten die Windseuche wieder ausbrechen müssen, der letzte große Ausbruch war jetzt aber schon über fünfzehntausend Jahre her, einzelne Fälle ja, aber für eine Erbkrankheit waren es zu wenige. Also machte sie sich daran, die verschiedenen Familien zu vergleichen und kam zu einem überraschenden Ergebnis: der Adel war am meisten betroffen, während die wenigsten bürgerlichen oder bäuerlichen Familien Opfer zu beklagen hatten. Dabei war es bei den meisten Krankheiten andersherum. Auch fiel ihr auf, dass die meisten Familien von einem bestimmten Zeitpunkt an, keine Opfer mehr zu beklagen hatten, wobei dieser Zeitpunkt nicht der selbe war. Als ob etwas geschehen hatte, was sie immun gemacht hatte.
Die Nacht verging und Tabita brütete weiter über das Rätsel, das ihre Namensvetterin ihr hinterlassen hatte. Weitere Tage vergingen und die restlichen Elben aus Manyiè Arym, die in ihrem Turm gewesen waren, starben, aber keiner von den Elben der Niamey.
"Was hat Ciyen was Noliôn nicht besitzt?", überlegte sie eines Morgens, als sie trockenes Brot in sich hinein stopfte.
"Mehr Gestank?", versuchte Joshua sie aufzumuntern, "Wobei dafür auch die Menschen verantwortlich...".
Tabita sprang auf, so dass ihr Teller zu Boden fiel und zerbrach. Sir grinste über das ganze Gesicht.
"Was ist?", konnte Joshua ihr gerade noch hinterher rufen.
"Das.", erwiderte Narichre an ihrer statt, "Nennt man einen Geistesblitz.".
Tabita rannte hinauf und las sich die Stammbäume noch einmal genau durch. Sie lachte auf. Jetzt wusste sie, was Erendi mit den Stammbäumen untersucht hatte. Sie verstand warum die Elben Ciyens immun gegen die Windseuche waren, es früher aber nicht gewesen hatte, und warum die Elben Noliôns es nicht waren. Und die Lösung war so einfach.
Jemand klopfte an die Tür und unterbrach sie in ihrem Gedankenfluss. Narichre trat ein und betrachtete sie lächelnd.
"Es ist das Blut.", platzte sie hervor, "Es gibt in Ciyen keine reinrassigen Elben mehr, Sie haben sich mit Menschen vermischt. Das ist das ganze Geheimnis, Menschenblut. In Noliôn gibt es keine Menschen, deshalb sind sie nicht immun gegen die Krankheit. Irgend ein Bestandteil des menschlichen Blutes tödet die Erreger ab und macht sie immun. Deshalb waren die adeligen Familien Ciyens auch am meisten betroffen! Die Blutlinie war ihnen wichtig und sie haben sich nicht mit Menschen vermischt, während die bürgerlichen und bäuerlichen Familien schneller einen Menschen unter ihren Vorfahren hatten! Ein Tropfen menschlichen Blutes genügt, um Elben gegen die Windseuche immun zu machen!". Begeistert sah sie Narichre an.
"Das ist genial.", entgegnete diese, "Das Einzige, was wir machen müssen, ist es ihnen Menschenblut zu spritzen.".
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich von einem Moment zum anderen. Sorge verdeckte die Freude.
"Tcharon hat mir Bilder geschickt.", erklärte sie. "Sie kommen, die Flotte kommt.".
"Wie viel bleibt uns noch?", fragte Tabita.
"Ein halber Tag, höchstens einer.".
"Das schaffen wir.", erklärte sie voller Zuversicht.